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FINANZEN/016: Für ein neues Weltfinanzsystem (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 6/2009

Für ein neues Weltfinanzsystem

Von Gerhard Scherhorn


Das Finanzsystem ist ein Gemeingut wie das Klima oder die Beschäftigung. Gemeingüter müssen so organisiert sein, dass sie weder selbst übernutzt werden noch zur Übernutzung anderer Gemeingüter beitragen. Diese Erkenntnis hatte sich bis zur Liberalisierung des Kapitalverkehrs wohl noch nicht durchgesetzt. Heute muss man sie ernst nehmen.


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Was die Welt in die Finanzkrise geführt hat, war eine Aufblähung des Geldschöpfungspotenzials der Banken, verursacht durch eine ersatzlose Aufhebung nationaler Regeln für den Kapitalverkehr seit 1979/80, dem Regierungsantritt von Thatcher in Großbritannien und Reagan in den USA. Den politischen Tätern kam die neoliberale Ideologie von Hayek und Friedman zupass, weil es ihnen darum ging, die jahrelange Stagflation durch Wiederbelebung des Wirtschaftswachstums der 60er Jahre zu überwinden und zu diesem Ziel die Macht der Gewerkschaften zu schwächen, die behäbigen nationalen Oligopole der Industrie und der Banken aufzumischen, die Expansionskraft großer Technologien, Produktionssysteme und Lieferketten zu fördern und nicht zuletzt das Wachstumspotenzial der Finanzmärkte zu stärken.

Sie erkannten nicht, dass sie ein Strohfeuer entzündeten, noch dazu eines von zerstörerischer Kraft. Denn die erstrebte Rückkehr zu dem hohen Wachstum der Nachkriegszeit war eine Illusion: Die reifen Industrieländer waren bereits auf einem Pfad geringer Zuwachsraten; ihr Sozialprodukt war so groß und ihr Wohlstand so umfassend geworden, dass die weitere Vermehrung in Relation dazu immer geringer wiegt, so groß die absoluten Zuwachsmengen auch sind. Weil zugleich ein Umschwenken auf nachhaltige Entwicklung dringlich wurde, war es doppelt kurzsichtig, den Trend nicht zu akzeptieren:

Zum einen hat man, um ihn umzukehren, auf die neuen Produktions- und Vertriebsformen gesetzt, die schon seit 1971 die treibenden Kräfte waren, nationale Restriktionen - z.B. im Transportwesen zu deregulieren. Weil aber ihre Umweltwirkungen gar nicht bedacht wurden, hat ihre Expansion zwar das Wachstum gefördert, doch die nachhaltige Entwicklung aufgehalten und die Aufheizung des Klimas beschleunigt.

Zum anderen wurden die Finanzmärkte dereguliert mit einer dreifachen Folge: Das Finanzkapital erreichte ein größeres - und labileres - Vielfaches der realen Investitionen und Transaktionen; die überhöhten Renditeerwartungen des Finanzkapitals wurden von der realen Produktion durch vermehrte Externalisierung von Kosten - also weniger nachhaltig - befriedigt; und die Verteilung der Einkommen und Vermögen wurde ungleicher - und sozial explosiver.


Finanzmärkte sind Gemeingüter

Die Liberalisierung hat bewirkt, dass die gesamtwirtschaftliche Funktion der Finanzmärkte, nämlich der realen Wirtschaft die Finanzierung von Investitionen und die Begrenzung von Risiken zu vermitteln, von den Akteuren systematisch zur individuellen Bereicherung missbraucht werden konnte. Die nationale Kontrolle der Finanzmarktakteure - der Banken, Investmentbanken, Pensionsfonds, Investmentfonds, Hedgefonds, Private Equity Fonds - und der Anlageprodukte, insbesondere der neu erfundenen Derivate, Kreditbündel und Ausfallversicherungen, wurde geschwächt und entfiel zum Teil ganz; den verbliebenen Aufsichtsorganen wurde praktisch die Transparenz über die eingegangenen Risiken entzogen. Veräußerungsgewinne wurden steuerbefreit, der Spielraum für Aktienrückkauf und variable Managervergütungen wurde erweitert, Mehrfach- und Höchststimmrechte wurden abgeschafft. Finanzmarktakteure konnten ihren Sitz oder ihre Tochterunternehmen in Steuervermeidungszonen (offshore) verlegen und sich der nationalen Kontrolle und Besteuerung entziehen. Investmentbanken konnten auf der Verkäufer- und der Käuferseite des Marktes zugleich agieren und Insiderwissen über die Akteure beider Seiten sammeln. Banken konnten Geschäfte außerhalb ihrer Bilanz (off balance) abwickeln. Die Kreditgewährung an Hedgefonds und Private Equity Fonds unterlag keiner Beschränkung, so dass sie mit wenig Eigenkapital riesige spekulative Transaktionen tätigen konnten. Banken brauchten für Kredite an erstklassige Staaten kein Eigenkapital mehr vorzuhalten. Die Steuerbelastung der hohen Einkommen war faktisch gestrichen. Kurz, man hat den Geldschöpfungsspielraum der Finanzmärkte ins Maßlose erweitert.

Das Ergebnis war eine Aufblähung des umlaufenden Geldes auf etwa das 50fache der realen Transaktionen. Das Platzen der Blase führt aller Welt vor Augen, wie dadurch die Funktionsfähigkeit der Finanzmärkte außer Kraft gesetzt wurde. Das Gemeingut Finanzsystem wurde übernutzt, nicht anders als die sprichwörtliche Gemeindewiese, auf die von den einzelnen Bauern zu viele Kühe getrieben werden, wenn es keine Regeln und Sanktionen gibt. So sind für die Übernutzung letztlich die Regierungen verantwortlich. Sie haben nationale Kontrollen des Kapitalverkehrs aufgehoben, ohne sie durch internationale zu ersetzen.


Wie das Vertrauen wiederhergestellt würde

Der Globalisierung haben sie damit keinen Dienst erwiesen. Diese richtet nur dann mehr Nutzen als Schaden an, wenn sie mit nachhaltiger Entwicklung vereinbar ist, also Verantwortung für die Gemeingüter einschließt. Diese Verantwortung wird nur durch Regeln und Kontrollen gesichert:

• Die Zentralbanken müssen bei der Geldmengensteuerung neben der Entwicklung der Konsumgüterpreise auch die Kurse der Finanzprodukte im Auge haben, um eine Vermögensinflation, wie sie in den letzten Jahren stattfand, zu verhindern. Sie müssen mit dem Instrument der negativen Zinsen arbeiten können, um einer Deflation, wie sie jetzt droht, entgegenzuwirken.

• Das Geldschöpfungspotenzial der Finanzmärkte muss wirksam eingegrenzt werden. Die Eigenkapitalunterlegung nach Basel II muss auch für Kredite an Staaten mit hoher Bonität gelten. Sie muss auch beim Kauf von Derivaten greifen, bei Leerverkäufen - die noch besser ganz verboten würden - und erst recht bei Firmenübernahmen. Die Aufsichtsorgane müssen im Boom die vorgeschriebene Eigenkapitalunterlegung der Bankkredite erhöhen können, um die Überhitzung zu drosseln und für die Liquidität im Abschwung vorzusorgen.

• Alle Finanzmarkt-"Innovationen" müssen bei den Aufsichtsorganen melde- und genehmigungspflichtig werden. Darüber hinaus ist eine wirksame internationale Aufsicht erforderlich. Solange sie nicht besteht, muss die nationale Bankenaufsicht Geschäfte mit "offshore" residierenden Akteuren begrenzen und auch ganz untersagen können. Geschäfte außerhalb der Bilanz müssen den gleichen Regeln unterliegen und der gleichen Aufsicht unterworfen sein wie die bilanzierten Geschäfte. Rating-Agenturen müssen überwacht werden.

• Die Finanzmarktakteure müssen zur Transparenz aller eingegangenen Risiken verpflichtet werden. Die Gewinnminderung durch konzerninterne Verrechnungspreise und Kreditzinsen muss strengen Regeln unterliegen und darf steuerlich nicht anerkannt werden, wenn sie zur Verschiebung von Gewinnen in Niedrigsteuerländer bzw. Steuervermeidungszonen führt. Finanzmarktakteure müssen für ihre Fehler haften, auch die Verantwortlichen in Banken und Fonds. Wenn Boni ausgezahlt werden, so erst nach der vollständigen Abwicklung des Geschäfts. Um der destabilisierenden Wirkung kurzfristiger spekulativer Finanztransaktionen entgegenzuwirken, muss eine Finanztransaktionssteuer erhoben werden.

• Die Bezieher hoher und höchster Einkommen dürfen nicht länger durch Absenkung der Steuerprogression entlastet werden. Die Verlagerung von Vermögen in Länder mit Steuerprivilegien muss wirksam vereitelt werden. In Europa erfordert dies politische Abmachungen mit Ländern wie Belgien, Luxemburg, Liechtenstein, Österreich, Irland, Schweiz und vor allem dem Vereinigten Königreich, dessen privilegierte Behandlung von non-domiciled residents im Verein mit der Steuerbefreiung auf Jersey, Guernsey, Sark, der Isle of Man, den Cayman und Virgin Islands sowie den Bermudas den Bankplatz London zum größten "Steuerparadies" der Welt gemacht hat.

So detailliert ist auf dem Gipfeltreffen der G20 in London nicht verhandelt worden. Man war sich im Prinzip einig, dass das Vertrauen in die Finanzmärkte wiederhergestellt werden muss, und dass zu diesem Zweck alle Finanzprodukte und Finanzakteure schärfer überwacht und sogar auch die sogenannten Steueroasen ausgetrocknet werden sollen. Doch der Teufel sitzt im Detail, er sitzt in den Ministerien, die die konkreten Maßnahmen ausarbeiten sollen, und in den Interessenvertretern, von denen sie sich beraten lassen. Was dabei herauskommt, wird ebensowenig vollkommen sein wie die politischen Maßnahmen in anderen Bereichen. Aber es muss so lange im Brennpunkt der kritischen Öffentlichkeit bleiben, bis Ergebnisse vorliegen, die den Spielraum für erneuten Missbrauch deutlich einengen.


Verantwortung für nachhaltige Entwicklung

Dabei wird es nicht genügen, die rein finanzielle Funktionsfähigkeit des Finanzsystems zu sichern. Die Finanzmärkte spielen auch für die nichtfinanziellen Gemeingüter eine wichtige Rolle - für das Klima, den Fischreichtum der Meere, die naturgegebenen Rohstoffe ebenso wie die Bildung, die Gesundheit, die Beschäftigung, die Regionen, und nicht zuletzt für die Märkte der realen Produktion, des Handels, des Konsums. Heute reicht es nicht mehr aus, dass das Kapital in finanziell lohnende Verwendungen gelenkt wird. Es müssen zugleich Verwendungen sein, die die nachhaltige Entwicklung voranbringen.

Deshalb müssen Banken bei den von ihnen gewährten Krediten verlangen, dass die Kreditnehmer Klimaschutz- und andere Nachhaltigkeitsziele beachten. Anlageberater müssen verpflichtet werden, Sparer und Investoren anhand eines vertrauenswürdigen ethischen Rating über die Nachhaltigkeitsleistungen der Unternehmen und Staaten zu informieren, denen sie Kapital oder Kredit geben. Die Einstufungen des ethischen Rating müssen bei der Bewertung der Kreditwürdigkeit gleichrangig mit denen des finanziellen Rating beachtet werden.

Die Privatisierung von Gemeingütern durch Vergabe von Monopolrechten und Übertragung öffentlicher Aufgaben auf Private nach den Konzepten des Public Private Partnership und des Cross Border Leasing muss mit der Vorgabe von Preis-, Verbrauchs-, Emissions- und Qualitätszielen verbunden sein, deren Einhaltung kontrolliert und deren Nichteinhaltung mit Sanktionen belegt wird. Denn wenn das nicht geschieht, sind diese Verfahren nicht nur aufwändiger als die öffentliche Besorgung, sondern auch weniger nachhaltig.

Nicht zuletzt muss man auch die Beziehungen zwischen dem Finanz- und dem Währungssystem im Blick behalten. Die Finanzkrise ist auch durch die unmäßige Verschuldung des Leitwährungslandes ermöglicht worden. Import- und ebenso Exportüberschüsse sind für die nachhaltige Entwicklung schädlich, wenn sie dauerhaft so große Ausmaße annehmen wie in den USA und Deutschland. Eine Weltzentralbank müsste, wie Keynes es 1944 vergeblich vorschlug, beide Ungleichgewichte mit hohen Strafzinsen belegen. Die Produktion für den Export ist erst recht schädlich für nachholende Entwicklung, wenn sie zu Dumpingpreisen erfolgt, weil die subventionierten Überschüsse im Inland nicht absetzbar sind. Auch das ökonomische Ausbluten von Regionen, aus denen die Produktion verdrängt wird, weil alle komparativen Kostenvorteile bei den Weltkonzernen liegen, die in die Region liefern, weist darauf hin, dass die Globalisierung nur zusammen mit der Eigenentwicklung der Regionen sinnvoll ist, die durch das Finanz- und Währungssystem nicht erschwert werden darf.


Gerhard Scherhorn (* 1930) Professor (em.) für Kosumökonomie an der Universität Hohenheim. Lebt und arbeitet in Mannheim als Senior Consultant des Wuppertal Instituts.
gerhard.scherhorn@wupperinst.org


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 6/2009, S. 25-28
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Juli 2009