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FINANZEN/025: Anzeichen einer Normalisierung der Ökonomie? (Sozialismus)


Sozialismus Heft 6/2009

Anzeichen einer Normalisierung der Ökonomie?

Von Joachim Bischoff


Weltweit kämpfen die Regierungen - wenn auch mit höchst unterschiedlichem Mitteleinsatz - gegen die Finanz- und Wirtschaftskrise. In der Mehrzahl der Länder stehen dabei Maßnahmen zur Stabilisierung des Banken- und Finanzsystems im Vordergrund. Weltweit werden derzeit Anzeichen einer "Normalisierung" ausgemacht. Diese Behauptung wird freilich durch die empirischen Entwicklungen nicht gedeckt.

In den USA hat eine Untersuchung der Notenbank FED ergeben, dass die größten Banken weiterhin mit großen Verlusten rechnen müssen. Weil die letztlich veröffentlichten Ergebnisse mit den Finanzinstituten ausgehandelt wurden, gibt es gegen die Verlässlichkeit der Daten Vorbehalte.

Der Stresstest bei den 19 größten US-Banken hat unter anderem ergeben, dass auf sie bis 2010 noch weitere 600 Mrd. US-Dollar Verluste zukommen. Der größte Teil dieser Verluste entfällt auf Kredite, primär solche an private Haushalte. Diese haben kaum mehr direkt etwas mit der Finanzkrise zu tun, sondern sind eine Folge des Schrumpfungsprozesses der Wirtschaft. Das gilt besonders für Außenstände bei Kreditkarten, wo eine Ausfallquote von satten 22,5% erwartet wird. Aus diesen Verlusten wird ein zusätzlicher Kapitalbedarf der größten US-Banken von 75 Mrd. US-Dollar erwartet.

Allerdings ist zu bedenken, dass bei den untersuchenden Behörden Annahmen über die potenziellen Verluste, die voraussichtlich anfallenden Gewinne und die Konjunkturentwicklung unterlegt wurden. Letztlich steht und fällt der Stresstest damit, dass die getroffenen Annahmen eintreffen oder eben nicht. Immerhin ist das anvisierte Ergebnis - weitere Stärkung des Vertrauens - zunächst erreicht worden.

Auf der Seite des Auslösers der Überakkumulationskrise - dem Hypotheken- und Immobilienbereich - zeichnet sich bislang keine Entspannung ab. Das Platzen der Immobilienpreisblase hat eine globale Kettenreaktion ausgelöst. Im Zentrum der Krisenmaßnahmen in den USA - dem größten Immobilienmarkt - stehen zwei verstaatlichte Hypothekenbanken: Freddie Mac und Fannie Mae schreiben im ersten Quartal 2009 weiterhin massive Verluste.

Seit dem Ausbruch der Hypothekenkrise hat Freddie Mac Verluste von 65,2 Mrd. US-Dollar angehäuft und Staatshilfe von 50,3 Mrd. US-Dollar in Anspruch genommen. Das Schwesterinstitut Fannie Mae hat für das erste Quartal einen Verlust von 23,2 Mrd. US-Dollar ausgewiesen und gleichzeitig 19 Mrd. US-Dollar an Nothilfe in Anspruch genommen. Bei Fannie summieren sich die Verluste seit Mitte 2007 auf 85,5 Mrd. US-Dollar. Die bisher erhaltene Hilfe beläuft sich auf 34 Mrd. US-Dollar.

Die Regierung hat für beide Institute 200 Mrd. US-Dollar an Hilfe zurückgestellt, die mit Sicherheit beansprucht werden dürften. Fannie und Freddie besitzen oder garantieren zusammen rund 5.500 Mrd. US-Dollar an privaten Hypotheken oder 45% des Gesamtmarktes. Sie werden von der US-Regierung als Instrumente zur Umschuldung von Hypotheken zwecks Vermeidung von Zwangsvollstreckungen eingesetzt und beide rechnen mit weiteren massiven Verlusten.

Auf dem Höhepunkt der Immobilienpreisblase Mitte 2006 lag das Vermögen in diesem Bereich bei 23,5 Bio. US-Dollar. Seither sind die Preise bis zum ersten Quartal 2009 um ca. 30% gefallen; d.h. der Vermögensverlust liegt bei etwa 7,1 Bio. US-Dollar. Der Marktwert des Wohneigentums ist allein im Jahr 2008 um 2,4 Bio. US-Dollar gefallen. Es existieren rund 40 Mio. Hypothekenkreditverträge. Davon wiesen Anfang 2009 8,3 Mio., also etwa 20%, einen höheren Schuldbetrag als der Wert der Immobilie aus. Das Platzen der Immobilienpreisblase in den USA - von entsprechenden Prozesses in Großbritannien, Irland, Spanien etc. abgesehen - ist in seinen direkten Rückwirkungen auf die US-Ökonomie und - über den Zusammenbruch des Imports - auf die Globalökonomie noch längst nicht verarbeitet.

Nicht nur die Immobilienkrise hält an, auch die Schrumpfungsbewegung der US-Ökonomie ist noch nicht zu Ende. Die von offizieller Seite und den Medien immer wieder verkündeten Trendwende ist offensichtlich mehr Wunschdenken, als durch empirische Tendenzen untersetzt. Die gegenwärtige Konjunkturlage in den USA zeichnet sich durch eine abgeschwächte Fallgeschwindigkeit der Wirtschaft aus. Dies gilt auch für den Arbeitsmarkt, wo die Arbeitslosenquote im April von 8,5% auf 8,9% gestiegen ist. Waren im ersten Quartal im Monatsdurchschnitt noch gut 700.000 Arbeitsplätze verloren gegangen, sind es im April "nur" noch 539.000 gewesen.

Dass das Tempo des Schrumpfungsprozesses nachgelassen hat, bestätigen die neuesten Daten zur Industrieproduktion im April. Diese ist erneut um 0,5% zurückgegangen, und die Kapazitätsauslastung ist von 69,4% auf 69,1% gesunken. Dies ist der tiefste Stand, seit die Statistik erhoben wird (1967). Die Umfrage der amerikanischen FED bestätigt zudem, dass die Bestellungen in der Industrie in der ersten Maihälfte noch einmal gefallen sind. Landesweit werden im Mai die Stillegung von Chrysler-Werken und eine reduzierte Tätigkeit bei Zulieferern die Zahlen nochmals drücken.

Im Kernbereich der Krisendynamik sehen wir also nach wie vor eine wechselseitige Verstärkung von Finanz- und Überakkumulationskrise. Zugleich geraten weitere Bereiche in den Krisenstrudel. Die Steuereinnahmen sind massiv rückläufig und folglich steigt die Staatsverschuldung steil an. Versicherungsunternehmen und vor allem Lebensversicherer sind im Zuge der Finanzkrise unter starken Druck geraten. Sie investierten ihre Gelder im Finanzsektor und haben entsprechend massive Verluste erlitten. Daher will das US-Finanzministerium bei sechs großen Lebensversicherern mit Kapitaleinlagen von zusammen 22 Mrd. US-Dollar eine Ausweitung der Krise verhindern. Die Mittel kommen aus dem "Troubled Asset Relief Program" (TARP), das vom Kongress mit 700 Mrd. US-Dollar dotiert wurde und das mittlerweile zum größten Teil aufgebraucht ist. Hunderte von Banken sowie der angeschlagene Versicherungskonzern AIG und die Autobauer General Motors und Chrysler haben bis jetzt aus dem TARP Nothilfe unterschiedlicher Art erhalten.


OECD: Verlangsamung des Abschwungs

Die schlimmste Phase des internationalen Konjunkturabschwungs soll laut OECD überwunden sein. Der von ihr berechnete konjunkturelle Frühindikator sei im März nur noch geringfügig gefallen. In einigen industrialisierten und aufstrebenden Ländern verstärkten sich sogar die Anzeichen, dass er seinen Tiefpunkt erreicht oder bereits durchlaufen habe. In anderen Ländern deute sich zwar noch kein Wendepunkt an, aber der Abschwung verliere an Heftigkeit. Auch hier steht die optimistische Interpretation quer zur Datenlage. Es kann nur von einer Abschwächung des Schrumpfungsprozesses die Rede sein.

Die japanische Wirtschaft ist wegen einbrechender Exporte im ersten Quartal 2009 im Rekordtempo geschrumpft. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) sank von Januar bis März um 4% und damit so stark wie nie seit Beginn der Statistik vor rund 50 Jahren. Japans Wirtschaft entwickelte sich im ersten Quartal ähnlich schwach wie die deutsche, die um 3,8% einbrach. In den USA hatte es hingegen "nur" ein Minus von rund 1,6% gegeben, die Wirtschaft der Euro-Zone schrumpfte um 2,5%. Aufs Jahr hochgerechnet bedeutet das Quartalsminus in Japan eine Schrumpfung um 15,2%.

Die japanische Ökonomie ist nicht wegen des Platzens der Vermögenspreisblase abgestürzt. Allein der Einbruch der Weltnachfrage ließ die Exporte in den ersten drei Monaten des Jahres um 26% gegenüber dem Vorquartal schrumpfen. Seit März 2008 sind die Ausfuhren um 45,6% zurückgegangen. Die gewerblichen Investitionen fielen im Vergleich zum Vorquartal mit 10,4% zum vierten Mal in Folge. Der private Konsum gab dagegen nur um 1,1% nach.

Angesichts der massiven Kontraktion steht fest: Japan wird weit länger als die USA benötigen, um sich aus der Krise zu befreien. Die angelsächsischen Nationen haben die Krise vielleicht verursacht, aber am stärksten getroffen werden die exportstarken Nationen wie Japan, Deutschland und die asiatischen Tiger. Auf mittlere Sicht gibt es wenig Hoffnung für einen Erholungsprozess. Denn Japan steht vor dem Problem riesiger Überkapazitäten, weil die globale Nachfrage auf absehbare Zeit wahrscheinlich nicht auf die Rekordhöhe von 2007 zurückkehren wird. Selbst unter den optimistischsten Annahmen würde es fast ein Jahrzehnt dauern, bis die Kapazitätsauslastung den Durchschnittswert der Jahre 1975 bis 2008 erreicht.

Experten sind daher pessimistisch, dass Japan ohne einen massiven Aufschwung in den USA und China aus der Krise findet. "Ökonomische Stimuli werden den Niedergang Japans vielleicht bremsen, den apokalyptischen Zustand der Ökonomie aber nicht substanziell verbessern", so Hiromichi Shirakawa, der Chefvolkswirt von Credit Suisse (zitiert nach wiwo. de vom 4.5.2009) Schon jetzt steht der Staat mit rund 170% des BIPs in der Kreide, fast dreimal so viel, wie die EU ihren Mitgliedern als Obergrenze vorschreibt. Allein durch das reguläre Budget steigt die Neuverschuldung in diesem Fiskaljahr auf fast 38% - Konjunkturspritzen und Steuerausfälle von mehreren Hundert Milliarden Euro exklusive.

Auch die Daten zur wirtschaftlichen Lage in Großbritannien können keinen Optimismus über die Konjunktur begründen. Zwar zeigen sich vereinzelte positive Symptome, doch die volkswirtschaftlichen Daten lassen keinen anderen Schluss zu, als dass Großbritannien immer noch tief in der schwersten Rezession seit dem Zweiten Weltkrieg steckt, aus der kein schneller Ausweg erkennbar ist. Das nationale Statistikamt hat die revidierten Zahlen zum Wirtschaftswachstum im ersten Quartal publiziert, und die von manchen erhoffte Relativierung des schon früher auf 1,9% geschätzten Rückgangs des BIPs gegenüber dem Vorquartal blieb aus. Das Amt bestätigte, dass die Wirtschaftsleistung Großbritanniens um 4,1% tiefer liegt als vor einem Jahr. Dass es das Land nicht noch härter getroffen hat, liegt am vergleichsweise unbedeutenden Exportsektor. Dieser musste einen Rückgang um 6,1% hinnehmen, doch das wirkt sich - anders als bei den "Exportweltmeistern" - nicht so stark aus.

Der untergründige Optimismus prägt auch die öffentliche Debatte in Deutschland und Europa. Allerdings gilt auch hier, dass das empirische Fundament für die These vom baldigen Ende des Schrumpfungsprozesses nicht tragfähig ist.

Die Abwärtsentwicklung der deutschen Wirtschaft hat sich im ersten Quartal 2009 verschärft. Um 3,8% lag das Bruttoinlandsprodukt (BIP) - preis-, saison- und kalenderbereinigt - niedriger als im Schlussquartal des Jahres 2008. Damit ist das BIP zum vierten Mal in Folge gegenüber dem Vorquartal gesunken. Im Vergleich zum ersten Vierteljahr 2008 ging das preisbereinigte BIP in den ersten drei Monaten des Jahres 2009 sogar um 6,7% zurück. Kalenderbereinigt schrumpfte die Wirtschaftsleistung um 6,9%, weil im Berichtsquartal 0,6 Arbeitstage mehr zur Verfügung standen. Allerdings kann die Bewegung des Produktionsindex für das verarbeitende Gewerbe so interpretiert werden, dass der Tiefpunkt durchschritten ist. (Abbildung 1)

Die Zahlen für die europäischen Länder betätigen insgesamt den anhaltenden Schrumpfungsprozess. Laut einer ersten Schätzung des EU-Statistikamts Eurostat ist das reale BIP im ersten Vierteljahr 2009 saisonbereinigt sowohl in der Euro-Zone (EZ-16) als auch in der ganzen EU (EU-27) gegenüber dem Vorquartal um 2,5% gesunken (vgl. Tabelle 1). Dies ist der vierte Quartals-Rückgang in Folge - und zugleich der schärfste. Im Vergleich zum ersten Quartal 2008 wiederum betrug der BIP-Rückgang 4,6% im Euro-Raum und 4,4% in der ganzen EU.


Tab. 1: Reales Wachstum des BIP (Auswahl) 
 Veränderung in % gegenüber Vorquartal, saisonbedingt [1]

2 Quartal '08
3. Qu. 08
4. Qu. 08
1. Qu. 09
Euro-Zone [2]
EU-27 (ganze EU)
Deutschland
Frankreich
Großbritannien
Italien
Niederlande
Österreich
Rumänien
Spanien
-0,2
-0,1
-0,5
-0,4
0,0
-0,6
-0,1
0,2
0,3
0,1
-0,2
-0,3
-0,5
-0,2
-0,7
-0,8
-0,5
0,0
0,4
-0,3
-1,6
-1,5
-2,2
-1,5
-1,6
-2,1
-1,2
-0,4
-3,4
-1,0
-2,5
-2,5
-3,8
-1,2
-1,9
-2,4
-2,8
-2,8
-2,6
-1,8

[1] In allen aufgeführten Mitgliedstaaten außer Rumänien inkl. einer Arbeitstagkorrektur;
[2] heutige Euro-Zone mit 16 Mitgliedstaaten (inkl. der per 1.1.09 beigetretenen Slowakei).Quelle: Eurostat


Im Endresultat ergeben sich aus der kritischen Zusammenschau zwei wichtige Erkenntnisse: Die deutsche Wirtschaft wird im internationalen Ländervergleich mit am heftigsten vom Krisenprozess erfasst. Gerade für Deutschland - aber auch für einige andere Länder - gilt: Der konjunkturelle Sturzflug geht langsam in einen Gleitflug auf tiefem Niveau über. Von einem erneuten Aufstieg ist bislang weit und breit nichts zu sehen.

In der nächsten Zeit kommen zu den Nachrichten über den wirtschaftlichen Schrumpfungsprozess weitere schlechte Nachrichten über rückläufige Steuereinnahmen und wachsende Defizite in den Sozialkassen hinzu. Für Deutschland sind jetzt Steuerausfälle von 316 Mrd. Euro in den Jahren bis 2012 prognostiziert. In allen kapitalistischen Hauptländern sind die Haushaltsdefizite und Staatsverschuldung durch die Hilfen für Konjunktur und Finanzsystem massiv expandiert.

In Folge milliardenschwerer Konjunkturprogramme und Bankenrettungspakete beläuft sich das US-Haushaltsdefizit allein dieses Jahr auf fast 13% der Wirtschaftskraft. Die Defizite der öffentlichen Haushalte werden im Euro-Raum von durchschnittlich minus 0,6% im Jahr 2007 auf minus 6,5% im Jahr 2010 steigen. Fast alle Mitglieder des Euro-Raums werden 2010 die Defizitgrenze von 3% brechen. Der durchschnittliche Schuldenstand wird von 2007 bis 2010 um 20% auf deutlich über 80% der Wirtschaftsleistung steigen.

Angesichts dieser Entwicklung wird in den nächsten Monaten der Druck in der Öffentlichkeit steigen, zu einer Spar- und Konsolidierungspolitik zurückzukehren. Der entscheidende Punkt der politischen Auseinandersetzung ist nicht die Frage von Steuersenkungen, sondern die Ausgestaltung eines Programms, mit dem der Staat nicht wieder stärker in die Krise "hineinspart", sondern es ermöglicht, aus der Krise "herauszuwachsen". Die Logik, zügig zu einer Konsolidierungspolitik übergehen zu wollen, ignoriert die vorangegangene Phase der Ruinierung der öffentlichen Finanzen und würde den gesamten Ansatz der Krisenüberwindung konterkarrieren.

Die Erosion der finanziellen Fundamente der öffentlichen Haushalte und der Sozialkassen wurde durch eine Steuersenkungs- und Steuerverlagerungspolitik zugunsten der Kapital- und Vermögenseinkommen in den letzten Jahren erzeugt. Diese Politik der "Verschlankung" des Staates ist mit der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise zusammengebrochen. Schlagartig wird zunächst die Rückkehr zur Intervention des Staates gefordert. Die eigentliche Herausforderung liegt darin, dass die schwere Kreditkrise in einen massiven Schrumpfungsprozess umgeschlagen ist. Würde man mitten in der Krise erneut zu einer Konsolidierung der öffentlichen Finanzen zurückkehren, wären die Folgen für die Ökonomie und die soziale Spaltung der Gesellschaften verhängnisvoll.

Für die politische Linke geht es daher künftig in der Auseinandersetzung um die Schuldenproblematik um zwei Fragen: Ist die Wiederherstellung eines normalen Akkumulationsprozesses möglich und können wir uns mit einer Wiederherstellung des bürgerlichen Akkumulationsprozesses zufrieden geben?

Zunächst ist festzuhalten, dass es in den massiven Wirtschafts- und Finanzkrisen stets eine Aufwertung des staatlichen Engagements gibt. Auch in der Weltwirtschaftkrise der 1930er Jahre konnte man diese Rückkehr zum Staatsinterventionismus feststellen. In der Folge einer schockartigen Vermögensvernichtung flüchtet die Masse der KleinsparerInnen von den Vermögensmärkten hin zu Staatsanleihen oder mindestens staatlich garantierten Formen der Kapitalanlage. Schon Gramsci stellte fest: "Man kann sagen, dass die Masse der Sparer jede direkte Verbindung mit dem Gesamt des privatkapitalistischen Systems abbrechen will, jedoch dem Staat sein Vertrauen nicht entzieht: es möchte an der Wirtschaftstätigkeit teilhaben, aber vermittelst des Staates, der einen mäßigen, aber sicheren Zins garantieren soll... Daraus folgt, dass der Staat theoretisch seine gesellschaftlich-politische Basis bei den 'kleinen Leuten' und bei den Intellektuellen zu haben scheint, in Wirklichkeit aber bleibt seine Struktur plutokratisch, und es gelingt unmöglich, die Verbindungen mit dem großen Finanzkapital abzubrechen."(1)

In der Tat ist auch in der aktuellen Weltwirtschaftskrise charakteristisch, dass der Staat einerseits sich in Abhängigkeit von den Geld- und Leihkapitalisten bewegt, auf der anderen Seite die künftigen Steuereinnahmen der kleinen Leute als Kompensation für die enormen Vermögensverluste auf alle Sorten von Wertpapieren einsetzt. Aber weitergehend als in der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre ist dieses Mal der Konflikt zwischen Wiederherstellung von Vermögenswerten und der Masse der Steuereinnahmen sichtbar. Es kann daher über die Forderung, dass staatliche Beteiligungen und Bürgschaften von entsprechenden Kontrollrechten begleitet sein müssen, verdeutlicht werden, dass es nicht nur bei einer Kontrolle bleiben kann, sondern die Intervention ordnungspolitisch in die Schaffung von Rahmenbedingungen für eine solidarische oder programmierte Ökonomie eingebunden sein muss.

"Es geht in der Tat nicht nur darum, den Produktionsapparat so zu bewahren, wie er in einem gegebenen Moment beschaffen ist; es geht darum, ihn so zu reorganisieren, um ihn parallel zum Wachstum der Bevölkerung und der Gemeinschaftsbedürfnisse zu entwickeln."(2) Weil der Widerspruch zwischen dem Eingebundensein in die Interessen der Vermögenden und der der großen Mehrheit der SteuerzahlerInnen deutlich hervortritt, ergibt sich in der aktuellen Wirtschaftskrise die Chance einer Transformation von bürgerlichem Staat und kapitalistischer Ökonomie. Die Frage nach den Zielen der staatlichen Intervention zur Überwindung der Krise muss mit dem Problem der Sanierung der öffentlichen Finanzen verbunden werden. Die Linke hat in diesem Zusammenhang auf drei Aspekte zu achten:

Die Folgen der Finanz- und Vermögenskrise sollten nur unter massiver Beteiligung der Vermögensbesitzer gelöst werden.
Die vorrangige Sanierung des Finanzsektors ist falsch. Nur wenn zugleich ein entsprechendes Gewicht auf die Bewältigung der Überakkumulationskrise gelegt wird - z.B. durch ein massives Struktur- und Investitionsprogramm -, kann die Wucht der reißenden Kreditketten gemildert werden.
Auch die Sanierung der öffentlichen Finanzen muss auf einer starken Beteiligung von Unternehmen und Vermögenden beruhen.

Vor einer neuen Ära der Regulation?

Zunächst geht es in der aktuellen Krise um die Vermeidung eines Kollapses der nationalen Bankensysteme, das Umschlagen in einen Abwertungswettlauf unter den Währungssystemen sowie die Verhinderung von faktischer Handlungsunfähigkeit durch einen Staatbankrott. Diese kurzfristige Stabilisierung der Finanz- und Währungsverhältnisse muss mit weiterreichenden Veränderungen sowohl im Bereich Kredit und Währung als auch der Realökonomie einhergehen. Entscheidend für die Entwicklung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse wird sein, ob es gelingt, in den Vernichtungsprozess von Wertpapieren oder Ansprüchen auf gesellschaftlichen Reichtum steuernd einzugreifen oder ob sich der Entwertungsprozess weiterhin naturwüchsig vollzieht.

Die unvermeidliche Verteilung der Verluste wird sich noch eine ganze Zeitlang hinziehen. Sicherlich werden die aktuellen Interventionen von den herrschenden Klassen mit der Zielsetzung verbunden, den massiven Entwertungsprozess von Eigentumstiteln abzuschwächen, um nach einer Übergangszeit den Anschluss an die finanzmarktgetriebene Kapitalakkumulation wiedergewinnen zu können. Dies wird sich als Illusion herausstellen, denn die Stichworte von einem "neuen New Deal", einem "zweiten Bretton Woods", einer neuen Architektur des globalen Finanzsystems machen klar, dass es um weit mehr als bloße Reparaturen eines heißgelaufenen Systems geht.

Die Krise der Finanzmärkte und der Konjunktur verstärken einander negativ, daher die Wucht der wirtschaftlichen Talfahrt. Eine Bodenbildung und Selbststabilisierung der Konjunktur sind nicht in Sicht. Anders als in früheren Krisen gibt es keine bedeutenden Wirtschaftsräume in der Welt, die eine Aufwärtsentwicklung beim Wachstum verzeichnen und als Gegengewicht zum Abschwung wirken könnten.

Der Ausweg aus dieser Konstellation ergibt sich aus dem Doppelcharakter des Kreditsystems. Das Kreditsystem ist einerseits Haupthebel der Überproduktion und Überspekulation, weil der gesellschaftliche Reproduktionsprozess mit Hilfe des Kredits bis zur äußersten Grenze getrieben wird. Das Kreditwesen beschleunigt die materielle Entwicklung der Produktivkräfte und die Herstellung des Weltmarkts. Gleichzeitig beschleunigt der Kredit die gewaltsamen Ausbrüche dieses Widerspruchs, die Krisen, und damit die Elemente der Auflösung der alten Produktionsweise. Einerseits die Triebfeder der kapitalistischen Produktion, Bereicherung durch Ausbeutung fremder Arbeit, zum reinsten und kolossalsten Spiel- und Schwindelsystem zu entwickeln und die Zahl der den gesellschaftlichen Reichtum ausbeutenden Wenigen immer mehr zu beschränken; andrerseits aber die Übergangsform zu einer neuen Produktionsweise zu bilden - diese Doppelseitigkeit ist es, die es zu verstehen und zu nutzen gilt.


Joachim Bischoff ist Mitherausgeber von Sozialismus. Von ihm erschien gerade das Buch "Jahrhundertkrise des Kapitalismus. Abstieg in die Depression oder Übergang in eine andere Ökonomie?", Hamburg 2009.


Literatur
(1) Antonio Gramsci (1999): Gefängnishefte, Bd 9, S. 2096f. (2) Ebenda.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:
Abb. 1: Produktionsindex verarbeitendes Gewerbe


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Quelle:
Sozialismus Heft 6/2009, Seite 8 - 12
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. August 2009