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FINANZEN/089: Euro-Stabilitätspakt funktioniert nur auf neuer methodischer Grundlage (idw)


Hans-Böckler-Stiftung - 14.07.2010

IMK: Euro-Stabilitätspakt funktioniert nur auf neuer methodischer Grundlage


Die dringend notwendige Reform des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakts (SWP) kann nur gelingen, wenn die Verengung auf die Staatsfinanzen durch einen neuen methodischen Ansatz abgelöst wird. Statt sich wie bisher lediglich auf zwei isolierte Kenngrößen - die Defizitgrenze von drei Prozent und die öffentliche Schuldenstandsquote - zu stützen, muss die Finanzsituation von Staat und Privatsektor in einem EU-Land künftig gemeinsam analysiert werden. Zu diesem Ergebnis kommt das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in der Hans-Böckler-Stiftung in einer neuen Untersuchung. Ein guter Indikator dafür ist die nationale Leistungsbilanz, deren Saldo sich in einem Korridor zwischen plus zwei und minus zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) bewegen sollte (mehr zum IMK-Reformvorschlag unten). Die Wissenschaftler warnen davor, an den "falschen Regeln des gescheiterten aktuellen Pakts festzuhalten", diese nur verbindlicher durchzusetzen und damit alle EU-Länder gleichzeitig auf einen Sparkurs zu verpflichten: "Kurzfristig drohten dem Euroraum ein konjunktureller Rückschlag und ein weiterer Anstieg der Arbeitslosigkeit. Längerfristig wäre ein Auseinanderbrechen der Währungsunion zu befürchten", schreiben die Ökonomen im heute veröffentlichten IMK Report. Die aktuellen Reformvorschläge aus EU-Kommission und Europäischer Zentralbank gingen in die falsche Richtung.

"Wir führen keine abgehobene Methodendebatte", sagt Prof. Dr. Gustav A. Horn, der Wissenschaftliche Direktor des IMK. "Es geht um unser Geld, um die Zukunft unserer gemeinsamen Währung. Wir stehen vor den Trümmern eines Stabilitätspakts, der die dramatische Krise der Eurozone nicht verhindern konnte. Und das lag nicht daran, dass er nicht streng genug ist, um eine unsolide Haushaltspolitik zu bremsen. Dieser populäre Eindruck bildet allenfalls ein Nebenproblem ab, das in einzelnen Ländern bestand. Das Hauptproblem ist ein ganz anderes: Wir haben Stabilität und Wachstum der Eurozone mit einem Mechanismus absichern wollen, der dazu gar nicht in der Lage ist, weil er entscheidende wirtschaftliche Ungleichgewichte ausblendet. Der Euro-Wachhund ist blind. Das muss sich ändern, sonst ist die nächste Krise vorprogrammiert."


Das populäre Bild vom "Schuldenstaat" trifft nicht zu

Hintergrund: Die Wissenschaftler können bei einer umfangreichen Analyse der jüngsten Euro-Krise und ihrer Vorgeschichte "keinerlei systematischen Zusammenhang" entdecken zwischen dem Staatsdefizit oder der öffentlichen Schuldenstandsquote eines Mitgliedslandes und dem potenziellen Risiko, das dieses für die Stabilität der Währungsunion darstellt. Schon das vermeintlich klare Bild von den "Schuldenstaaten" stimmt nicht, zeigen die Forscher.

So sanken in Spanien und Irland - an den Finanzmärkten gegenwärtig als Risikostaaten gehandelt - zwischen dem Beginn der Währungsunion und dem Ausbruch der Finanzkrise die öffentlichen Schuldenstände deutlich: In Irland ging die Quote zwischen 1999 und 2007 zurück von 49 Prozent des BIP auf 25 Prozent. In Spanien sank sie von 62 Prozent auf 36 Prozent. Dementsprechend erzielte der irische Staat mit Ausnahme des Jahres 2002 stets Haushaltsüberschüsse, der spanische immerhin von 2005 bis 2007. Dieses nach den Regeln des Euro-Pakts "gleichsam mustergültige Verhalten" der Fiskalpolitik wurde aber begleitet von einer wachsenden Verschuldung des Privatsektors und einer sinkenden internationalen Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen. Unter dem Strich wuchsen in Irland und Spanien, wie auch in Griechenland und Portugal, die Leistungsbilanzdefizite. Die akute Krise der Staatsfinanzen brach sowohl in Spanien als auch in Irland los, als der Staat in der Finanz- und Wirtschaftskrise auf das Platzen von Kreditblasen und einen Nachfrageeinbruch im Privatsektor reagieren musste. "De facto wurden private in staatliche Schulden umgewandelt, so dass die öffentlichen Schuldenstandsquoten rasant in die Höhe schnellten", analysiert das IMK.


Chronische Überschüsse sind Teil des Problems

"Das Beispiel von Spanien und Irland zeigt: Entscheidende Fehlentwicklungen hat der Stabilitätspakt gar nicht erfassen können, weil er sich einseitig auf Defizite in den Staatsfinanzen konzentriert und Defizite im Privatsektor außen vor lässt", sagt IMK-Direktor Horn. "Das ist aber nicht der einzige Fehler. Wenn ein Stabilitätspakt wirklich funktionieren soll, darf er nicht nur auf problematische Defizit-Entwicklungen reagieren, sondern er muss auch dauerhafte einseitige Überschüsse als Problem wahrnehmen. Die Überschüsse der gesamten Volkswirtschaft, privat und staatlich, sind in einer Währungsunion die Kehrseite der Defizite einer anderen Volkswirtschaft."

Daher müsse auch die Debatte über das deutsche Wirtschaftsmodell fortgesetzt werden, betont das IMK. Die Bundesrepublik ist das einzige EU-Land, dessen Staatsausgaben zwischen 1999 und 2007 real sanken. Gleichzeitig stiegen die nominalen Lohnstückkosten lediglich um 1,8 Prozent und damit weit unterdurchschnittlich. Der Leistungsbilanzüberschuss stieg auf knapp acht Prozent im Jahr 2007. Dies führte zu einer - gemessen am Stabilitätsziel der EZB - zu niedrigen Inflationsrate und hohen Realzinsen. Binnennachfrage und Wirtschaftswachstum entwickelten sich nur schwach: "Anders als viele in Deutschland meinen, ist diese Konstellation weder vorbildlich noch nachhaltig. Sie setzt unsere wichtigsten Handelspartner unter permanenten Druck und destabilisiert die Währungsunion", so Horn. Auch in diesem Jahr wird der Leistungsbilanzüberschuss Deutschlands mit knapp fünf Prozent hoch sein.


Leistungsbilanzsaldo statt Haushaltsdefizit als Kriterium

Die Wissenschaftler schlagen vor, in einem reformierten Pakt die Obergrenze für das Haushaltsdefizit durch eine Obergrenze für die nationalen Leistungsbilanzsalden (Überschüsse und Defizite) zu ersetzen. Sie sollten einen Wert von plus beziehungsweise minus zwei Prozent vom BIP nicht überschreiten. "Dies wäre ein geeigneter Indikator für mangelnde Nachhaltigkeit der wirtschaftlichen Entwicklung." Die staatliche Haushaltsentwicklung würde dabei weiter berücksichtigt, auch wenn das Budgetdefizit nicht mehr als explizites Kriterium verwendet wird, betont das IMK: "Nur eine nachhaltige Fiskalpolitik ist kompatibel mit dem neuen Stabilitätspakt."

Liegt die Leistungsbilanz eines Euro-Landes außerhalb des Zwei-Prozent-Korridors, sieht das IMK-Modell ein mehrstufiges Verfahren vor. Länder mit Leistungsbilanzüberschüssen werden zunächst aufgefordert, ihre Binnennachfrage zu stimulieren. Dazu müsse die Regierung einen geeigneten Mix aus expansiver Fiskalpolitik sowie Investitionsanreizen und Strukturreformen entwickeln, die etwa eine höhere Beschäftigung, ein kräftigeres nominales Lohnstückkostenwachstum und eine gleichmäßigere Einkommensverteilung unterstützen und so den privaten Konsum befördern. Defizitländern wird dagegen empfohlen, einen Mix aus restriktiver Fiskalpolitik und Anreizen zu verstärktem Sparen im privaten Sektor zu verfolgen. In diesen Ländern muss gegebenenfalls die Wettbewerbsfähigkeit durch Reformen erhöht werden.

Die Europäische Kommission prüft jährlich, ob die Empfehlungen befolgt werden und sich die Leistungsbilanzsalden in Richtung des Zielkorridors bewegen. Ist der innerhalb von drei Jahren erreicht, endet das Verfahren. Falls das nicht gelingt, greifen Sanktionen: Den Regierungen der betroffenen Länder werden von der Eurogruppe verbindliche Pfade für ihre Staatsausgaben vorgegeben. Defizitländern könnte dann bindend vorgeschrieben werden, Einsparungen oder Steuererhöhungen umzusetzen. Chronische Überschussländer müssten hingegen beispielsweise eine Stärkung der Binnennachfrage durch mehr öffentliche Investitionen vornehmen. Defizitländer, die von den vorgegebenen Ausgabenpfaden abweichen, riskieren in letzter Konsequenz ihre Insolvenz, für die nach dem IMK-Modell ein geordnetes Verfahren entwickelt werden soll.


Weiter notwendig: Krisenmanagement durch expansive Finanzpolitik

Unabhängig von der Reform des Stabilitätspakts halten es die Wissenschaftler für unabdingbar, dass in der Euro-Zone über 2010 hinaus das erfolgreiche Krisenmanagement durch eine expansive Finanzpolitik fortgesetzt wird. Der beginnende Aufschwung in Europa sei noch zu fragil, um in praktisch allen Ländern parallel einsetzende "massive Konsolidierungsprogramme" zu überstehen, warnt das IMK. Daher empfehlen die Ökonomen eine "asymmetrische" fiskalpolitische Reaktion, bei der Länder wie Griechenland, deren Haushalte übermäßig verschuldet sind und die erhebliche Leistungsbilanzdefizite aufweisen, auf Sparkurs gehen, während Länder wie Deutschland, die Niederlande und Österreich, die eher niedrige Defizite und vor allem Exportüberschüsse aufweisen, weiterhin ihre Binnennachfrage stimulieren. Dadurch steigen nach der Analyse des IMK die Chancen auf einen kräftigen, selbst tragenden Aufschwung. Mit dem Rückenwind einer starken Konjunkturentwicklung ließen sich die zusätzlichen expansiven Maßnahmen zügig über höhere Steuereinnahmen gegenfinanzieren und damit auch die Konsolidierung rascher voranbringen.

Weitere Informationen unter:
http://www.boeckler.de/320_107800.html
- PM mit Ansprechpartnern

http://www.boeckler.de/pdf/p_imk_report_51_2010.pdf
- Die Studie als IMK Report

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/pages/de/institution621


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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Hans-Böckler-Stiftung, Rainer Jung, 14.07.2010
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Juli 2010