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FORSCHUNG/699: Alternative zum Wachstum (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 11/2010

Alternative zum Wachstum

Von Florian Paulus Meyer


Ungleichheit mache krank, argumentiert der britische Sozialforscher Richard Wilkinson in seinem Buch Gleichheit ist Glück. Seine Forderung: Eine höhere Zufriedenheit in der Bevölkerung erreicht man nicht durch mehr Wachstum, sondern durch eine gleichmäßigere Verteilung des Wohlstands.


Menschen in Schweden vertrauen einander viel eher als Menschen in Portugal. Im Vereinigten Königreich quellen die Gefängnisse über, während in Österreich, Deutschland und Frankreich die Zahl der Insassen in den vergangenen Jahren zurückging. Und in den Vereinigten Staaten sind mehr Menschen übergewichtig als in Japan. "Je weiter das Einkommen auseinander liegt, desto weiter werden die Kleider", schreibt Richard Wilkinson. Am Beispiel des Übergewichts bringt er damit auf den Punkt: Ungleichheit schafft Probleme.

Je größer die Unterschiede zwischen Arm und Reich, schreibt Wilkinson, umso größer seien auch die sozialen Probleme. "Ob es um Kriminalität, Gewalt, Drogenmissbrauch, Schwangerschaften im Kindesalter, um schlechte Gesundheit, Fettleibigkeit, den Bildungsstand oder die Lebenserwartung geht", sagt Wilkinson im einem Interview mit der Wochenzeitung DIE ZEIT, "überall zeigt sich, dass 'ungleiche Staaten' wesentlich schlechter dastehen". Nicht die Vermehrung des Wohlstands in einer Gesellschaft führe daher zu mehr Zufriedenheit, sondern dessen Verteilung. Gleichheit schafft Glück.

Ende des vergangenen Jahres veröffentlichte der britische Sozialforscher Richard Wilkinson zusammen mit seiner Kollegin Kate Pickett die Ergebnisse einer aufwändigen Untersuchung in dem Buch Gleichheit ist Glück. Mehr als 200 internationale und nationale Studien werteten die Forscher aus. Die Veröffentlichung der Ergebnisse schlug hohe Wellen. Denn Wilkinson und Pickett liefern die empirische Grundlage für einen seit langem bestehenden Zweifel. Wachstum schafft Wohlstand und damit auch Zufriedenheit, lautet das allgemeine Credo, das die Wissenschaftler in ihrem Buch widerlegen.

Zufriedenheitsindizes und Wohlfahrtskennzahlen hätten aufgehört, zusammen mit dem Bruttoinlandsprodukt zu steigen. Während die wohlhabenden Gesellschaften auf der ganzen Welt reicher und reicher wurden, haben Angstzustände und Depressionen in der Bevölkerung kontinuierlich zugenommen. Auch die Zahl der sozialen Probleme sei stetig gestiegen. Diese Generation sei daher die erste, die neue Lösungswege finden muss, wie die Lebensqualität noch weiter gesteigert werden kann.

Die Zufriedenheit einer Nation nimmt in der Regel mit dem wirtschaftlichen Wachstum zu. Je reicher ein Land im Durchschnitt aber ist, desto weniger führt zusätzliches Wachstum auch zu glücklicheren Menschen (Siehe auch den Beitrag von Bill Kerry in dieser Ausgabe.). In seinem Vergleich der 23 reichsten Länder der Welt stieß Wilkinson auf das Paradoxon, dass die Lebenserwartung nicht in den Ländern mit dem höchsten Durchschnittseinkommen am größten war, sondern dort, wo Arm und Reich am nächsten beieinander lagen. Das gleiche Phänomen fand der Forscher für einen selbsterrechneten Indikator sozialer Probleme aus Kriminalität, ungewollten Schwangerschaften und Übergewicht. Auch bei einem Vergleich der US-Bundesstaaten blieb die Tendenz gleich: Nicht mehr Wachstum lindert die Probleme einer Gesellschaft, sondern eine gleichmäßigere Verteilung der Einkommen. Die Ursache sieht der britische Forscher in dem über die Jahrzehnte gewachsenen Stress durch Angst um den eigenen Sozialstatus.

Mit ihrer Forschung stellen sich Wilkinson und Pickett in eine Reihe von Wissenschaftlern, die in den vergangenen Jahren untersucht haben, was Menschen zufrieden macht. Diese sogenannte Glücksforschung ist mittlerweile ein Feld, das nicht mehr nur unter Philosophen und Psychologen, sondern auch immer mehr in der Volkswirtschaftslehre diskutiert wird. Einen Standard setzte der Londoner Ökonom Richard Layard mit seinem 2005 erschienenen Buch Happiness: Lessons from a New Science.

Das Fazit der Glücksforscher: Sobald die Grundbedürfnisse gesichert sind, führt steigendes Einkommen nicht automatisch zu mehr Zufriedenheit. Oder anders: Geld allein macht nicht glücklich.


Was uns zufriedener macht

Um dieser Frage nachzugehen, haben Glücksforscher wie Richard Layard sieben sogenannte Glücksfaktoren identifiziert. Neben familiären Beziehungen, befriedigender Arbeit, dem sozialen Umfeld, Gesundheit, persönlicher Freiheit und Religion ist das Einkommen nur ein Merkmal unter vielen.

"Materieller Reichtum hat nur einen kurzen Effekt auf unsere Zufriedenheit", sagt Karlheinz Ruckriegel, Professor für Betriebswirtschaft in Nürnberg. Die Erwartungshaltungen, unsere Ansprüche, passten sich sehr schnell an ein höheres Einkommen an. Die klassische Wirtschaftstheorie hatte deshalb Probleme zu erklären, warum sich das reale Pro-Kopf-Einkommen in den Vereinigten Staaten seit 1950 verdreifacht hat, die Zahl der US-Amerikaner, die sich als sehr glücklich bezeichneten, aber während des gesamten Zeitraums konstant bei 30% lag. Dieser Gewöhnungseffekt wird in der Forschung als Easterlin-Paradoxon bezeichnet (Benannt nach dem Ökonomen Richard Easterlin, die Red.).

Karlheinz Ruckriegel sieht die Ergebnisse der Glücksforschung durch Trends am Arbeitsmarkt bestätigt. Immer mehr Top-Angestellte interessierten sich für sogenanntes Down Grading, einen freiwilligen Rückschritt in der Unternehmenshierarchie. Einige Beschäftigte in hohen Positionen schalteten lieber eine Stufe zurück und wählten einen Beruf, der ihnen zwar weniger Prestige und Einkommen, gleichzeitig jedoch mehr Zeit und weniger Stress einbringe. "Viel wichtiger als Geld sind soziale Kontakte", sagt der Glücksforscher Ruckriegel.

Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Richard Wilkinson auf der Ebene ganzer Gesellschaften. "Ungleichheit teilt eine Gesellschaft und reibt sie auf", sagt der Sozialforscher in der ZEIT "Wir brauchen mehr Kooperation und Gegenseitigkeit." Vor allem die USA, Großbritannien und Portugal sind in seinem Vergleich der reichsten Länder der Welt von Ungleichheit und sozialen Probleme betroffen. Japan und die skandinavischen Staaten schneiden meistens am besten ab. Deutschland belegt einen Platz in der Mitte.

Um die Ergebnisse seiner Forschung zu verbreiten, hat Richard Wilkinson mit Kate Pickett die Organisation Equality Trust gegründet. Forschungsergebnisse für die evidenzbasierte Politik soll der Trust zusammentragen und weiter verbreiten.


Florian Paulus Meyer (* 1982) hat Politik- und Kommunikationswissenschaft sowie VWL studiert. 2008 bis 2010 besuchte er die Deutsche Journalistenschule. Er arbeitet als freier Journalist. Weitere Informationen unter www.medienkonfekt.de


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 11/2010, S. 29-30
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Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Dezember 2010