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INTERNATIONAL/239: Brasilien - Wirtschaft stößt an ihre Grenzen (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 16. Dezember 2014

Brasilien: Wirtschaft stößt an ihre Grenzen

von Mario Osava


Bild: © Mario Osava/IPS

Teil des Hafens der weltgrößten Eisenproduktionsfirma 'Vale' in Punta da Madeira im nordostbrasilianischen Bundesstaat Maranhão, von wo aus das Eisenerz aus der Sierra de Carajás im brasilianischen Bundesstaat Amazonien verschifft wird
Bild: © Mario Osava/IPS

Rio de Janeiro, 16. Dezember (IPS) - In Brasilien ist eine Diskussion über die Zukunft des von Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva 2003 eingeführten Wirtschaftsmodells in Gang, das den Neoliberalismus mit sozialer Inklusion verknüpft hat. Erwartet wird, dass Staatschefin Dilma Rousseff ihre zweite Amtszeit ab dem 1. Januar dazu verwendet, um der Kombination neuen Auftrieb zu verleihen.

"Allerdings ist das derzeitige Wirtschaftswachstum, das auf dem Export von Rohstoffen zur Finanzierung sozialer Maßnahmen basiert, aufgrund des internationalen Preisverfalls alles andere als nachhaltig", warnt Cándido Grzybowski, Leiter des Brasilianischen Instituts für Wirtschafts- und Sozialanalysen (Ibase). "Das Wirtschaftsmodell steckt in der Sackgasse, und es zeigt sich bisher kein Licht am Ende des Tunnels."

Eine weitere für Brasilien wichtige Einnahmequelle sind die Tiefsee-Ölfelder, die 2006 unter einer Salzschicht im Atlantik entdeckt wurden. Doch auch sie werden dem Experten zufolge nicht die erwünschten Resultate erzielen, solange die Preise für den fossilen Brennstoff im Keller sind. Die Erdölpreise sind im letzten Quartal um 30 Prozent gefallen.

Um die derzeitigen Schwächen der brasilianischen Wirtschaft wie Stagnation, Inflation, Haushaltsdefizit und fehlendes Vertrauen von Unternehmerseite her auszugleichen, wird Rousseff in den kommenden vier Jahren ihre eigenen Wirtschaftsvorstellungen zurückstellen und sich stärker als bisher an der Opposition ausrichten, meinen Beobachter mit Blick auf die Entscheidung der Staatschefin, Schlüsselministerien an orthodoxe Wirtschaftsexperten zu vergeben.


Vorwurf, die Wähler getäuscht zu haben

Rousseff wird indes von ihren politischen Widersachern vorgeworfen, die Wähler getäuscht zu haben, indem sie nun zu Maßnahmen greife, die sie im Wahlkampf als Rückschritte und Gefahren für die Sozialprogramme angeprangert habe. Zum Beispiel hat sie Joaquim Levy, der sich schon 2003 bis 2006 als Schatzmeister durch eine strikte Haushaltsanpassung ausgezeichnet hatte, zum neuen Finanzminister ernannt. Die 'Scherenhand' ('manos tijeras'), wie Levy auch genannt wird, hat bereits angekündigt, die Steuern zu erhöhen und die Ausgaben der öffentlichen Hand möglichst klein zu halten.

Levy sowie der neue Wirtschaftsplanungsminister Nelson Barbosa und der im Amt bestätigte Zentralbankchef Alexandre Tombini haben allesamt mitgeteilt, einen makroökonomischen Wirtschaftskurs einzuschlagen, der zum Rückgang der Inflation führt, einen frei schwebenden Wechselgeldkurs ermöglicht und strikte Budgeteinsparungen mit dem Ziel vornimmt, einen Primärüberschuss zu erwirtschaften, durch den die Kernausgaben und ein Teil der Zinsausgaben gedeckt werden können.

Levy hat bereits angekündigt, die öffentlichen Ausgaben graduell zu verringern, um im kommenden Jahr einen Primärüberschuss von mindestens 1,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erreichen zu können. In den darauffolgenden zwei Jahren sollen es mindestens zwei Prozent sein. Außerdem versprach er eine transparente Kontenführung.

Um die Inflation zu drücken, die von Dezember 2013 bis November 2014 einen Durchschnittswert von 6,56 Prozent erreichte, hat die Zentralbank die Basiszinssätze auf 11,75 Prozent pro Jahr erhöht. Das Inflationsziel liegt bei 4,5 Prozent, wobei der Toleranzwert mit 6,5 Prozent angegeben wurde.

"Uns stehen angesichts der Budgetkürzungen und der Erhöhung der Zinssätze, die die Armut und Arbeitslosigkeit verstärken könnten, mindestens zwei harte Jahre bevor", meint Grzybowski, ein Mitbegründer des Weltsozialforums. Er erwartet angesichts der schwachen Konjunktur und der konservativeren Politik von Regierung und Parlament ein Widererstarken der sozialen Bewegungen und Massenproteste.

Allerdings ist der Korruptionsskandal, mit dem sich der staatliche Erdölriese 'Petrobras' konfrontiert sieht, "die Unbekannte, die der Politik empfindlich zusetzen könnte", so der Ibase-Chef im IPS-Gespräch. Politik und Justiz haben bereits die Ermittlungen in dem Fall aufgenommen, in den Dutzende Abgeordnete und politische Entscheidungsträger verwickelt sind und in dem es um mehrfache Millionenbeträge geht.


Medienschelte

Mehr als 1.300 'Wirtschaftswissenschaftler für Entwicklung und soziale Inklusion' haben den Kommunikationsmedien in einem 'Manifest' eine einseitige Berichterstattung vorgeworfen. In ihren Beiträgen vermittelten sie den Eindruck, dass die Haushaltsdisziplin der einzige Weg sei, um die Probleme des Landes zu lösen. "Jede Austerität verschärft die Rezession, die Arbeitslosigkeit und die Haushaltsprobleme in den Entwicklungsländern", meinen die kritischen, aber regierungsnahen Wirtschaftswissenschaftler.

"Wenn eine Ökonomie wächst oder stagniert, ist es vor allem die Industrie, die von den Folgen besonders stark getroffen ist", meint der Ökonom Julio de Almeida. Er sieht die Gefahr, dass ein rigider Sparkurs die Rezession, die dem Sektor bereits im scheidenden Jahr das Leben schwer gemacht hat, weiter verschärfen wird.

Allerdings gibt es nach Ansicht von de Almeida, Wirtschaftsprofessor an der staatlichen Universität von Campinas, auch Grund für Optimismus. So könnte die Regierung mit ihrer Ankündigung, das Budget graduell zu sanieren, das Vertrauen der Unternehmer wiederherstellen. "Auf diese Weise lässt sich die Wirtschaft konsolidieren. Nach dem ersten schwierigen Halbjahr 2015 wird es besser werden. Zwar tritt die Industrie auch weiterhin auf der Stelle, doch werden wir einen Produktionsniedergang von drei Prozent nicht wieder erleben."

Von der Deindustrialisierung - der Sektor hat nur noch einen Anteil am brasilianischen Bruttoinlandsprodukt von zwölf bis 13 Prozent - geht eine ungeheure Dynamik aus, die sich auf andere Bereiche wie Transport, Finanzen, Informationstechnologien und Dienstleistungen negativ auswirkt. Aus diesem Grund ist es de Almeida zufolge sehr wichtig, die nationale Industrie mit Krediten der Förderbanken und Marktkapital bei der Transformation zu unterstützen. Es müsse ferner in den Ausbau der Infrastruktur investiert und eine starke Landeswährung verhindert werden.

"Unsere Industrie hat an Dichte verloren, doch sie zeichnet sich nach wie vor durch eine überdurchschnittliche Diversifizierung aus." Etwa bei Kapitalgütern und pharmazeutischen Produkten könne Brasilien nach wie vor international mithalten, so de Almeida.


Öleinnahmen für Entwicklungszwecke

Mauro Osorio, Professor an der Bundesstaatlichen Universität von Rio de Janeiro, sieht trotz aller Unkenrufe ebenfalls Möglichkeiten der wirtschaftlichen Erholung. "Brasilien ist stark vorangekommen", meint er. "Die Erdölreserven eröffnen dem südamerikanischen Land weitere Wohlstandswachstumsmöglichkeiten. Allerdings muss die Regierung umsichtig und nach dem Vorbild Norwegens handeln und die Öleinnahmen in die Entwicklung des Landes investieren."

Auch die Produktion und der Export von Nahrungsmitteln sind trotz Klimawandel und Inflationsrisiken vielversprechende Bereiche, um den nationalen Wohlstand zu erreichen. Allerdings müssen den Experten zufolge einige Herausforderungen gestemmt werden, damit die Einnahmen auch die Armen im Land erreichen. Osorio schlägt eine Reform des Steuersystems vor, das weniger den Konsum und stärker die Einnahmen besteuert. (Ende/IPS/kb/2014)


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http://www.ipsnoticias.net/2014/12/brasil-economia-en-rectificacion-o-callejon-sin-salida/

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IPS-Tagesdienst vom 16. Dezember 2014
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Dezember 2014