Forum Umwelt & Entwicklung - Rundbrief 4/2018
Lebensadern unserer Erde
Flüsse - begradigt, gestaut, zerstört.
Am Scheideweg: Reform, Reförmchen oder ein Aus
Retten die "Freunde des Systems" die Welthandelsorganisation?
von Jürgen Knirsch
Die Welthandelsorganisation (WTO) erreicht nur noch selten die Aufmerksamkeit der Zivilgesellschaft und der Medien. Die Proteste anlässlich der letzten WTO-Ministerkonferenz im Dezember 2017 in Buenos Aires waren eine dieser Ausnahmen. Ein Jahr später stand in Buenos Aires die WTO wieder auf der Tagesordnung - diesmal auf der des G20-Gipfels. Eine im WTO-Kontext unübliche Koalition aus China, Europäischer Union (EU) und Indien versuchte dort zusammen mit weiteren 9 Ländern, als "Freunde des Systems" das von Trump hart attackierte Streitschlichtungssystem der WTO und damit die Organisation als Ganzes zu retten. Wäre ein Aus der Streitschlichtung in der WTO auch ein Aus der WTO? Und wie gehen wir damit um?
Die 164 Mitglieder der WTO decken zusammen 98 Prozent des
Welthandels ab. Die im Konsens entscheidende multilaterale Institution
erfüllt von ihren Aufgaben die beiden wichtigsten derzeit nicht,
nämlich bestehende Handelsabkommen weiterzuentwickeln und neue
Handelsabkommen abzuschließen. Bestes Beispiel dafür ist die 2001
beschlossene Doha-Handelsrunde, die ursprünglich Ende 2004
abgeschlossen sein sollte, es aber bis heute nicht ist. Nun wird
versucht, auch ihre dritte wichtige Funktion, Handelsstreitigkeiten
zwischen ihren Mitgliedern zu schlichten, auszuschalten. Die USA
blockiert seit einigen Monaten die Neubesetzung der Mitglieder der
Berufungsinstanz im WTO-Streitschlichtungssystem. Sollte diese
Blockade fortgesetzt werden, ist spätestens Ende 2019 die
Berufungsinstanz nicht mehr handlungsfähig.
Die Kritik an der WTO füllte vor allem zwischen 1999 und 2005 Straßen, Versammlungsräume und Broschüren. Interne Reformvorschläge wie der Report zur Zukunft der WTO zum zehnjährigen Jubiläum im Jahre 2005 blieben ebenso wie das von Zivilgesellschaft ausgearbeitete Alternative Handelsmandat aus dem Jahre 2013 ohne Folgen. Die Probleme der WTO begannen also schon deutlich vor Trump, haben aber eine drastische Verschärfung erhalten, seit dem er US-Präsident ist. Trump kündigte einen möglichen Austritt aus der WTO bereits während seines Wahlkampfes im Juli 2016 an. Seine derzeitige Strategie ist jedoch ausgefeilter und umfasst 3 Elemente: 1. die WTO nutzen, wo es ihm passt - z. B. wenn er zusammen mit der EU und Japan gegen China vorgeht; 2. mit seinen Strafzöllen WTO-Streitfälle der davon betroffenen WTO-Mitglieder provozieren, auf die er wiederum mit neuen WTO-Streitfällen gegen die Betroffenen reagiert; und 3. das WTO-Streitschlichtungssystem funktionsunfähig zu machen.
Die WTO verliert ihren Biss
"Die WTO hat Biss", hieß es einst. Gemeint war damit, dass die WTO
anders als etwa multilaterale Umweltabkommen oder die Internationale
Arbeitsorganisation Verstöße gegen ihre Regeln ahnden kann. Die
Grundlage dafür ist die Vereinbarung über Regeln und Verfahren zur
Beilegung von Streitigkeiten: Sieht ein WTO-Mitglied sich durch eine
Maßnahme eines anderen Mitgliedes in seinen Handelsmöglichkeiten
beeinträchtigt, kann es einen Handelsstreit starten. Dafür gibt es 2
Instanzen: Zunächst nimmt sich ein Panel, zusammengesetzt aus 3
(maximal 5) hochqualifizierten Einzelpersonen, dem Streitfall an. Wird
dessen Bericht und Urteil nicht von beiden Streitparteien akzeptiert
und legt mindestens eine Partei Berufung ein, kommt die zweite Instanz
ins Spiel. Die Ständige Berufungsinstanz, der Appellate Body (AB),
überprüft dann die Entscheidung des Panels. Der AB kann sie bestätigen
oder modifizieren und ein anderes Urteil fällen. Letzteres ist dann
rechtskräftig und kann zu Entschädigungszahlungen (wie Strafzöllen)
oder dem Aussetzen von Zugeständnissen (etwa bei Rechten des geistigen
Eigentums) führen. Es muss von der unterlegenen Partei akzeptiert und
umgesetzt werden. Die Ständige Berufungsinstanz umfasst 7 anerkannte
ExpertInnen, die jeweils für 4 Jahre gewählt werden, wobei eine
einmalige Wiederwahl zulässig ist. Die AB-Mitglieder müssen
regierungsunabhängig sein und dürfen sich nicht an der Erörterung von
Streitigkeiten beteiligen, die zu einem Interessenkonflikt führen
würden.
Jeweils 3 der 7 AB-Mitglieder befassen sich mit einem Streitfall. Derzeit umfasst der AB jedoch insgesamt nur noch 3 Personen, da die USA seit Monaten den Konsens für die Neuwahlen von Mitgliedern verweigern: Bleiben die USA bei ihrer Blockadehaltung ist spätestens am 10. Dezember 2019 die Berufungsinstanz handlungsunfähig, wenn die Amtszeit für 2 der 3 abläuft. Dem Gebiss der WTO fehlen also bereits jetzt Zähne, die WTO könnte dann ab Ende 2019 weitgehend zahnlos sein.
America first!
Die USA sind mit deutlichem Abstand die Nummer 1, was die Anzahl der
WTO-Streitfälle betrifft. Bis Ende 2017 führten sie in 115 Fällen
Klagen gegen andere WTO-Mitglieder und wurden selbst in 134 Fällen von
anderen WTO-Mitgliedern angeklagt. Die EU als Nummer 2 kommt lediglich
auf 97 Fälle als Klägerin und auf 83 Fälle als Angeklagte. Der
Hauptgrund für die Blockade-Haltung der USA ist: Sie wollen den AB
stärker an die Kandare ziehen und dessen Interpretationsspielräume
eingrenzen - Interpretationsspielräume, die der AB auch in einigen
Umweltfällen zugunsten der Umwelt genutzt hat. Der derzeitige
US-Handelsbeauftragte ist zudem als ein erbitterter Gegner eines
verbindlichen Streitbeilegungssystems bekannt.
Reform oder Reförmchen? Oder ein Aus?
Für das Europäische Parlament (EP) ist das WTO-Berufungsgremium das
"Juwel in der Krone" der WTO. Aber, so das EP, "das regelgestützte
multilaterale Handelssystem" erlebt derzeit "seine tiefste Krise seit
Errichtung der WTO".[1] Die Häufigkeit der jüngsten Treffen zur
Situation der WTO bestärkt das Bild einer tiefen Krise. So war das
Thema WTO-Reform Gegenstand des G20-Handelsministertreffens am 14.
September 2018 in Argentinien sowie eines Treffens von 13
WTO-Mitgliedern am 20. September in Genf. Im Oktober diskutierten die
EU und China bilateral über die WTO-Reform. Ende Oktober lud die
Kanadische Regierung dieselben 13 WTO-Mitglieder zu einem zweitägigen
Treffen zur WTO-Reform nach Kanada ein.
Position bezogen zunächst die EU und Kanada im September 2018. Das Konzeptpapier der EU zielt auf Veränderung in 3 Schlüsselbereichen: Neben der Überwindung der drohenden Blockade beim Streitbeilegungssystem der WTO, die Aktualisierung des Regelwerks für den internationalen Handel sowie eine Stärkung der Überwachungsfunktion der WTO.[2] Das EU-Papier widmet sich in einem kurzen Absatz den UN-Zielen für nachhaltige Entwicklung (SDGs) und schlägt vor, dass analysiert werden soll, wie der Handel zur Erreichung des SDGs beitragen kann. Dagegen wird weder die umgekehrte Frage, wie der Handel die Erreichung der SDGs beeinträchtigt, gestellt, noch auf die UN-Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung verwiesen. Das kanadische Diskussionspapier zur Stärkung und Modernisierung der WTO ist in dem Punkt Reform des Streitschlichtungssystems weniger präzise als das der EU.[3] Kurz vor dem G20-Gipfel in Buenos Aires veröffentlichten die sogenannten "Freunde des Systems", zu denen jetzt auch China und Indien zählen, einen weiteren Vorschlag zur Reform des Berufungsgremiums.[4] China und Indien unterstützen aber nicht die anderen beiden Reformbereiche, die Brüssel vorschlägt. Das zum G20-Gipfel vorgelegte Papier behandelt dagegen ausschließlich die Reform des Streitschlichtungssystems und dient der Beschwichtigung der USA. Auf dem Gipfel konnten sich die G20-Staaten in der Abschlusserklärung vom 1. Dezember 2018 immerhin auf folgende vage Aussage verständigen: "Wir unterstützen [...] die notwendige Reform der WTO, um ihre Funktionsweise zu verbessern". Ein möglicher Fortschritt soll dann beim nächsten G20-Gipfel Ende Juni 2019 in Osaka überprüft werden.[5]
Zuschauen oder handeln?
Die Strafzölle von Trump, die Reaktionen darauf und die
Gegenreaktionen der USA hierauf werden die Streitschlichtungsinstanzen
der WTO für die nächsten Jahre beschäftigen - sofern es dann einen AB
überhaupt noch gibt. Ein Wegfall der Berufungsinstanz würde den
weiteren Abbau der WTO forcieren. Die bisher vorgelegten
Reformvorschläge ignorieren eine grundsätzliche Kritik am
gegenwärtigen Handelssystem und wollen lediglich die WTO im Sinne des
bisherigen Freihandelsparadigmas wieder fit machen. Der Beschluss von
Buenos Aires hat der WTO eine Atempause verschafft. Fraglich ist, ob
diese ausreicht. Was machen wir als Zivilgesellschaft in der
Zwischenzeit? Schauen wir einem möglichen Untergang der WTO
"genüsslich" zu, zumindest waren "weg mit der WTO!" oder "raus aus der
WTO!" in der Vergangenheit beliebte Parolen. Oder reagieren wir?
Zumindest sollten wir kritisieren, dass die bisherigen
Reform-Vorschläge die seit 2 Jahrzehnten geübte Kritik an der WTO
überhaupt nicht aufgreifen. Und was ist unsere Haltung zu einem
multilateralen Handelssystem? Diese Frage sollten wir nicht mehr lange
unbeantwortet lassen.
Autor Jürgen Knirsch arbeitet seit 1999 zu Handelsfragen
bei Greenpeace.
1. http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//NONSGML+TA+P8-TA-2018-0477+0+DOC+PDF+V0//DE
2. http://trade.ec.europa.eu/doclib/docs/2018/september/tradoc_157331.pdf
3. http://international.gc.ca/gac-amc/campaign-campagne/wto-omc/discussion_paper-document_travail.aspx?lang=eng
4. http://trade.ec.europa.eu/doclib/docs/2018/november/tradoc_157514.pdf
5. https://g20.org/sites/default/files/buenos_aires_leaders_declaration.pdf
Das Forum Umwelt & Entwicklung wurde 1992 nach der UN-Konferenz für
Umwelt und Entwicklung gegründet und koordiniert die Aktivitäten der
deutschen NROs in internationalen Politikprozessen zu nachhaltiger
Entwicklung. Rechtsträger ist der Deutsche Naturschutzring,
Dachverband der deutschen Natur-, Tier- und Umweltschutzverbände (DNR)
e.V.
*
Quelle:
Rundbrief 4/2018, Seite 36 - 37
Herausgeber:
Forum Umwelt & Entwicklung
Marienstr. 19-20, 10117 Berlin
Telefon: 030/678 1775 910, Fax: 030/678 1775 80
E-Mail: info@forumue.de
Internet: www.forumue.de
veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Februar 2019
Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang