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MEINUNG/038: Exportüberschuss als "deutsches Problem" (Karl Mai)


Kurzkommentar
Exportüberschuss als "deutsches Problem"

von Karl Mai, 20. Dezember 2013



Vorbemerkung

Die Kritik am deutschen Exportüberschuss als makroökonomisches Problem nimmt auffällig zu. Dabei reichen die kritischen Einwände vom allgemeinen deutschen Überschuss in der Außenwirtschafts-Bilanz bis hin zur speziellen Kritik am steigenden Rüstungsexport - letzteres z.B. aus "politisch-moralischen Gründen" durch den deutschen Altbundeskanzler Helmut Schmidt (in "Die Zeit" Nr. 51/2013, S. 15). Es gibt kaum einen Zweig der deutschen Exportindustrie, der nicht am regionalen oder globalen Handels-Ungleichgewicht durch seine Lieferungen direkt beteiligt ist. Es gibt wahrscheinlich keine Großbank in Deutschland, die nicht am erzielten Überschuss der deutschen Kapitalbilanz in der Außenwirtschaft der letzten Jahre zeitweilig beteiligt war oder es noch ist.

"Deutschland verspielt Milliarden im Ausland" titelt ein Kommentar von "www.sueddeutsche.de" am 29.11.2013, der die enormen deutschen Verluste an Ersparnissen anprangert. Doch wer ist dafür verantwortlich in einem Lande wie Deutschland, das seine Bankmanager mit Bonuszahlungen überschüttet, den Ex-Bundespräsidenten Wulf dagegen wegen "alten Bagatellen" vor Gericht bringt?


Die Daten des "SVR für Wirtschaft"

Nach den aktuellen Angaben des SVR betrug der Außenbeitrag Deutschlands für das Jahr 2012 insgesamt 221,6 Mrd. Euro, darunter beim Warenumsatz 178,3 Mrd. Euro und beim Primäreinkommen [1] 63,7 Mrd. Euro, während es bei den Dienstleistungen einen negativen Außenbeitrag von -20,3 Mrd. Euro gab.

Dabei stieg der Außenbeitrag durch den Warenumsatz zwischen 2003 und 2012 um weitere ca. 49 Mrd. Euro an, während er bei den Primäreinkommen von -18,2 auf +63,7 Mrd. Euro sogar noch schneller anwuchs. Dies zeugte von der weiterhin dominierenden Exportkraft der deutschen Wirtschaft im Zeitraum der "Euro-Krise", darunter von der stark angestiegenen Bedeutung des Kapitalexports, aus dem die hohen Primäreinkommen resultierten.

Insgesamt entstanden zwischen 2003 und 2012 bei den Warenumsätzen Überschüsse von 1.595,31 Mrd. Euro und beim Primäreinkommen Überschüsse von 380,01 Mrd. Euro für Deutschland. (Bei den Primäreinkommen sind selbstverständlich die auch entstandenen Verluste der deutschen Anleger durch Kapitalbewegungen und -spekulationen aller Arten eingerechnet.)

Gleichzeitig berichtete das DIW, dass deutsche Kapitalanleger zwischen 1999 und 2012 insgesamt Verluste von 400 Milliarden Euro im Ausland zu tragen hatten (DIW-Wochenbericht Nr. 47/2013), was einem durchschnittlichen Jahresverlust von ca. 30 Mrd. Euro für diesen sehr langen Zeitraum gleichkommt. Diese Politik der langfristigen Kapital-"Vernichtung" ist auch deshalb extrem schädlich, weil sie auf dem Boden fehlender inländischer Investitionen (Bildung, Infrastruktur) forciert wurde. (DIW-Wochenbericht Nr. 26/2013) Nach den Angaben des SVR sanken die deutschen Netto-Investitionen zwischen 2007 und 2012 von 119,56 auf nur 58,15 Mrd. Euro dramatisch ab - ein unübersehbares Zeichen für den Bankrott des wirtschaftspolitischen Neoliberalismus bei der europäischen Krisenbewältigung.


Zur Polemik seitens des DIW-Berlin

Jetzt hat Marcel Fratzscher (Präsident des DIW-Berlin) - nach längerer Abwartezeit - seine persönliche Meinung zum Problem der deutschen Exportüberschüsse publiziert. [2]

Zunächst verwahrt sich Fratzscher gegen den Vorwurf, dass die deutschen Exportüberschüsse "eine Mitschuld" an der europäischen Krise haben. "Dieser Vorwurf ist falsch." Eine solche Feststellung von Fratzscher ist kaum plausibel, wenn man die indirekten und mittelbaren Wirkungen dieser komplexen Exportüberschüsse im Rahmen der gesamten Außenhandelsbilanz einbezieht.

Sein wichtigstes Argument hierfür lautet: "Handel ist kein Nullsummenspiel, bei dem Deutschlands Exporte zu Lasten anderer gehen." Mit dem scheinbar logischen Schluss "Handel ist kein Nullsummenspiel" wird hierbei verschleiert, dass es sich beim Export- und Leistungsbilanzüberschuss nicht nur um einfachen Handel, sondern um ein komplexes gravierendes Ungleichgewicht in der Wirtschaft handelt, das unter der Tarnkappe "Handel" daherkommt und zugleich eine ganz spezifische Ursachen- und Wirkungskomponente einschließt: die Ungleichgewichte auch der Kapitalbilanzen, die ein Bestandteil der Leistungsbilanzen sind. Solange Überschüsse in der Außenwirtschaft nicht verhindert werden, sind auch Importdefizite zwangsläufig, zwar nicht als unmittelbares Ziel, aber in der logischen Folgewirkung.


Gegenargumente zu DIW-Fratzscher

Gegenüber Fratzschers Standpunkt ist m. E. folgendes geltend zu machen: Dem eigentlichen Warenhandelsüberschuss jedes Staates steht ein eigenes Warenimportdefizit gleicher Höhe gegenüber - und nur diese beiden Seiten der Medaille gleichen sich "zu Null" aus. Aber es geht im Kern nicht hierum, sondern um den komplexen Außenwirtschaftssaldo eine Staates. Bei Fratzscher wird hier im Grunde von den Warenimportdefiziten in einem gegebenen Staat abgelenkt, die bei den laufenden Warenexportüberschüssen gegenüber mehreren anderen Staaten zwangsläufig entstehen müssen. Es ist in zwei verschiedenen Bilanzen auf zwei Ebenen zu rechnen: Warenumsätze und Primäreinkommen. Das geht aus der oben zitierten Bilanzdarstellung des SVR für Wirtschaft auch klar hervor.

Vom Standpunkt eines "nationalen Kapitals" werden gerade durch solche Ungleichgewichte auf beiden Seiten der Außenbilanz hohe Gewinne realisiert - beim Warenexportüberschuss im Verkauf (auch gegen Bankkredite mit hohen Zinsen); beim Warenimportdefizit gleichfalls durch Senkung des gesamten Binnenbedarfs (infolge der abgesenkten Lohnquote) sowie der zwangsläufigen Ableitung der damit "eingesparten" Binnenfinanzierungsmittel (über das Bankensystem und den Direktexport der Unternehmen) in den eigenen Kapitalexport. Die Unterscheidung von Waren- und Geldkapitalexport besitzt somit ihren wirtschaftspolitischen Sinngehalt, der nicht herabgemindert oder übergangen werden sollte.

Dagegen bei Marcel Fratzscher: "Ein Abbau der hohen Exportüberschüsse Deutschlands ist deshalb notwendig. Dies sollten wir nicht durch Schwächung der Wettbewerbsfähigkeit und Reduzierung der Exporte erreichen, sondern durch bessere Rahmenbedingungen und mehr Anreize für Investitionen - eine zentrale Aufgabe der neuen Bundesregierung". Sollen diese "mehr Anreize für Investitionen" vom Staat trotz Fortsetzung der harten fiskalischen Spar- und Entschuldungspolitik zusätzlich mobilisiert werden?

Diese erforderlichen "besseren Rahmenbedingungen" werden leider durch Fratzscher nicht konkretisiert; aber der Leser kann vermuten bzw. kann voraussetzen, dass Fratzscher hierunter die Fortsetzung, Verbreiterung und sogar Verschärfung der neoliberal intendierten, angebotsorientierten Lohnkostensenkungspolitik in der Bundesrepublik versteht. Diese hat jedoch bisher durch die Duldung und Förderung einer Politik zur Senkung der Lohnquote am BIP stets signifikant die Leistungsbilanzüberschüsse Deutschlands erhöht und keineswegs gesenkt.


Fratzschers "Zukunftsvision"

Frappierend wirkt nun folgender Satz von Fratzscher: "Die hohe Sparquote und Exportüberschüsse haben also Deutschlands Wohlstand verschlechtert, nicht verbessert", und er begründet dies mit den schon genannten "über 400 Milliarden Euro" seit 1999 erzielten hohen Verlusten Deutschlands in seinen Exportüberschussländern. Hier schimmert die oft verdrängte Realität der zwischenstaatlichen, regionalen oder globalen Finanzbeziehungen und deren Bankenfinanzierung durch, ohne die wirklich Ursachen bzw. Verantwortlichen zu benennen. Jedoch ist dieser "Verlust" der Preis für die gleichzeitigen immensen Gewinne der privaten Kapitalbesitzer, die Deutschland insgesamt aus den Bilanz-Ungleichgewichten gezogen hat, wobei ein spekulativer Geldkapitalverlust letztlich auch vom Staatshaushalt und vom Steuerzahler getragen wurde oder werden soll. Ferner sei nochmals daran erinnert: die deutschen saldierten Primäreinkommen aus dem Ausland stiegen im Jahre 2012 auf 63,7 Mrd. Euro und erreichten den bisher höchsten Stand.

Leider bemerkt Fratzscher selbst nicht, dass er mit seinem Vorschlag zu "besseren Rahmenbedingungen" auch künftig "den Bock zum Gärtner" macht, sofern man der Wirtschaftspolitik der Bundesregierung eine Rolle als "Gärtner" zubilligen will. Darüber hinaus ist offen, wie die ambivalenten Anforderungen an die Wirtschaftspolitik gleichzeitig und koordiniert realisiert werden könnten: Binnenwirtschaftlich gezielte Investitionsförderung, fiskalischer Sparkurs und rascher Abbau der hohen Staatsverschuldung auf allen Ebenen in Deutschland. sowie Anhebung des materiellen Lebensniveaus der breiten Massen, insbesondere der untersten wirtschaftlichen Einkommensgruppen.

Das "Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung" in Berlin (IMK) hat unlängst durch Modellrechnungen nachgewiesen, dass die einseitige Angebotspolitik, die durch die "Reformen" initiiert und etabliert wurde, im letzten Jahrzehnt sich äußerst nachteilig ausgewirkt hat. Kritisch wird vermerkt: "Aber auch in Deutschland wurden durch diesen einseitigen Policy Mix" (der die Nachfragepolitik vernachlässigte) "Wachstum und Beschäftigung verschenkt und eine massive Umverteilung zu Gunsten der Besserverdienenden und Vermögenden betrieben." (Hervorhebung von mir - K.M.) (Zitiert nach IMK-Report 87, Nov. 2013, S. 19)

Sicherlich ist es kein Zufall, dass diese Bereicherung der privaten Geldvermögensbesitzer in der Argumentation von M. Fratzscher ausgeblendet bleibt.


Anmerkungen:

[1] Hierunter rechnen die Einkommen durch Kapitalexport (u.a. Gewinne, Zinsen); SVR in: siehe Zeitreihe ZR032 zur Verwendung des Volkseinkommens, Stand: 3.10.13.;
http://www.sachverstaendigenrat-wirtschaft.de/fileadmin/dateiablage/download/zeitreihen/ZR032.xls

[2] M. Fratzscher, "Deutsche Exportüberschüsse sind ein Problem für Deutschland, nicht für die Welt", in: "DIW-Wochenbericht 47/2013"

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Quelle:
© 2013 by Karl Mai, Halle/S.
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Dezember 2013