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REDE/453: Norbert Röttgen zum Energiekonzept der Bundesregierung vor dem Bundestag, 01.10.10 (BPA)


Presse- und Informationsamt der Bundesregierung
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Rede des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Dr. Norbert Röttgen, zum Energiekonzept der Bundesregierung vor dem Deutschen Bundestag am 1. Oktober 2010 in Berlin


Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Seit Jahrzehnten fehlt unserem Land, fehlt unserer Gesellschaft, fehlt dem Industrieland Deutschland ein Energiekonzept. Jetzt liegt es vor, weil diese Koalition im Unterschied zu den Vorgängerregierungen handelt. Das ist die Realität. Der Punkt ist eben, dass ein Ausstieg noch kein Energiekonzept macht. Sie haben im Jahr 2000 den Ausstieg beschlossen und den Kernkraftwerken noch 20 Jahre Restlaufzeit gegeben, aber den Einstieg versäumt. Mit Aussteigermentalität, Ideologie, Falschbehauptungen und der Kampfmentalität, die Sie zeigen, kann man kein Industrieland führen. Vielmehr braucht man einen verantwortungsvollen Einstieg in die Energieversorgung.

Einstieg bedeutet übrigens nicht nur den Ausbau von Kapazitäten. Wenn man in die Versorgung mit erneuerbaren Energien einsteigen will, dann braucht man auch einen Einstieg in die dazugehörige Infrastruktur aus Netzen und Speichertechnologien. Ohne das haben Sie keine Versorgung mit erneuerbaren Energien. Auf diesem Gebiet haben Sie, Herr Kollege Trittin, schlicht und ergreifend nichts gemacht. Wir müssen jetzt die Folgen Ihrer Untätigkeit kompensieren. Wir tun es auch. Darauf können Sie sich verlassen.

Genau aus diesem Grund ist übrigens eine Laufzeitverlängerung, wie ich von Anfang an gesagt habe, notwendig. Im Jahr 2000 ist der Ausstieg beschlossen worden. Wir sind jetzt zehn Jahre weiter. Im Laufe der vergangenen zehn Jahre ist auf dem Gebiet des Netzausbaus und bei den Speicherkapazitäten praktisch nichts passiert. Wir können nicht einfach sagen: Das, was jetzt bei null steht, wird in zehn Jahren bei 100 Prozent sein. - Damit gefährden wir die Energiesicherheit und die Versorgung mit erneuerbaren Energien in Deutschland, und das dürfen wir nicht tun. Energie ist auch eine Frage von elementarer Sicherheit; diese gewährleisten wir.

Ich stelle mir die Frage, warum Sie, Herr Kelber und Herr Trittin, in dieser Debatte in einem solchen Maß Falschbehauptungen bewusst - anders kann ich mir das nicht erklären - aufstellen, die parlamentarisch schon sehr befremdlich sind, die ich aber auch für scheinheilig und verantwortungslos halte. Ich glaube, dass es einen Grund gibt, warum Sie mit dieser Mischung aus Aggressivität, Kampfrhetorik und Falschbehauptungen hier auftreten. Den Grund hat, wie ich glaube, der Kollege Scheer heute auf den Punkt gebracht. Herr Kollege Scheer, ich will das noch einmal herausarbeiten; denn ich glaube, dass Sie den Sachverhalt ganz zutreffend geschildert haben. Sie haben zutreffend gesagt: Der Ausstiegsvertrag, den Rot-Grün abgeschlossen hat, war ein Vertrag im Sinne des Wortes. Es war nämlich ein Austausch von Leistung und Gegenleistung, der darin bestand, dass sich die Kernenergieversorgungsunternehmen damit einverstanden erklären, dass Kernkraftwerke in Deutschland nur noch gut 20 Jahre betrieben werden. Dann haben Sie die Gegenleistungen des Staates, der Regierung genannt. Sie haben zum Beispiel gesagt: Es wird - das war die Gegenleistung - keine Steuern, keine Kernbrennstoffsteuer, geben, und es wird auch nicht mehr Sicherheit geben, weil Sicherheitsmaßnahmen auch ein Kostenfaktor sind. Als Gegenleistung des Staates verzichten wir auf diese Kostenbelastungen.

Dazu will ich Ihnen zwei Dinge sagen.

Die damalige Regierung hat mit den Zusagen, es gebe keine Kernbrennstoffsteuer und nicht mehr Sicherheitsmaßnahmen, über Rechte verhandelt, die allein diesem Haus zustehen. Es ist das Recht des Parlaments, Steuern zu beschließen, und nicht das Recht der Regierung, darüber Verträge mit Kernenergiewirtschaftsunternehmen zu schließen. Es beschädigt die Demokratie, es beschädigt das Parlament, wenn die Regierung dieses Parlament entmündigt. Es beschädigt Demokratie und Parlament, dass die Koalitionsfraktionen von damals bei diesem parlamentarischen Entmündigungsprozess mitgemacht haben. Das ist ein parlamentarischer Skandal, den Sie zu verantworten haben.

Der zweite Skandal, der tief in das Staatsverständnis einschneidet, besteht darin, dass Sie über Sicherheit verhandelt haben. Sie haben damals gesagt: Wir, die rot-grüne Regierung, sind damit einverstanden, dass Sicherheit nicht zur Bedingung für den Betrieb von Kernkraftwerken gehört. Sie ist ein Kostenfaktor. Wir sichern euch zu, dass an diesem Kostenfaktor nichts geändert wird, egal was die Sicherheit der Sache nach erfordert. - Das ist der Vertrag, den Sie abgeschlossen haben.

Ich habe Ihnen in der Regierungsbefragung zugesagt, dass ich in jeder energiepolitischen Debatte aus dem Vertrag, den Sie geschlossen haben, vorlesen werde. Ich möchte Ihnen einige Vertragskautelen vorlesen. Der damalige Minister für Reaktorsicherheit, Jürgen Trittin, hat selber unterschrieben und zugesagt, dass die Bundesregierung keine Initiative ergreifen werde, um diesen Sicherheitsstandard zu ändern. Er hat die Zusage gegeben: Es gibt keine Veränderung bei Sicherheit und Sicherheitsstandards, und es gibt auch keine Erhöhung von Sicherheit. - Das hat er zugesagt, obwohl sich die Sicherheitstechnik vielleicht weiterentwickelt. Das ist die Zusage, die Sie gegeben haben. Sie ist unverantwortlich.

Ich kann noch weitergehen und andere Behauptungen von Ihnen anführen. Herr Kollege Trittin, Sie haben behauptet - auch das wider besseres Wissen; Sie sollten das in solchen Debatten unterlassen -: Wenn es zur Genehmigung von Gorleben kommt, dann wird sie ohne ein atomrechtliches Genehmigungsverfahren erfolgen. Diese Behauptung ist definitiv falsch. Wenn es, was wir heute noch nicht wissen, zu einer Genehmigung von Gorleben als Endlager kommen sollte - das ist ein ergebnisoffener Prozess -, dann kann dies nur auf Grundlage und nach Abschluss eines atomrechtlichen Zulassungsverfahrens geschehen. Etwas anderes zu behaupten, ist die blanke Unwahrheit. Erzählen Sie nicht solche Unwahrheiten, nur um Stimmung zu machen und Angst zu schüren! Lassen Sie das sein! Es ist unverantwortlich.

Es gibt eine zweite Unwahrheit, die Sie verbreiten. Man fragt sich schon, ob Sie nicht irgendein Argument in der Sache oder irgendeinen Vorschlag haben, wie Sie es machen wollen. Offensichtlich haben Sie kein Argument und keinen Vorschlag, sonst würden Sie nicht Unwahrheiten erzählen. Sie behaupten nämlich, durch das Gesetz würde die Sicherheit geschmälert. Ich betone zum wiederholten Male in diesem Parlament: nicht mit einer Vorschrift, nicht mit einem Wort! Vielmehr bleibt der komplette Standard an Sicherheitsvorschriften und Sicherheitsmaßnahmen, der jetzt im Atomgesetz mit allen Klagemöglichkeiten und mit allen Verfahren sowie mit allen materiellen Vorschriften enthalten ist, selbstverständlich erhalten. Es wird nichts begrenzt; es wird nichts beschnitten. Alle Sicherheitsvorschriften bleiben zunächst so, wie sie sind. Aber zu den Sicherheitsstandards, die wir haben, kommt eine Stufe von Sicherheitsanforderungen hinzu; diese führen wir zusätzlich ein. Es wird ein über das bisherige Maß der Erforderlichkeit hinausgehender Maßstab zur weiteren Vorsorge gegen Risiken angelegt, mit dem erstmalig eindeutig klargestellt wird, dass dann, wenn sich die Technik und die Wissenschaft auf dem Gebiet der Sicherheit fortentwickeln, diese neuen zusätzlichen Sicherheitserkenntnisse auch als rechtliche Anforderung an den Betrieb von Kernkraftwerken im Einzelfall durchgesetzt werden können. Das ist ein klarer Fortschritt an Sicherheit; das ist mehr Sicherheit. Dies wird allerdings nicht in einem Vertrag, sondern in einem Gesetz geregelt. Das haben Sie in beiderlei Hinsicht nicht zustande gebracht. Das ist die Wahrheit. Sie wollen dieses Gesetz bekämpfen, weil Sie an diesem Punkt gescheitert sind. Sie haben nicht mehr Sicherheit erreicht, sondern Sie haben gedealt. Den Vorwurf kann ich Ihnen nicht ersparen. Wir haben in diesem Vertrag den Aspekt der Sicherheit nicht angesprochen. Das ist der entscheidende Unterschied zu Ihrer damaligen Vereinbarung. Es gibt in dem Vertrag, der allein Regelungen zur Gewinnabschöpfung beinhaltet, keine Limitierung der Sicherheitsanforderungen. Es gibt eine neue, zusätzliche Grundlage für Sicherheitsmaßnahmen. Der eine Reaktorsicherheitsminister, der die Sicherheit verdealt hat, heißt Jürgen Trittin; das muss hier einmal ausgesprochen werden. Sie sind das, was Sie anderen vorwerfen. Das ist die Realität.

Jetzt noch einmal zur Sache. Zum Einstieg möchte ich einen Teil der Falschbehauptungen, die Sie machen, widerlegen. Wir haben gerade wieder über den Ausstieg gesprochen; ich rede jetzt über den Einstieg, über die Ziele, die wir verfolgen. Der Einstieg, den wir vornehmen, dient dazu, die Energiesicherheit und die Klimaverträglichkeit zu steigern sowie die Wachstums- und Wettbewerbspotenziale der Technologien in den Bereichen der erneuerbaren Energien und der Effizienzsteigerung zum Nutzen unseres Landes und des Klimas auszuschöpfen. Wenn man das erreichen will, dann muss man heute handeln. Wenn man heute nicht handelt und weiter Versäumnisse zulässt, wie Sie es getan haben, dann steuert man auf massive Probleme bei der Energieversorgung und der Klimaverträglichkeit zu; das ist völlig klar. Deshalb sind die Ziele anspruchsvoll und ehrgeizig; sie sind aber erreichbar, wenn man heute handelt.

Ich drücke die Ziele, die wir uns setzen, in Zahlen aus: Reduzierung der Treibhausgasemission um 80 bis 95 Prozent bis 2050 in dem Langfristhorizont, in dem man Energiepolitik nur machen kann; Steigerung des Anteils der erneuerbaren Energien an der Stromversorgung auf 80 Prozent; Halbierung des Stromverbrauchs durch mehr Energieeffizienz. Verbesserung der Energieeffizienz um 2,1 Prozent pro Jahr, bezogen auf den gesamten Energieverbrauch. Das sind anspruchsvolle Ziele. Aber wir trauen uns zu, sie mit konsequenter Politik zu erreichen, und zwar in Etappen, die wir einlegen, mit einem Überprüfungsprozess und mit 60 konkreten Maßnahmen beispielsweise zur Finanzierung von Offshore-Windkraftanlagen. Wir werden auch den Ausbau der Onshore-Anlagen vorantreiben.

Allein in diesem Jahr werden wir wahrscheinlich eine Verdopplung der gesamten nationalen Kapazität auf dem Gebiet der Photovoltaik erreichen, und das, nachdem wir die Vergütung reduziert haben, weil die Marktpreise in der Photovoltaik um 40 Prozent gesunken sind. Es kann also überhaupt nicht die Rede davon sein, dass die Branche einbricht, wie Sie es in der Debatte behauptet haben. Die Branche boomt. Wir wollen, dass sie boomt, weil das für die Entwicklung unseres Landes gut ist.

Neben den genannten Maßnahmen haben wir - das ist schon gesagt worden - ein Sofortprogramm mit zehn Punkten finanziell abgesichert. Es wird in einem Jahr umgesetzt. Zur Erreichung der Ziele werden 60 Maßnahmen ergriffen. Dazu bieten wir eine Finanzierung, von der man als Umwelt- und Klimapolitiker nur träumen kann. Das ist ein Erfolg, den ich für nicht möglich gehalten habe, als wir mit den Gesprächen darüber begonnen haben. Der Aufbau beginnt im nächsten Jahr mit einem Betrag von 300 Millionen Euro. Ab 2013 wird verlässlich und langfristig ein Betrag von jährlich rund drei Milliarden Euro für Energiepolitik, Effizienzpolitik und Klimaschutzpolitik zur Verfügung stehen. Das ist ein sensationeller Erfolg. Wir sind stolz, dies erreicht zu haben.

Weil es sich hier um das anspruchsvollste und konsequenteste Umwelt- und Energieprogramm handelt, ist es ein Meilenstein in der Umwelt- und Klimaschutzpolitik in Deutschland. Das vertreten und verteidigen wir. Wir werden es gegen Ihren Neid und Ihre Proteste umsetzen, weil es - das ist unsere Orientierung - gut für unser Land ist.


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Quelle:
Bulletin Nr. 97-2 vom 01.10.2010
Rede des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit,
Dr. Norbert Röttgen, zum Energiekonzept der Bundesregierung
vor dem Deutschen Bundestag am 1. Oktober 2010 in Berlin
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Oktober 2010