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REDE/507: Kanzlerin Merkel zur Eröffnung der Hannover Messe, 6. April 2014 (BPA)


Presse- und Informationsamt der Bundesregierung

Rede von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel zur Eröffnung der Hannover Messe am 6. April 2014 in Hannover:



Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Mark Rutte,
sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,
sehr geehrter Herr Ministerpräsident,
sehr geehrter Herr Grillo,
liebe Frau Wanka,
sehr verehrte Kommissare und Repräsentanten anderer Länder,
meine Damen und Herren,

1947 fand die erste Hannover Messe statt. Damals hieß sie noch Exportmesse. 1950 kamen die ersten ausländischen Aussteller. Seitdem ist viel passiert. Selbst nach 1990, als die Niederlande zum ersten Mal Partnerland waren, hat sich das Gesicht dieser Messe sehr verändert. Wir freuen uns ganz besonders, dass die Niederlande nun zum zweiten Mal Gastland sind.

Lieber Mark, du hast uns soeben die Niederlande in einer derart sympathischen Art vorgestellt und umfassend präsentiert, sodass man geneigt ist, wenn man nicht erst kürzlich dort war, so wie ich beim Nuclear Summit in Den Haag, unbedingt gleich hinzureisen, um auch das zu sehen, was die niederländischen Firmen, die hier ausstellen, von eurem wunderschönen Land nicht zeigen können. Es ist gut, dass ein so guter Nachbar heute in Hannover zu Gast ist. Deutschland schätzt die Niederlande nicht zuletzt als Reiseland. Wir pflegen freundschaftliche Kontakte. Wir haben in der Grenzregion im vergangenen Jahr zum ersten Mal Regierungskonsultationen durchgeführt und werden diese fortsetzen.

Es ist wohl in der Tat so, dass viele Deutsche nicht wissen, dass die Niederlande unser zweitgrößter Handelspartner sind. Wir haben gerade eben, als es darum ging, wie man noch höher und weiter kommen kann und ob die Niederlande unser größter Handelspartner sein sollten, darüber gescherzt, dass wir es uns nicht antun sollten, Frankreich zu überholen. Es ist besser, Frankreich bleibt unser größter und die Niederlande bleiben unser zweitgrößter Handelspartner. Die Niederlande haben mit ihren Exporten nach Deutschland im vergangenen Jahr ein Volumen von fast 90 Milliarden Euro erreicht. Das sind rund 25 Prozent der niederländischen Gesamtausfuhren. Deutschland hat Waren im Wert von über 70 Milliarden Euro in die Niederlande exportiert. Die Niederlande dürften damit eines der wenigen Länder sein, in die wir weniger exportieren, als wir von ihnen importieren.

Ich bin sehr gespannt auf morgen. Wir werden nicht alle der über 200 niederländischen Unternehmen persönlich besuchen können, aber doch einen kleinen Ausschnitt davon. Die Zusammenarbeit ist in vielen Bereichen sehr intensiv. Das passt auch zum Thema "Integrated Industry". Wenn man sich zum Beispiel mit der Digitalwirtschaft in Europa befasst, dann kommt man darauf, dass die Niederlande etliche Fähigkeiten haben, die wir mit deutschen Fähigkeiten zusammentun sollten, um auch Rückstände aufzuholen, die wir, weltweit betrachtet, haben. Die europäischen Fähigkeiten müssen ja in diesem Bereich eher beschleunigt und ausgebaut werden.

Das Thema "Integrated Industry" ist wieder das Leitthema. Wir haben schon im vergangenen Jahr damit begonnen, uns mit der Industrie 4.0 anzufreunden. Das von mir jahrelang als eine eher theoretische Sache gesehene Internet der Dinge bekommt immer mehr ein Gesicht. Das heißt, dass sich die Fabriken in Zukunft selbst organisieren. Doch es wird auch gesagt: Der Mensch wird auch noch gebraucht. Ich glaube das auch. Trotzdem wird es interessant sein, zu sehen, wann sich der erste Betriebsrat einer sich selbst organisierenden Fabrik gründen wird - ohne den Menschen. Man sollte vielleicht die Arbeitsgesetzgebung schon einmal in diese Richtung weiterentwickeln.

In der sogenannten "Smart Factory" tauschen jedenfalls Werkteile und Maschinen selbst Informationen aus. Dadurch kann ein Produktteil eigenständig die nächste Fertigungsstelle ansteuern. Dort angekommen, initiiert es dann selbst den nächsten Bearbeitungsschritt. Das ist für individuelle Produktionen von allergrößter Bedeutung. Man muss nicht wochenlang vorbestellen, man kann sich auch noch schnell anders entscheiden. Insofern liegen die Vorteile intelligenter und voll vernetzter Produktionsprozesse auf dem Tisch. Beispielsweise werden auch die Lagerhaltungskosten verringert werden; die Reaktionsfähigkeit auf Marktschwankungen wird sehr viel besser sein. Von den Designs der Produkte will ich gar nicht erst sprechen, die individuell und auf ganz andere Art und Weise gestaltet werden. Man kann also sagen, dass mit dieser "Integrated Industry" auch das Thema, dass der Mensch seine individuellen Wünsche artikulieren und entsprechend maßgeschneiderte Produkte bekommen kann, an Fahrt gewinnen wird. Das zeigt: Wir müssen an der Schnittstelle von Internet und klassischen Industriebereichen wie dem Maschinenbau weiterarbeiten.

Das heißt auch, dass branchenübergreifend gearbeitet werden muss. Deshalb bin ich sehr froh darüber, dass der ZVEI, der Zentralverband Elektrotechnik- und Elektronikindustrie, der VDMA, der Maschinen- und Anlagenbauverband, und BITKOM die gemeinsame "Plattform Industrie 4.0" gegründet haben. Das war nicht trivial. Deshalb streiche ich das hier noch einmal heraus, mit der herzlichen Bitte: Vertragen Sie sich, seien Sie neugierig auf das, was kommt, und hängen Sie nicht zu sehr an Ihren alten, einzelnen Branchen. Man kann sich ja vorstellen, dass das nicht einfach ist.

Die Bundesregierung möchte zur Seite stehen, weshalb wir die Digitale Agenda für die Zeit von 2014 bis 2017 erarbeitet haben. Sie ist auf der CeBIT vor einigen Wochen vorgestellt worden. Diese Digitale Agenda umfasst vieles von dem, was Herr Grillo angeführt hat, so zum Beispiel auch einen zuverlässigen Breitbandausbau - eine Herausforderung für Deutschland. Wir wollen bis 2018 mindestens 50 Megabit pro Sekunde überall, flächendeckend, in Deutschland haben. Das ist für unser Land besonders wichtig, weil wir eine weit verbreitete mittelständische Wirtschaft haben, die eben nicht nur in den großen Zentren angesiedelt, sondern weit über das Land verteilt ist. Es ist sehr wichtig, dass jeder Mittelständler in Zukunft Zugang zum Breitbandinternet hat. Das hat auch etwas mit Internetsicherheit zu tun und natürlich auch etwas mit den Fähigkeiten.

Ich appelliere auch an die Vertreter Europas, die heute bei uns sind: Wir brauchen einen digitalen Binnenmarkt; wir brauchen eine digitale Agenda; und wir müssen in dem Forschungsprogramm "Horizon 2020" einen Schwerpunkt setzen, weil wir bestimmte Fähigkeiten, von der Produktion von Routern bis hin zu Chips und der Integration von Chips wiederum in die Software, nicht mehr als einzelne Länder erlangen werden. Vielmehr brauchen wir hierbei einen europäischen Zusammenschluss. Ich glaube, die Niederlande und Deutschland werden zum Beispiel auch gemeinsam mit Großbritannien, das dies auf der CeBit nochmals deutlich gemacht hat, großen Wert hierauf legen.

Zudem ist es wichtig - Herr Grillo hat das auch gesagt -, die Energiewende berechenbar und zuverlässig zu gestalten. Es wird oft übersehen, dass gerade auch im IKT-Bereich sehr energieintensive Produktionen vonnöten sind. Aber auch für die gesamte klassische Industrie ist ein berechenbarer Strompreis von großer Wichtigkeit. Sie kennen die Rahmenbedingungen, die wir aus deutscher Sicht für die Energiewende beschließen können. Wir werden den Kostenanstieg, die Kostendynamik der EEG-Umlage, in den nächsten Jahren stark dämpfen. Ich sage nicht, dass es billiger wird, aber wir werden den Kostenanstieg dämpfen. Und wir werden auch - auf europäischen Druck hin; aber diesen Druck halte ich für richtig - im Jahr 2017 zu Ausschreibungen für erneuerbare Energien und damit zu mehr Berechenbarkeit kommen und sicherlich auch dem europäischen Energiemarkt ein Stück weit näher rücken. Wir sind jetzt in den Verhandlungen mit der Europäischen Kommission über die notwendigen Ausnahmeregelungen für unsere energieintensiven Bereiche. Wir müssen weltmarktfähig bleiben. Und wir müssen bei den verschiedenen Energiepolitiken in Europa wettbewerbsfähig bleiben. Darüber wird intensiv gesprochen. Ich hoffe, dass wir zu guten Ergebnissen kommen.

Ich weiß, dass ein wichtiger Standortfaktor die Innovationsfähigkeit ist. Wir haben gerade gelernt, dass die Niederländer finden, dass wir Deutsche zwar planungssicher, aber nicht ganz so kreativ sind. Ich habe die Spitze verstanden. Wir werden auch an unserer Flexibilität arbeiten. Insofern ist es aber sehr wichtig, dass wir auch unsere Forschungsausgaben berechenbar gestalten. Wir haben in den Koalitionsvereinbarungen der Großen Koalition festgelegt, dass weiterhin drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Forschung und Innovation ausgegeben werden. Daran trägt die Industrie einen großen Anteil. Aber auch der staatliche Anteil von Bund und Ländern in Höhe eines Drittels soll berechenbar hinzukommen, sodass wir diese drei Prozent wirklich erreichen können. Wir sind ganz knapp davor. Aber wenn wir Wirtschaftswachstum haben - das wollen wir ja -, dann müssen wir jedes Jahr unsere Ausgaben entsprechend steigern und auch so anlegen, dass daraus praxisrelevante Produkte entstehen können.

Sie sehen, dass wir in Deutschland insgesamt dabei sind, unsere Weltmarktposition weiterhin zu erhalten. Die Politik versucht, dabei nicht zu sehr im Wege zu stehen beziehungsweise förderlich zu wirken. Herr Grillo hat heute auf gegebenenfalls kontroverse Themen höflicherweise nicht Bezug genommen, aber sie sind mir trotzdem jederzeit im Kopf. Ich weiß - das wissen auch die Niederlande; und das zeichnet auch unsere bilaterale Arbeit in Europa aus -, dass wir einem unglaublichen Wettbewerbsdruck von Ländern außerhalb Europas ausgesetzt sind. 90 Prozent des Wachstums in der Welt werden heute außerhalb Europas erzielt. Wir hatten anlässlich des Nuclear Summit viele Besucher aus anderen Kontinenten. Ob man mit der südkoreanischen Präsidentin spricht oder mit dem chinesischen Präsidenten oder verfolgt, was in den Vereinigten Staaten von Amerika passiert, dann weiß man: Überall schlafen die Menschen nicht etwa, sondern sind extrem kreativ, extrem innovativ. Insofern müssen wir uns sputen und alles dafür tun, dass wir unseren Mehrwert aus der europäischen Einigung und aus dem europäischen Binnenmarkt wirklich nutzen.

Ich freue mich, dass wir heute auch amerikanische Gäste haben, die uns immer daran erinnern: Die größten Binnenmärkte der Welt, der europäische und der der Vereinigten Staaten von Amerika, sollen zusammenkommen. Schauen wir uns einmal an, wie viele Freihandelsabkommen Europa geschlossen hat - übrigens inklusive eines Freihandelsabkommens mit Kanada -, und wie viele Freihandelsabkommen die Vereinigten Staaten von Amerika im asiatischen Bereich geschlossen haben - auch wir mit Südkorea; wir verhandeln mit Japan; wir stehen mit Indien kurz davor. Angesichts dessen sollten diese beiden großen Wirtschaftsräume, die auch wertemäßig sehr stark miteinander verbunden sind, nicht in der Lage sein, ein Freihandelsabkommen zu schließen? Das wäre eigentlich ein Treppenwitz der Weltgeschichte.

Natürlich hängen wir an unseren Standards. Das tun die Amerikaner genauso wie wir. Aber wir sollten uns soweit einen Ruck geben, dass wir ohne Aufgabe der Standards das zusammenbringen, was zusammengehört. Deshalb werde ich mich - genauso wie mein Kollege Mark Rutte - intensiv dafür einsetzen, dass wir ein transatlantisches Freihandelsabkommen erreichen. Wir hoffen auf kooperative Verhandlungen mit den Vereinigten Staaten von Amerika.

Es wird auch dieses Mal wieder spannend. Die Hannover Messe ist nicht umsonst die größte Industriemesse der Welt. Ich bin mir ganz sicher, sie wird mit dem Thema Industrie 4.0 auch in diesem Jahr ihrem Ruf wieder alle Ehre machen. Ich freue mich auf den Rundgang morgen und darf jetzt sagen: Die Hannover Messe 2014 ist eröffnet.

Viel Erfolg allen Ausstellern, viel Erfolg den Vertretern aller Länder, die zu Gast sind. Alles Gute und uns viel Freude an vielen Innovationen.

*

Quelle:
Bulletin 39-1 vom 6. April 2014
Rede von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel zur
Eröffnung der Hannover Messe am 6. April 2014 in Hannover
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. April 2014