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PROZESS/005: Bedrohte Anwälte - systemisch und dem Recht zum Trotz (DAV/RAV)


Deutscher Anwaltverein (DAV) - Berlin, 4. April 2013

Fortsetzung der Hauptverhandlung im Strafverfahren gegen Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte in der Türkei

DAV und RAV sehen anwaltliche Unabhängigkeit in Gefahr



Berlin (DAV/RAV). Am 28. März 2013 wurde die Hauptverhandlung im sogenannten KCK-Verfahren gegen 46 Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte in der Türkei fortgesetzt. Anklagevorwurf ist bei drohenden Haftstrafen von bis zu 22 Jahren die angebliche Mitgliedschaft in der Union der Gemeinschaft Kurdistans (KCK). Dieser Vorwurf knüpft nahezu ausschließlich an deren anwaltliche Tätigkeiten an. Zudem werden grundlegende Verfahrensrechte missachtet. Die Verfahren werden daher international kritisiert. Der Deutsche Anwaltverein (DAV), der Republikanische Anwältinnen- und Anwälteverein (RAV) und die Vereinigung Berliner Strafverteidiger waren mit Prozessbeobachtern vor Ort.

Seit Beginn des Prozesses im Juli 2012 wurde das Verfahren bereits dreimal unterbrochen. Die Untersuchungshaft wird durch diese Verzögerungen in unzulässiger Weise verlängert. Dadurch befinden sich 22 von den betroffenen Anwältinnen und Anwälten seit bereits fast 500 Tagen in Untersuchungshaft.

Das Gericht verhandelt lediglich alle drei Monate für nur einen Tag. "Die angeklagten Kolleginnen und Kollegen mussten sich bei ihren Erklärungen zur Sache kurz fassen, damit die anderen Angeklagten überhaupt noch zu Wort kommen konnten. Nur 21 der 46 Angeklagten konnten sich äußern", berichtet Rechtsanwältin Gül Pinar, die für den DAV vor Ort war. Die Verteidigung eines jeden Einzelnen werde dadurch unangemessen beschränkt. Zudem werde das Beschleunigungsgebot nicht eingehalten.

Bei Razzien in verschiedenen türkischen Städten im Januar 2013 wurden weitere 15 Anwältinnen und Anwälte festgenommen und angeklagt, von denen 9 noch inhaftiert sind. Einige von ihnen hatten zuvor Kollegen im KCK-Verfahren verteidigt. Den im Januar Festgenommenen wird ihre berufliche Tätigkeit im Rahmen der sog. Anti-Terror-Gesetze ebenso zum Vorwurf gemacht, wie den angeklagten Anwältinnen und Anwälten in den KCK-Verfahren. Inzwischen besteht die Sorge, dass weitere Verhaftungen von Anwältinnen und Anwälten folgen.

"Der Angriff auf die Anwaltschaft wird mit beängstigender Systematik und Konsequenz geführt. Es scheint, dass die gesamte politische Opposition durch die Ausschaltung ihrer Verteidigung rechtlos gestellt werden soll", so Rechtsanwältin Franziska Nedelmann, die für den RAV das Verfahren in Silviri beobachtete.

DAV, RAV und die Vereinigung Berliner Strafverteidiger haben zusammen mit Anwaltsorganisationen aus der ganzen Welt eine Petition unterzeichnet. Mit dieser wird die Beendigung der Untersuchungshaft der inhaftierten Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte gefordert. Die türkische Regierung wird aufgefordert, sicherzustellen, dass Anwältinnen und Anwälte in der Türkei ungehindert ihrer beruflichen Tätigkeit nachgehen können. Die Petition wurde am 29. März 2013 an die türkische Regierung übergeben und kann abgerufen werden unter:
http://www.advocatenvooradvocaten.nl/wp-content/uploads/petition29March2013-1.pdf

DAV, RAV und die Vereinigung Berliner Strafverteidiger beobachten das Verfahren in der Türkei. Als Prozessbeobachterinnen waren Rechtsanwältin Gül Pinar, Mitglied des DAV-Ausschusses Strafrecht, und Rechtsanwältin Antonia von der Behrens, RAV, vor Ort.

Quelle:
Pressemitteilung Nr. 11/13 vom 4. April 2013
Deutscher Anwaltverein (DAV)
Pressesprecher Swen Walentowski
PR-Referat
Littenstraße 11, 10179 Berlin
Tel.: 0 30/72 61 52 - 129, Fax: 0 30/72 61 52 - 193
E-mail: walentowski@anwaltverein.de
Internet: www.anwaltverein.de

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Pressemitteilung des Republikanischen Anwältinnen- und Anwältevereins (RAV)
und der Vereinigung Berliner Strafverteidiger
Berlin, 4. April 2013

Anwaltschaft in Gefahr: Die Verteidigung der Verteidigung in Haft

Fortsetzung des Großverfahrens gegen 46 Anwältinnen und Anwälte in der Türkei


Am 28. März 2013 fand der 6. Verhandlungstag in dem Massenverfahren (sog. KÇK-Verfahren) gegen 46 überwiegend kurdische AnwältInnen in Silivri bei Istanbul statt. Aus Deutschland waren VertreterInnen des RAV, des DAV (1) und der Berliner Strafverteidigervereinigung anwesend, die das Verfahren als Teil der internationalen Delegation, bestehend aus 41 AnwältInnen verschiedener Anwaltskammern und -organisationen, beobachteten. Es war ein historischer Tag: Zum ersten Mal konnten sich die angeklagten KollegInnen vor Gericht auf Kurdisch - ihrer Muttersprache - verteidigen. Möglich war dies durch ein erst im Februar dieses Jahres in Kraft getretenes Gesetz, welches erstmals in der Geschichte der Türkischen Republik - wenn auch eingeschränkt - die Verteidigung in der Muttersprache der Angeklagten zuließ, unabhängig vom Vorhandensein türkischer Sprachkenntnisse.

Überschattet wurde dieser historische Moment durch die Abwesenheit von neun der VerteidigerInnen der angeklagten KollegInnen. Sie waren am 18. Januar 2013 im Rahmen einer Großrazzia verhaftet worden. Hintergrund ist ein weiteres Verfahren gegen die Anwaltschaft: Dieses Mal richtet es sich gegen 16 Mitglieder des Zeitgenössischen Anwaltsvereins (ÇHD). Den im Januar Festgenommenen wird ihre berufliche Tätigkeit im Rahmen der Anti-Terror-Gesetze ebenso zum Vorwurf gemacht (2), wie auch den angeklagten KollegInnen in dem beobachteten sog. KÇK-Verfahren.

Inzwischen besteht die begründete Sorge in der Anwaltschaft, dass weitere Verhaftungen von AnwältInnen folgen werden: Ende Januar 2013 wurde Anklage gegen den Präsidenten der Istanbuler Anwaltskammer, Dr. Ümit Kocasakal, erhoben. Ihm wird Behinderung der Justiz vorgeworfen, weil er sich im Namen der Kammer für die Durchsetzung von Verteidigungsrechten in einem der sogenannten Ergenekon (nationalistischen Untergrundorganisation)-Verfahren eingesetzt hatte. Zwei weitere Ermittlungsverfahren laufen gegen den gesamten Kammervorstand.

"Der Angriff auf die Anwaltschaft wird mit einer beängstigenden Systematik und Konsequenz geführt. Es scheint, dass die gesamte politische Opposition durch die Ausschaltung ihrer Verteidigung rechtlos gestellt werden soll", so Rechtsanwältin Franziska Nedelmann, die das Verfahren in Silivri für den RAV beobachtete.

Dass die Vorwürfe ausschließlich an ihre berufliche Tätigkeit anknüpfen, legten die angeklagten KollegInnen nach 17 Monaten Untersuchungshaft an diesem 6. Hauptverhandlungstag im Rahmen ihrer Einlassung dar. Auf die Frage des Gerichts an einen der anklagten Kollegen, ob dieser in der verbotenen KCK tätig gewesen sei, antwortete er: "Wenn ich einer Organisation angehöre, dann ist es die Anwaltskammer, meine Waffen sind Stift und Zunge".

Unhaltbar sind zudem die verfahrensrechtlichen Verstöße gegen das Beschleunigungsgebot und das Begründungserfordernis, die das Verteidigungsrecht der KollegInnen erheblich einschränken. Das Gericht verhandelt lediglich alle drei Monate für nur einen Tag. Dies führte an diesem Verhandlungstag dazu, dass sich die angeklagten KollegInnen bei ihren Erklärungen zur Sache kurz fassen mussten, damit auch die anderen Angeklagten überhaupt noch zu Wort kommen konnten. Nur 21 der 46 Angeklagten konnten sich äußern. Das Gericht vertagte sich auf den 20. Juni 2013 und verschonte drei Kollegen und eine Kollegin von der Untersuchungshaft. Eine Begründung dieser Entscheidung erfolgte - wie auch die letzten Male - nicht, obwohl die türkische Strafprozessordnung dies zwingend vorsieht. Für die internationale Beobachtungsdelegation ist daher vollkommen unklar, warum nicht alle Angeklagten haftverschont wurden.

Allein in diesem Verfahren befinden sich weiterhin 22 AnwältInnen und jetzt auch 9 ihrer VerteidigerInnen in Untersuchungshaft.

Mit der Kriminalisierung der Verteidigung werden rechtsstaatliche Grundprinzipien ad absurdum geführt. Gemäß Artikel 16 der "UN-Grundprinzipien betreffend die Rolle der Rechtsanwälte" vom 7. September 1990 hat der Staat sicherzustellen, dass Anwältinnen und Anwälte in der Lage sind, alle ihre beruflichen Aufgaben ohne Einschüchterung, Behinderung, Schikanen oder unstatthafte Beeinflussung wahrzunehmen.

Die internationale Delegation hat ihre Forderungen nach Einhaltung dieser UN-Grundprinzipien und Freilassung der inhaftierten KollegInnen dem türkischen Justizministerium in einer Petition am 29. März 2013 zur Kenntnis gebracht (3). Eine Reaktion der türkischen Regierung erfolgte bisher nicht.

Berlin, 4. April 2013


Anmerkungen

(1) Vgl. auch:
http://anwaltverein.de/interessenvertretung/pressemitteilungen/pm-1113?PHPSESSID=0fq3vb0se4s5iaeo7n3qjpjki1

(2) Vgl. PE vom 25.01.2013:
http://anwaltverein.de/interessenvertretung/pressemitteilungen/pm-0313bzw.
http://www.rav.de/publikationen/mitteilungen/mitteilung/erneute-massenverhaftung-von-rechtsanwaeltinnen-und-rechtsanwaelten-in-der-tuerkei-281/page1/

(3) http://www.advocatenvooradvocaten.nl/wp-content/uploads/petition29March2013-1.pdf

Quelle:
Pressemitteilung vom 4. April 2013
Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein e. V.
Haus der Demokratie und Menschenrechte
Greifswalder Straße 4 | 10405 Berlin
Telefon +49 (0)30 417 235 55 | Fax +49 (0)30 417 235 57
E-Mail: kontakt@rav.de
Internet: www.rav.de

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Quelle:
Pressemitteilungen vom 4. April 2013
Deutscher Anwaltverein (DAV)
Internet: www.anwaltverein.de
Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein e. V.
Internet: www.rav.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 6. April 2013