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FRAGEN/001: Interview mit Karl Joachim Hemeyer, Experte für Sitzblockaden (.ausgestrahlt)


.ausgestrahlt / gemeinsam gegen atomenergie - Rundbrief 10 / Herbst 2010

"Eine dramatische Form bürgerlicher Aktion"

Karl Joachim Hemeyer, Rechtsanwalt und Experte für Sitzblockaden, über das Recht auf politische Beteiligung und die subtile Wirkung von zivilem Ungehorsam

Interview von Armin Simon


Frage: Herr Hemeyer, im Grundgesetz heißt es: "Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln". Warum ist das ein Grundrecht?

Karl Joachim Hemeyer: Das ist die Grundlage der Demokratie. Die Versammlungsfreiheit hängt eng zusammen mit der Meinungsfreiheit. Das Bundesverfassungsgericht hat das im berühmten Brokdorf-Beschluss von 1985 plastisch ausgedrückt: Versammlungen dienen dazu, an Ort und Stelle "im eigentlichen Sinne des Wortes Stellung zu nehmen". Deswegen benötigt man auch keine Genehmigung oder Erlaubnis, um zu demonstrieren. Die Wahrnehmung der Versammlungsfreiheit im Rahmen eines zivilen Widerstands gegen staatliche Entscheidungen ist aus meiner Überzeugung ein Menschenrecht.

Frage: Ziviler Widerstand? Was meinen Sie damit?

Karl Joachim Hemeyer: Eine kollektive Meinungskundgabe oder kollektives politisches Handeln mit verschiedenen - auch sehr kreativen - Aktionsformen gegen eine politische Entscheidung, die als nicht sinnvoll oder sogar als gefährlich angesehen wird. Dies ist auch nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts ein notwendiges Korrektiv - gerade auch im Rahmen des demokratischen Systems. Es gibt den Politikern die Möglichkeit, ihre Entscheidungen zu überprüfen. Das Recht auf Beteiligung beschränkt sich nicht auf das Wahlrecht alte vier Jahre.

Frage: Anfang November wird der nächste Castor-Transport ins Wendland rollen. Tausende werden demonstrieren, viele sich dem Castor auch direkt in den Weg setzen. Fällt das auch noch unter zivilen Widerstand?

Karl Joachim Hemeyer: Wenn Bürgerinnen und Bürger ihr politisches Beteiligungsrecht wahrnehmen durch eine umfassende Demonstration, dann ist das zulässig - auch gegen die Transporte. Aber jeder muss selbst entscheiden, ob und wie weit er etwa auch an einer Blockade teilnehmen will. Zivile Aktion - früher hat man ziviler Ungehorsam dazu gesagt - ist immer ein Bestandteil des größeren zivilen Widerstands. Das ist kein Unterschied, sondern das sind die Leute innerhalb der großen Gruppe von DemonstrantInnen, die sich entscheiden, in der Gewissensbetätigung ein Stück weiter zu gehen - aus übergeordneten Motiven und mit guten Argumenten. Dass jemand für sich persönlich verantwortlich sagt: "Ich tue konkret etwas, um diesen Transport zu verhindern", dass er eine persönliche Gewissensentscheidung trifft, das ist eine dramatische Form bürgerlicher, ziviler Aktion.

Frage: ...die aber einen Gesetzesbruch in Kauf nimmt.

Karl Joachim Hemeyer: Nein, für mich ist das kein Gesetzesbruch. Aber man nimmt eine Ordnungswidrigkeit oder eine strafrechtliche Verfolgung in Kauf, weil die Staatsanwaltschaft und die Ordnungsbehörden es als Gesetzesbruch ansehen könnten und deshalb eine Bestrafung möglich ist. Es ist insofern eine kalkulierte und begrenzte Selbstgefährdung. Leute, die sich zu solchen Aktionen entscheiden, sind für mich so etwas wie alternative Repräsentanten. Sie tragen nicht nur symbolisch, sondern gleichzeitig konkret einen kleinen Teil zur Verhinderung größeren Unrechts bei.

Frage: Bisher hat noch jeder Castor-Transport am Ende sein Ziel erreicht.

Karl Joachim Hemeyer: Natürlich kann ein Einzelner nichts verhindern. Das ist ein langwieriger Prozess. Aber wenn bei jedem Transport mit großen Demonstrationen und derartigen Gewissensbetätigungen zu rechnen ist, dann steht die Frage im Raum, ob und wie weit es eigentlich legitim sein kann, auf Dauer derartige Transporte mit den Mitteln des Strafrechts zu schützen. Im Rahmen großer ziviler Widerstandsaktionen hat dies in der Vergangenheit viel, zur Veränderung beigetragen.

Frage: Zum Beispiel?

Karl Joachim Hemeyer: In den 1980ern etwa wurden Tausende verurteilt, weil sie u.a. das Atomraketen-Depot in Mutlangen blockiert hatten. Irgendwann sprach ein Richter, der bislang immer verurteilt hatte, einen Angeklagten frei. Er begründete das damit, dass inzwischen "nicht nur einige Hundert, sondern Tausende - in aller Regel unbescholtene - Bürger mit weit überwiegend gewichtigen und ernsthaften Argumenten an derartigen Blockaden teilnehmen und wegen ihrer Tat vor Gericht gestellt werden wollen, um den Vorwurf verwerflichen Tuns zu entkräften.


Frage: Zivile Aktion erzeugt also politischen und juristischen Druck?

Karl Joachim Hemeyer: Sie erzeugt einen Gewissensdruck auf die Verantwortlichen. Es geht um gewaltfreies Tun, einen ständigen Appell gegenüber dem sogenannten politischen Gegner, den ich aber als Menschen mit eigenem Gewissen ansehe. Das ist ganz wichtig, dieser Respekt vor dem anderen! Davon auszugehen, dass Menschen sich ändern können: Darauf beruht die subtile Wirkung des zivilen Ungehorsams.


Karl Joachim Hemeyer ist Rechtsanwalt in Tübingen. 1990 und 1955 erstritt er mit anderen Anwälten vor dem Bundesverfassungsgericht den Beschluss, wonach eine Sitzblockade nicht mehr ohne Weiteres als Nötigung verurteilt werden darf.


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Quelle:
Rundbrief 10, Herbst 2010
Herausgeber: .ausgestrahlt
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E-Mail: info@ausgestrahlt.de
Internet: www.ausgestrahlt.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Oktober 2010