Schattenblick →INFOPOOL →RECHT → FAKTEN

GRUNDGESETZ/112: Religiös-weltanschauliche Neutralität des säkularen Rechtsstaats (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 4/2011

Religiös-weltanschauliche Neutralität des säkularen Rechtsstaats
Verständnisse und Missverständnisse eines Verfassungsprinzips

Von Heiner Bielefeldt


Der Begriff der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates hat immer wieder Anlass für Missverständnisse gegeben. Wichtig ist deshalb zunächst die Klarstellung, dass die religiös-weltanschauliche Neutralität des Rechtsstaates keine generelle "Wertneutralität" meint, sondern vielmehr eine "Nicht-Identifizierung" unter der Prämisse der menschlichen Freiheit.


Es geht nicht etwa um den abstrakten Neutralismus eines normativ ungebundenen Staates, der sich nur noch funktional als Regelungs- und Versorgungsinstanz versteht, wie dies in der konservativen Säkularitätskritik oft unterstellt worden ist. Vielmehr ergibt sich die religiös-weltanschauliche Neutralität des Rechtsstaats aus der Achtung gegenüber einem zentralen Verfassungswert: dem Menschenrecht der Religions- und Weltanschauungsfreiheit.

Worin aber besteht positiv der Zusammenhang zwischen Religionsfreiheit und Neutralitätsprinzip? Die Religions- und Weltanschauungsfreiheit hat, wie dies für alle Menschenrechte gilt, den Anspruch diskriminierungsfreier Gewährleistung. Sie steht allen Menschen gleichermaßen zu. Dieser Anspruch auf Gleichberechtigung unterscheidet den menschenrechtlichen Ansatz von den verschiedenen Varianten bloßer Toleranzpolitik in Religionsfragen.

Ein Staat, der seine Bindung an die Rehigions- und Weltanschauungsfreiheit einschließlich des darin enthaltenen Gleichberechtigungsanspruchs ernst nimmt, ist in dem Sinne neutral, dass er sich nicht mit einer bestimmten religiösen oder weltanschaulichen Tradition auf Kosten der Angehörigen anderer Überzeugungen identifizieren darf. Die gebotene "NichtIdentifizierung" folgt gleichsam aus dem menschenrechtlichen Strukturprinzip der "Nicht-Diskriminierung". Sie ist zugleich Ausdruck des Respekts vor der Freiheit der Menschen, sich in Fragen von Religion und Weltanschauung selbst zu orientieren. Gleichzeitig trägt der Staat für die Ermöglichung der Freiheit, und zwar der gleichen Freiheit aller, grundlegende politisch-rechtliche Verantwortung, die ihrerseits durch die gemeinschaftlich wahrgenommene freie Selbstbestimmung der Rechtsunterworfenen - d.h. demokratisch - legitimiert ist. Deshalb beansprucht er für das von ihm gesetzte säkulare Recht einen praktischen Geltungsvorrang, der ggf. auch gegenüber konkurrierenden Vorstellungen religiösen Rechts durchgesetzt werden muss.

Gegen den Einwand, der Neutralitätsanspruch sei unrealistisch oder diene gar zur Verschleierung faktischer Privilegierungen, ist einzuräumen, dass der Neutralitätsbegriff nicht unmittelbar zur Beschreibung der politischen Wirklichkeit taugt; denn man wird leicht Beispiele dafür finden können, dass der Staat unterschiedliche Grade von Nähe, Kooperation und Distanz zu den verschiedenen Religionsgemeinschaften aufweist und sich somit faktisch nicht neutral verhält.

Der Sinn des Neutralitätsbegriffs besteht indessen darin, dass er die Möglichkeit schafft, die diskriminierenden Konsequenzen bewusster oder nicht-bewusster de facto-Identifikationen des Staates mit bestimmten Religionsgemeinschaften aufzudecken und Veränderungen in Richtung echter Gleichberechtigung anzumahnen. Insofern macht der Begriff der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates nicht als deskriptives, sondern nur als kritisch-normatives Konzept Sinn. Ihn preiszugeben oder im Gestus der Entlarvung zu diskreditieren hieße, sich einer Berufungsgrundlage zur Artikulation von Gleichberechtigungsforderungen zu berauben.


Religionsgemeinschaften in der Öffentlichkeit

Die Religions- und Weltanschauungsfreiheit beschränkt sich nicht auf das forum internum des Einzelnen; sie erstreckt sich darüber hinaus auch auf die gemeinschaftliche religiöse Praxis sowie öffentliche Manifestationen religiöser bzw. weltanschaulicher Überzeugungen. Öffentlichkeit meint dabei mehr als nur die allgemeine gesellschaftliche Öffentlichkeit, in der sich Religionsgemeinschaften sichtbar präsentieren können, indem sie beispielsweise durch den Bau von Gotteshäusern - darunter heute auch repräsentativen Moscheen - den öffentlichen Raum mitgestalten. Sie schließt die politische Öffentlichkeit ein. Die von der Religionsfreiheit her entwickelte Säkularität des Rechtsstaats hat deshalb mit einer von Staats wegen forcierten "Privatisierung" des Religiösen nichts gemein.

Wenn aber die Religionsfreiheit auch öffentliche und im weiteren Sinne des Wortes politische Aktivitäten der Religionsgemeinschaften umfasst, so folgt daraus, dass die gängige Formel von der Trennung zwischen Religion und Politik zu kurz greift. Richtig ist, dass die Religionsfreiheit eine institutionelle Trennung von Religion und Staat verlangt.

In einer freiheitlichen Demokratie hat der Staat aber gerade nicht das Monopol des Politischen inne, sondern ist seinerseits zurückgebunden an den öffentlich-politischen Diskurs in der Zivilgesellschaft, an dem sich auch die Religionsgemeinschaften beteiligen können (vgl. Jürgen Habermas: Religion in der Öffentlichkeit). Das gern verwendete Schlagwort von der "Trennung von Religion und Politik" wäre deshalb, wollte man es wörtlich nehmen, letztlich eine Absage an ein freiheitliches Politikverständnis: Es impliziert entweder eine Entpolitisierung der Gesellschaft oder eine erzwungene Privatisierung der Religion (oder auch beides), in jedem Fall aber eine Einschränkung politisch-rechtlicher Freiheit.

Das Prinzip der respektvollen Nicht-Identifikation schließt im Übrigen auch Kooperationen zwischen Staat und Religionsgemeinschaften, wie sie beispielsweise für den Religionsunterricht an staatlichen Schulen (mit Ausnahme einiger Bundesländer) vorausgesetzt werden, keineswegs aus. Nicht-Identifikation ist nicht mit Beziehungslosigkeit gleichzusetzen. Auch der säkulare Rechtsstaat hat die Möglichkeit, ja die Aufgabe, sich zu Fragen der Religion und Weltanschauung aktiv zu verhalten; allerdings - und dies ist entscheidend - steht staatliches Handeln dabei nicht unter dem Vorzeichen, religiöser Wahrheit zur Anerkennung zu verhelfen, sondern geschieht unter dem Anspruch, religiöse und weltanschauliche Freiheit der Menschen nach Maßgabe der Gleichberechtigung aller zu fördern.

Eine Quelle für manche Verwirrung besteht darin, dass unter dem Begriff des Säkularen auch seinerseits umfassende weltanschauliche Orientierungen artikuliert worden sind - nach Beispiel etwa der "Secular Society", die um die Mitte des 19. Jahrhunderts in England gegründet worden ist und sich der öffentlichen Durchsetzung eines wissenschaftlichen Weltbildes verschrieben hat. Anhängerinnen und Anhänger eines so verstandenen weltanschaulichen Säkularismus haben selbstverständlich das Recht darauf, gleichberechtigt in den Genuss der Religions- und Weltanschauungsfreiheit zu kommen. Dies schließt die Möglichkeit zu politischem Engagement ein, in dem sich der weltanschauliche Säkularismus als gesellschaftliche Kraft darstellen und mit seinen ethischen Prinzipien politische Debatten mitgestalten kann.

Die Grenze legitimen Engagements wäre allerdings überschritten, wenn der Versuch gemacht würde, den Staat auf ein säkularistisches Glaubensbekenntnis zu verpflichten. Denn ein säkularistischer Konfessionsstaat würde das Prinzip der respektvollen Nicht-Identifikation verletzen und stünde damit - nicht weniger als ein religiöser Konfessionsstaat - im Gegensatz zur gebotenen religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates.


Die Gefahr kulturgenetischer Vereinnahmungen

Erosionsgefahren für die Säkularität des Rechtsstaats drohen in den westeuropäischen Staaten derzeit weniger im Namen der Religion als vielmehr im Namen der Kultur. Während in Deutschland keine ernstzunehmende politische Kraft an die Restauration eines religiösen Bekenntnisstaates denkt, gibt es durchaus starke Tendenzen, den Staat als Kulturstaat auf die vorrangige Pflege bestimmter religiöser, nämlich insbesondere christlicher Traditionen zu verpflichten. Solche Projekte stützen sich u.a. auf das Argument, der religiös-weltanschaulich neutrale Rechtsstaat sei als solcher das Produkt einer bestimmten, nämlich durch das Spannungsfeld von Christentum und Aufklärung geprägten "westlichen" Kulturentwicklung und an deren religionshistorische und kulturhistorische Voraussetzungen substanziell gebunden.

Gegen die kulturgenetische Vereinnahmung des religiös-weltanschaulich neutralen säkularen Rechtsstaats zu einem exklusiven Erbe des Abendlands sprechen allerdings historische und systematische Gesichtspunkte. Gegen etwaige Vorstellungen, der säkulare Rechtsstaat habe sich gleichsam organisch aus bestimmten "Wurzeln" der europäischen Kultur heraus entwickelt, sei daran erinnert, dass die rechtsstaatliche Säkularität in langwierigen politischen Auseinandersetzungen durchgesetzt werden musste (wie dies für die Menschenrechte generell gilt).

Der in der Religionsfreiheit begründete säkulare Rechtsstaat ist nicht das Produkt einer organischen Entfaltung spezifischer kultureller Potenziale des Abendlandes, sondern das Ergebnis einer komplizierten Lerngeschichte in der Auseinandersetzung mit dem irreversiblen religiösen und weltanschaulichen Pluralismus moderner Gesellschaften. Diese Lerngeschichte ist, wie die aktuellen Schwierigkeiten im Umgang mit neuen religiösen Minderheiten zeigen, auch in Europa noch nicht abgeschlossen.

Die im Rahmen solcher Lernprozesse erarbeiteten Einsichten auf die Angehörigen bestimmter Traditionen zu beschränken, wäre weder historisch plausibel noch sachlich legitim. Vielmehr drängt die universalistische Grundlegung des säkularen Rechtsstaats durch das Menschenrecht auf Religions- und Weltanschauungsfreiheit danach, die kulturalistische Verdinglichung des Säkularitätsprinzips zu einem exklusiv abendländischen oder christlichen Modell aufzubrechen.


Heiner Bielefeldt (* 1958) ist Philosoph, Theologe und Historiker. Er ist Inhaber des Lehrstuhls für Menschenrechte und Menschenrechtspolitik der Universität Erlangen-Nürnberg und UN-Sonderberichterstatter für Religionsfreiheit.
heiner.bielefeldt@polwiss.phil.uni-erlangen.de


*


Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 4/2011, S. 24-27
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Siegmar Gabriel,
Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer und Peter Struck
Redaktion: c/o Friedrich-Ebert-Stiftung Berlin
Hiroshimastraße 17, 10785 Berlin
Telefon: 030/26 935-71 51, -52, -53
Telefax: 030/26 935-92 38
ng-fh@fes.de
www.ng-fh.de

Die NG/FH erscheint monatlich, wobei die Hefte 1+2
und 7+8 im Januar bzw. Juli als Doppelheft erscheinen.
Einzelheft: 5,50 Euro zzgl. Versand
Doppelheft: 10,80 Euro zzgl. Versand
Jahresabonnement: 50,60 Euro frei Haus


veröffentlicht im Schattenblick zum 27. April 2011