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DILJA/153: Das Varvarin-Urteil ebnet deutscher Kriegsjustiz den Weg (SB)


Das Varvarin-Urteil ebnet deutscher Kriegsjustiz den Weg


Staatshaftung. Ein juristischer Begriff, der so staubtrocken daherkommt, daß jeder Mensch, der seine fünf Sinne noch beisammen hat, ihn getrost juristischen Fachzirkeln überlassen wird. Staatshaftung bedeutet im Prinzip, daß der Staat, so einer seiner Beamten oder Bevollmächtigten eine Amtspflicht schuldhaft verletzt hat, gegenüber Dritten für die daraus resultierenden Schäden haftbar gemacht werden kann. Im deutschen Recht ist ein solches Konstrukt durchaus vorgesehen, und so ließen sich die Opfer und Hinterbliebenen des NATO-Bombenangriffs auf die serbischen Kleinstadt Varvarin vom 30. Mai 1999 dazu verleiten, auf zivilrechtlichem Wege die Bundesrepublik Deutschland stellvertretend für die NATO auf Schadenersatz zu verklagen.

"Viele Menschen wollen auch heute noch wissen, wie Prinzessin Diana umgekommen ist, ich will wissen, warum mein Kind sterben mußte", so Vesna Milenkovic, eine Klägerin, deren 15jährige Tochter Sanja bei dem von zwei F-16-Kampfflugzeugen durchgeführten Angriff auf eine kleine Brücke, in deren unmittelbarer Nähe sich viele Menschen wegen des Festes der Heiligen Dreifaltigkeit aufhielten, starb. Sie ist das jüngste von insgesamt zehn Todesopfern, weitere 30 Menschen, allesamt Zivilisten, wurden zum Teil sehr schwer verletzt. "Uns geht es um Gerechtigkeit und auch darum, daß die Verantwortlichen benannt werden. Meine Tochter kann niemand ersetzen", erläuterte Sanjas Mutter die Gründe, die sie wie weitere Opfer und Hinterbliebene bewogen haben, in der Bundesrepublik Deutschland den gerichtlichen Instanzenweg zu beschreiten.

Insgesamt 35 Bewohner Varvarins haben auf zivilrechtlichem Wege die Bundesrepublik Deutschlanf auf 440.000 Euro Schmerzensgeld verklagt für die Tötung ihrer Angehörigen bzw. ihre durch die Bombardierung Varvarins erlittenen schweren Verletzungen. Einen solchen Betrag hätten der Bund wie auch die NATO sozusagen "aus der Portokasse" bezahlen können, doch wie auch den Klägern wird es den Beklagten am allerwenigsten "ums Geld" gegangen sein. Auf dem juristischen Prüfstand stand im Fall Varvarin der 1999 mit der intensiven Beteiligung der Bundesluftwaffe an dem im übrigen völkerrechtswidrigen Bombenkrieg der NATO gegen Jugoslawien endgültig vollzogene Bruch mit der nach dem Zweiten Weltkrieg geschworenen militärischen Enthaltsamkeit des deutschen Staates, dessen Vorgänger innerhalb weniger Jahrzehnte schon zweimal einen Weltkrieg entfacht hatten.

Der politische Schwur, nie wieder "solle von deutschem Boden Krieg ausgehen", wurde von der damaligen rotgrünen Bundesregierung in eine mit Auschwitz begründeten Kriegsbeteiligungspflicht umgemünzt. Mindestens 2000 Menschen in Jugoslawien mußten diesen Krieg mit ihrem Leben bezahlen, ohne daß je einer der Verantwortlichen dafür zur Rechenschaft gezogen werden konnte. Der Instanzenweg erwies sich, noch dazu in einem der Länder, die wie Deutschland intensiv an dem NATO-Bombardement beteiligt gewesen waren, für die Varvariner Kläger als so ineffizient, wie er es seiner innersten Zweckbestimmung gemäß nur sein kann. Im Jahre 2003 hatte das Landgericht Bonn in erster Instanz die Klagen abgewiesen. Das Oberlandesgericht Köln lehnte 2005 in dem Berufungsverfahren die Schadenersatzklagen aus Varvarin ebenfalls ab.

Das OLG Köln hatte sich in der Verhandlung zunächst relativ aufgeschlossen gezeigt und der Auffassung der Klägeranwälte, daß zum einen die Klage zulässig sei und zum anderen das deutsche Staatshaftungsrecht generell auch auf Kriegsereignisse anzuwenden sei, zugestimmt. Am Ergebnis änderte dies jedoch nichts, und so mag auch die Entscheidung des Kölner Gerichts, den mittellosen Klägern Prozeßkostenhilfe zuzugestehen, als Mittel aufgefaßt werden, die Kläger versöhnlicher zu stimmen, damit sie im nächsten Schritt das für sie niederschmetternde Ergebnis eher zu schlucken bereit sind. Die Hoffnung, auf gerichtlichen Wegen auf deutschem Boden zu "Gerechtigkeit" zu kommen, gaben die Varvariner jedoch noch nicht auf, sie gingen am 19. Oktober 2006 mit ihrer Klage vor den Bundesgerichtshof (BGH).

Dieser nutzte die sich ihm damit gebotene Gelegenheit, um letztinstanzlich klarzustellen, daß Bundeswehrangehörige in ihren Auslandskriegseinsätzen nicht nur in strafrechtlicher Hinsicht von der deutschen Justiz weitestgehend freigehalten werden, sondern auch in zivilrechtlicher Hinsicht keine Konsequenzen zu befürchten haben, die sie möglicherweise daran hindern könnten, ihren Aufgaben nachzukommen. Schon 1999 waren gegen bundesdeutsche Spitzenpolitiker wegen des Führens eines Angriffskrieges, einer der schwersten Straftaten des deutschen Strafrechts, angestrengte Strafanzeigen samt und sonders im Sande verlaufen. Nun erfolgte vom BGH, der im Fall Varvarin die ablehnenden Entscheidungen der beiden Vorinstanzen am 2. November bestätigte, auch auf zivilrechtlichem Wege die Klarstellung, daß die bundesdeutsche Justiz den Schritt zu einer Militärjustiz ebenso problemlos vollzogen hat, wie aus der angeblich pazifistischen Prinzipien verpflichteten Bundesrepublik ein kriegführender Staat geworden ist.

Laut BGH war die Bundeswehr am Jugoslawienkrieg nur wenig beteiligt und mäßig informiert. Eine "Amtspflichtverletzung deutscher Soldaten oder Dienststellen" läge nicht vor. Desweiteren begründete der BGH seine Ablehnung damit, daß nicht Einzelpersonen, sondern nur deren Heimatstaat ein Klagerecht habe, was im Falle der Bundesrepublik Jugoslawiens eine besonders perfide Argumentation darstellt, weil es diesen Staat - und zwar nicht zuletzt infolge des NATO-Krieges - inzwischen gar nicht mehr gibt. Die BGH-Richter behaupteten zudem, daß die Bundeswehroffiziere keine konkreten Kenntnisse der gegen Varvarin geflogenen Angriffe gehabt hätten. Die Kläger hingegen hatten geltend gemacht, daß deutsche Tornados an dem rückwärtigen Luftraumschutz beteiligt gewesen waren und Bundeswehrangehörige ein Vetorecht bei der Zielauswahl gehabt, jedoch nicht wahrgenommen hätten.

Juristische Schattenkämpfe dieser und ähnlicher Art können nicht darüber hinwegtäuschen, daß der bundesdeutsche Instanzenweg keine geeignete Adresse für den Wunsch nach Gerechtigkeit ist und sein kann. Dies träfe jedoch nicht minder auf eine internationale Justiz zu, die bislang nicht zufällig in jenen Fällen installiert wurde, in denen sie der Durchsetzung der NATO-Interessen an einer nachträglichen juristischen Bezichtigung und Aburteilung des geschlagenen Kriegsgegners - nämlich Jugoslawien - dienlich sein konnte. In Den Haag war schon in Folge der vorherigen Balkankriege ein Jugoslawien-Tribunal eingerichtet worden, finanziert von den USA und den Namen der Vereinten Nationen im Munde führend, obwohl der Weltsicherheitsrat keineswegs legitimiert ist, Sondergerichte ins Leben zu rufen.

Die Varvariner würden mit ihrem Anliegen vor diesem wie auch jedem anderen, wie auch immer gearteten internationalen Tribunal unter den gegenwärtigen politischen Kernverhältnissen ebenso scheitern wie in Deutschland, weil die Justiz auf nationaler wie internationaler Ebene eine der schlagkräftigsten Waffen des Stärkeren ist. Wie die Entscheidungen der drei bislang beteiligten deutschen Gerichte in der Schadenersatzfrage bestätigt haben, ist sie nur allzu bereit, ihre für den schönen Schein behauptete Unabhängigkeit an den Nagel einer Sachzwangslogik zu hängen, die aus einer der vermeintlichen Teilgewalten einen recht offen in Erscheinung tretenden Appendix der (militär-)politischen Führung macht.

In dieser von Militärs, Politikern und Juristen gebildeten Kampfgemeinschaft steht die NATO wie ein unheiliger Geist jenseits des Greifbaren. Der BGH kam in seiner ablehnenden Entscheidung nicht umhin festzustellen, daß einiges dafür spräche, daß mit dem Angriff auf Varvarin das Völkerrecht verletzt wurde und somit eigentlich auch Schadenersatzansprüche der Opfer entstanden seien. Der Vorsitzender Richter Schlick vertrat gleichwohl die Auffassung, daß Individuen solche Ansprüche nicht geltend machen können. Die Bombardierung Varvarins, eines kleinen Städtchens, das inklusive der zerstörten Brücke als militärisch völlig unbedeutsam galt, sei, so Schlick, nicht so eindeutig völkerrechtswidrig und völlig unvertretbar gewesen, daß man darauf eine Pflichtverletzung deutscher Offiziere hätte ableiten können.

Völkerrechtswidrig und unvertretbar - ja, doch nicht so, daß dies für die angreifende Seite irgendwelche Konsequenzen hätte nach sich ziehen sollen ... Der BGH kommt mit dieser Entscheidung nicht umhin, sich als Kriegspartei zu "outen". Zur Entlastung der beteiligten Bundeswehroffiziere wurde dann noch angefügt, daß diese laut NATO-Reglement keine Einzelheiten gekannt hätten. Die NATO selbst machte es sich ohnehin einfach. Sie hält die Einsatzpläne weiterhin unter Verschluß und erklärt sie zum militärischen Geheimnis, und so kann nur vermutet werden, daß es US-amerikanische Piloten waren, die über Varvarin ihre tödliche Fracht abgeworfen haben und dann sogar noch einmal zurückkehrten, um einen zweiten Angriff auf die Brücke, die Opfer des ersten Angriffs sowie die hinzugekommenen Helfer zu fliegen.

Die NATO hat ihrerseits jeglichen Vorwurf, in diesem oder einem der vielen anderen Fälle - in den 78 Tagen des Bombenkrieges wurden über 2000 Menschen auf ähnliche Weise getötet - gegen das humanitäre Völkerrecht verstoßen zu haben. In Brüssel war bestenfalls von "tragischen Vorkommnissen" die Rede, und im Falle Varvarins von einem "Versehen", weil die Brücke angeblich mit einer 15 Kilometer entfernten Autobahnbrücke auf einer zentralen Versorgungslinie in den Kosovo "verwechselt" worden sei. Auf diese Weise zwischen Bombenangriffen und Bombenangriffen zu unterscheiden, so als würden diese Kriegshandlungen nur unter bestimmten, noch dazu von einer Justiz aus dem Dunstkreis der Angreifer zu definierenden Kriterien beanstandungswürdig sein oder eben nicht, bedeutet den Verzicht auf ein grundsätzliches und uneingeschränktes Nein zu diesem Krieg.

Wer diesen Krieg in voller Länge und mit all seinen Begleit- und Folgeerscheinungen als inakzeptabel bewertet, wird die Frage, welcher Nationalität die NATO-Piloten waren, die am Pfingstsonntag 1999 Varvarin bombardierten, als nicht wesentlich erachten. Die massive Beteiligung der Bundesluftwaffe an diesem Krieg kann ohnehin kaum Gegenstand kontroverser Diskussionen sein; schließlich haben zwischen März und Juni 1999 deutsche ECR- Tornados, die währenddessen auch 244 AGM-88-Harm-Raketen verschossen, und italienische Aufklärungstornados 484 Einsätze über Jugoslawien geflogen. Den deutschen Aufklärern oblag die Aufgabe, mit 60-mm-Infrarotkameras die Luftziele im Kosovo wie auch in Serbien zu erfassen und via des satellitengestützten Steuerungssystems GPS in die Bomber weiterzuleiten.

Wer sich darauf einläßt, einer Argumentation zu folgen, die Bombenangriffe in einem solchen Angriffskrieg für legitim erklärt, so sie militärisch sinnvollen Zielen dient, hat sich in den Fallstricken kriegsrechtfertigender Zirkelschlüsse längst verfangen. Jeder Angriff ist militärisch sinnvoll aus Sicht der Angreifer, die allerdings andere gern von sich glauben machen möchten, Menschenleben so gut es geht zu schonen und deshalb die tödlichen Attacken auf ein Minimum zu reduzieren. Ein deutscher Lufwaffengeneral - Walter Jertz, selbst Kampfpilot und NATO- Sprecher während des Kosovokrieges - hat in seinem Buch "Im Dienste des Friedens - Tornados über dem Balkan" klargestellt, was von der einer solchen, vermeintlich Zivilisten schonenden Kriegführung zu halten ist:

Neben den willentlich zerstörten Fabriken und Infrastruktureinrichtungen wurden immer auch Wohngebäude und Krankenhäuser beschädigt und zerstört - in den technischen Kriegen des 20. Jahrhunderts oft großflächig und mit Vorsatz, um die Bevölkerungsmoral zu brechen.

Doch zurück zur Varvarin-Entscheidung des BGH, in der dieser der Bundesluftwaffe nahezu einen Persilschein ausstellt für die Kriege der Gegenwart und Zukunft. "Traditionell" - und bei dieser "Tradition" ist wohl an den Ersten und Zweiten Weltkrieg zu denken - gehörten, so der BGH, nun einmal auch Straßen, Brücken und Eisenbahnen zu den militärischen Angriffszielen. Die Wiederbelegung einer solchen Kriegs-"Tradition" hält der BGH für höherwertig als das 1. Zusatzprotokoll zu den Genfer Konventionen von 1977, in dem "zum Schutze von Zivilpersonen in Kriegszeiten" besondere Vorschriften erlassen wurden, um Kriege noch führbarer zu machen durch das Versprechen, ein unnötiges Blutvergießen zu vermeiden.

Der Angriff auf die Brücke von Varvarin in unmittelbarer Nähe eines von dreitausend Menschen besuchten Kirchenfestes stellt mit Sicherheit einen Verstoß des Zusatzprotokolls dar. Darauf zu insistieren bei der Frage der Opfer und Hinterbliebenen nach Gerechtigkeit wird beim Beschreiten der dafür vorgehaltenen Instanzenwege logischerweise zu so unbefriedigenden Ergebnissen führen, wie die Varvariner Kläger es nun erleben mußten. Den Kriegstreibern arbeitet man mit einer solchen Position sogar noch in die Hände, weil man der Mär, es gäbe einen "menschlichen" Krieg, wenn nur diese oder jene Bedingungen eingehalten werden würden, damit ungewollt und zum Vorteil der angreifenden Seite Vorschub leistet.

Erstveröffentlichung am 8. November 2006

24. Januar 2007



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