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DILJA/160: Gezieltes Verwirrspiel um die Unschuldsvermutung (SB)


Gezieltes Verwirrspiel um die Unschuldsvermutung

Täuschungsmanöver der Minister Schäuble und Zypries wider den Rechtsstaat


"Gefahrenabwehr" ist das neue Zauberwort von Bundesinnenminister Schäuble (CDU). Der Minister, der bereits seit Wochen und Monaten mit immer neuen Vorschlägen zur Aufrüstung im Innern in Erscheinung tritt und sich dabei oft selbst überholt, stellte in einem am 18. April erschienenen Stern-Interview mit der "Unschuldsvermutung" einen weiteren Stützpfeiler des demokratischen Rechtsstaats zur Disposition. Er unterschied dabei den sogenannten "Kampf gegen den Terror" von dem übrigen Vorgehen von Polizei und Justiz, was mit rechtsstaatlichen Prinzipien schon nicht zu vereinbaren ist, weil es dem behaupteten Demokratieanspruch zufolge keinen Sonderbereich geben darf, der von der allgemeinen Schutzwirkung des Grundgesetzes ausgenommen wird. Schäuble allerdings redete einem Staats- und Verfassungsverständnis das Wort, das einen diktatorischen Polizeistaat legitimieren würde.

Er konstruierte zwischen den beiden Kernaufgaben polizeilicher Arbeit - nämlich der Gefahrenabwehr und der Strafverfolgung, für die es durchaus unterschiedliche gesetzliche Grundlagen gibt - einen tiefgreifenden Unterschied, um nicht zu sagen verfassungsrechtlichen Gegensatz. Dieser würde Schäubles Auffassung zufolge darin bestehen, daß auf dem einen Standbein polizeilicher Tätigkeiten, nämlich den Strafverfolgungsmaßnahmen, die Grundrechte im Prinzip wirksam sind; auf dem anderen, der sogenannten Gefahrenabwehr, jedoch nicht. In dem Stern-Interview versuchte er, mit scheinlogischen und zirkelschlüssigen Argumenten diesen im Kern verfassungswidrigen Standpunkt plausibel zu machen.

So behauptete er, daß die Unschuldsvermutung im "Antiterror- Kampf" keine Bedeutung habe, weil sie nur bei der Strafverfolgung gelte. Schäuble wörtlich: "Die Unschuldsvermutung heißt im Kern, dass wir lieber zehn Schuldige nicht bestrafen als einen Unschuldigen zu bestrafen." Im zweiten Schritt erklärte der Bundesinnenminister dann jedoch, dieser Grundsatz "kann nicht für die Gefahrenabwehr gelten" und kleidete dies in ein seiner Meinung nach wohl anschauliches Beispiel: "Wäre es richtig zu sagen: Lieber lasse ich zehn Anschläge passieren, als dass ich jemanden, der vielleicht keinen Anschlag begehen will, daran zu hindern versuche? Nach meiner Auffassung wäre das falsch."

Daß es sich bei diesem Vorstoß Schäubles wider den Rechtsstaat nicht um den Alleingang eines übereifrigen Sicherheitsministers handelt, sondern um ein wohldurchdachtes Gesamtkonzept zum Aufbau eines Staatsapparates, der sich selbst präventive polizeiliche Maßnahmen genehmigt, läßt sich anhand der Reaktion von Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD) rückschließen. Diese unterstützte nach kurzem Zögern voll und ganz Schäubles Linie, indem sie erklärte, es sei seit Jahrzehnten gültige Rechtslage, daß die Unschuldsvermutung nur in der Strafverfolgung und nicht bei der Prävention und den Ermittlungen (!) gelte. Ihr Kollege - Schäuble - habe sich allerdings "denkbar unpräzise und unglücklich ausgedrückt".

Tatsächlich haben sich die beiden Minister der mit der Transformation eines wenn auch brüchigen Rechtsstaates in einen potentiellen Polizeistaat befaßten Ressorts keineswegs unpräzise oder auch nur unglücklich ausgedrückt. Sie haben vielmehr eine Pseudoargumentation aufgebaut, die, da beide ausgebildete Volljuristen sind, nicht auf Unkenntnis der juristischen und insbesondere verfassungs- und polizeirechtlichen Sachlage beruhen kann. Formal gesehen ist es richtig, daß die Unschuldsvermutung im Strafrecht gilt. In einem juristischen Standard- Nachschlagewerk (*) wird dazu ausgeführt:

Unschuldsvermutung bedeutet, daß die Unschuld eines Beschuldigten im Strafprozeß bis zum rechtskräftigen Nachweis der Schuld in dem gesetzlich vorgeschriebenen Verfahren vermutet wird. Sie folgt schon aus dem Rechtsstaatsprinzip und ist in Art. 6 II MRK ausdrücklich nominiert. Sie gebietet eine unvoreingenommene Behandlung des Beschuldigten (faires Verfahren) und eine Güterabwägung bei öffentlicher Fahndung. Strafverfolgungsmaßnahmen aufgrund eines bestimmten Verdachts, z.B. Untersuchungshaft, verbietet sie aber nicht.

Die Unschuldsvermutung folgt, wie hier angeführt wird, aus dem Rechtsstaatsprinzip. Aus eben diesem Prinzip folgen aber auch Grenzen und Beschränkungen exekutiven Handelns in allen anderen Bereichen, und so selbstverständlich auch bei der polizeilichen Gefahrenabwehr. In dem von dem renommiertesten juristischen Fachverlag Deutschlands herausgegebenen Rechtswörterbuch wird unter dem Stichwort "Gefahrenabwehr" folgendes ausgeführt:

Abwehr von Gefahren und Beseitigung von Störungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung sind im Polizeirecht und Ordnungsrecht geregelte Aufgaben der Polizei und der Ordnungsbehörden (dazu gehört auch die Verhütung von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten). Eine Gefahr liegt vor, wenn eine Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung noch nicht eingetreten, aber zu befürchten, d.h. mit Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist. Die Gefahr muß konkret sein, d.h. sie muß an Ort und Stelle drohen und nach allgemeiner Lebenserfahrung erwarten lassen, daß sie sich zu einer Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung verdichten wird; eine Verordnung kann auch aufgrund einer abstrakten Gefahr erlassen werden (polizeiliche Maßnahmen, ordnungsbehördliche Maßnahmen).

Das Prinzip, polizeiliche Maßnahmen zur Gefahrenabwehr von einer an Ort und Stelle konkreten Gefahr abhängig zu machen, ist aus der Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes leicht nachzuvollziehen. Der deutsche Terrorstaat der Jahre 1933 bis 1945 hatte sich mit der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) ein Exekutivorgan geschaffen, gegen dessen Maßnahmen es für die betroffenen Menschen nicht den geringsten rechtlichen Schutz gab. Um der Gefahr vorzubeugen, daß ein solcher Gewaltapparat auf deutschem Boden erneut erwachsen könnte, wurden bei der Gründung der Bundesrepublik Deutschland Schutzmechanismen installiert, die eine Kontrolle der staatlichen Organe durch sich selbst gewährleisten sollten.

Gestapo und NS-Justiz hätten schließlich auch von sich behauptet, den Staat und die Gesellschaft vor ihrer Meinung nach gefährlichen Elementen zu schützen. Und als 1973 in Chile das Militär unter General Pinochet den gewählten Präsidenten des Landes, Salvador Allende, stürzte und das Land in eine blutige Diktatur verwandelte, tat es dies angeblich zum "Schutz" der "Demokratie". Mit anderen Worten: Bei der Behauptung, den Staat vor Gefahren zu beschützen, wie sie bedrohlicher kaum sein könnten, kann es sich um die Letztbegründung eines diktatorischen Umsturzes oder eines schleichenden Übergangs in einen quasi- totalitären Staat, wie er jetzt für die Bundesrepublik Deutschland zu befürchten ist, handeln.

Doch selbst dann, wenn man anzunehmen bereit ist, die von Schäuble und anderen an den Zenit des gesellschaftlichen Lebens projizierte angeblich allgegenwärtige Terrorgefahr sei existent, rechtfertigt das keineswegs eine Aufhebung des Rechtsstaatsprinzips für die Polizei, so sie sich nur das Label "Gefahrenabwehr" umhängt. Polizeiliche Maßnahmen, die im Rahmen der Gefahrenabwehr rechtlich zulässig sind, dürfen keinesfalls in einem rechtsfreien Raum durchgeführt werden. Aus dem Rechtsstaatsprinzip läßt sich auch hier unmittelbar ableiten, daß gerade dann, wenn die Rechte betroffener Menschen berührt oder eingeschränkt werden, strenge Maßstäbe gelten müssen. Im Creifelds-Rechtswörterbuch wurde dies folgendermaßen formuliert:

Soweit polizeiliche Maßnahmen in die Rechte eines anderen eingreifen, müssen sie sich auf eine gesetzlich gegebene Befugnis stützen. (...) Zu den polizeilichen Maßnahmen gehören insbesondere Personalienfeststellung, erkennungsdienstliche Maßnahmen, Vorladung, Platzverweisung, Gewahrsam (insbes. bei Selbstgefährdung, z.B. "Ausnüchterungsgewahrsam", aber auch Unterbindungsgewahrsam), Durchsuchung von Personen, Sachen und Wohnungen, Sicherstellung und Verwahrung von Gegenständen, Datenerhebung und -verarbeitung. Polizeiliche Maßnahmen können sich grundsätzlich nur gegen Störer, in Ausnahmefällen gegen Nichtstörer, richten und müssen bestimmt, notwendig und zur Erreichung ihres Zwecks geeignet sein und im richtigen Verhältnis zur Bedeutung der Gefahr und dem angestrebten Zweck stehen. Polizeiliche Maßnahmen richten sich nach dem Opportunitätsprinzip. Polizeiliche Maßnahmen sind Verwaltungsakte; gegen sie sind die Rechtsbehelfe der Verwaltungsgerichtsbarkeit gegeben.

Auf einen kurzen Nenner gebracht kann die Polizei nach herrschender Rechtslage zur Gefahrenabwehr Maßnahmen gegen Menschen ergreifen, von denen sie glaubt, daß von ihnen eine Gefahr ausgeht - doch muß sich all dies analog zur Unschuldsvermutung im Strafverfahren in einem sehr engen und juristisch überprüfbaren Rahmen abspielen. Einem Rahmen, der ursprünglich konstruiert wurde, um für alle Zeiten zu verhindern, daß je eine Entwicklung greifen könnte, wie sie der Bundesinnenminister in stiller Kooperation nicht nur mit der Bundesjustizministerin, sondern mit der gesamten Bundesregierung schon auf den Weg gebracht hat. So haben weder Schäuble noch Zypries sich die Mühe gemacht, bei ihrem formelhaften Beschwören der Gefahrenabwehr darauf hinzuweisen, daß diese nur gegen "Störer" angewandt werden darf.

Aus dem Rechtsstaatsprinzip, für das es keine Ausnahme geben kann, weil es ein Nebeneinander von demokratischem Rechtsstaat und diktatorischem Polizeistaat logischerweise nicht geben kann, da der eine den anderen ausschließt, muß sich ein Willkürverbot ableiten lassen. Das heißt in diesem Fall, daß Polizei und Ordnungsbehörden nicht wahllos und willkürlich jeden als "Störer" bezeichnen können, der oder dessen Gesinnung ihnen irgendwie nicht paßt, nur um dann im zweiten Schritt Maßnahmen gegen ihn durchzuführen.

Nach herrschender Rechtslage ist ein "Störer", wer "eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung oder eine Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung verursacht". Aus der Verursachung ergibt sich, daß die Gefahr vorhanden und konkret sein muß und daß es mit Sicherheit nicht ausreicht zu behaupten, sie - die Gefahr und nicht das Ereignis, dessen Eintritt durch Abwehrmaßnahmen verhindert werden soll - könnte unter Umständen eines Tages eintreten. In Ausnahmefällen können sich Maßnahmen der polizeilichen Gefahrenabwehr sogar gegen unbeteiligte Dritte, sogenannte Nichtstörer, richten, jedoch nur unter sehr eingeschränkten und konkreten Voraussetzungen. In einem solchen Fall muß eine gegenwärtige Gefahr vorliegen, die die Polizei anderweitig nicht abwehren kann. Eine weitere Vorbedingung ist, daß Maßnahmen gegen deren Verursacher, sprich den "Störer", nicht in Betracht kommen, weil sie entweder unmöglich sind oder keinen Erfolg versprechen, und zu guter Letzt muß die Maßnahme dem betroffenen und anschließend zu entschädigenden "Nichtstörer" ohne erhebliche eigene Gefährdung zuzumuten sein.

Kurzum: Das geltende Polizei- und Ordnungsrecht liefert ebensowenig wie die Verfassung die geringste Handhabe, um, wie von Schäuble angedacht, präventive Polizeimaßnahmen gegen jeden zu legimitieren. Hartmut Kilger, Präsident des Deutschen Anwaltvereins, erklärte dazu gegenüber der Frankfurter Rundschau: "Alle Bürger dem Generalverdacht auszusetzen, sie seien Straftäter, ist unerträglich." Auch wenn die zuständigen Minister Schäuble und Zypries gebetsmühlenartig vorbringen, die Unschuldsvermutung würde nur im Strafrecht gelten und nicht bei der Gefahrenabwehr, ändert dies nicht das geringste daran, daß der Polizei auch bei der Gefahrenabwehr enge und rechtsstaatlich überprüfbare Grenzen auferlegt sind und sein müssen. Ist dies nicht der Fall, gibt die Republik ihren ohnehin nur höchst unzureichend eingelösten Anspruch, ein demokratischer Rechtsstaat zu sein, vollkommen preis. Das stereotyp vorgetragene Argument, zur Abwehr behaupteter "Terrorgefahren" die letzten rechtsstaatlichen Hüllen fallen lassen zu können, läßt sich nicht im mindesten mit den Ansprüchen in Deckung bringen, die der herrschenden Rechtsordnung zur Erlangung des Gütesiegels "Demokratie" einst auferlegt wurden.

(*) Creifelds Rechtswörterbuch, 15., neubearbeitete Auflage, C.H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung, München 1999

24. April 2007



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