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DILJA/172: Straffreiheit in den USA für tötende Polizisten (SB)


Der Erschießung des 23jährigen Sean Bell durch die New Yorker Polizei war keine "kriminelle Tat", urteilt ein New Yorker Gericht

Die US-Justiz ist keineswegs nur rassistisch, sie ist Bestandteil des staatlichen Gewaltmonopols


Ende November 2006 wurde in New York ein junger Mann auf offener Straße in einem Auto erschossen. Er war unbewaffnet und wurde nach übereinstimmenden Zeugenaussagen ohne eigenes Verschulden durch mindestens 41 Schüsse getötet. Er befand sich in Begleitung zweier Freunde, auf die ebenfalls geschossen wurde. Beide überlebten schwer verletzt. Eine Tänzerin, die mit den drei Männern unterwegs war, erklärte später gegenüber der Presse, daß die Schützen ohne Vorwarnung auf ihre Begleiter geschossen hätten. Das 23jährige Todesopfer, er hieß Sean Bell, hätte wenige Stunden später geheiratet. Er starb in einem Kugelhagel an einem Abend, an dem er von seinem Junggesellenleben Abschied nehmen wollte.

Knapp eineinhalb Jahre später, im März und April 2008, standen die Todesschützen Michael Oliver, Gescard Isnora und Marc Cooper vor Gericht. Sie waren zweifelsfrei identifiziert worden. Der urteilende Richter, der alle drei von dem gegen sie erhobenen Vorwurf der fahrlässigen Tötung freisprach, begründete dies keineswegs mit Zweifeln an ihrer Täterschaft. Nein, Richter Arthur Copperman, der nach siebenwöchiger Verhandlung am 28. April seinen Urteilsspruch fällte, erklärte in der mündlichen Begründung in Anwesenheit der Verlobten sowie der Mutter des Getöteten, er habe "kein kriminelles Fehlverhalten" erkennen können.

Bei den drei Todesschützen handelte es sich um Angehörige der New Yorker Polizei. Fünf Beamte, alle in zivil, hatten in der Todesnacht den Nachtclub observiert, in dem sich die drei jungen Afroamerikaner aufgehalten hatten. Nachdem diese den Club verlassen hatten, streiften sie mit ihrem Pkw beim Verlassen des Parkplatzes eine Zivilstreife, woraufhin die Polizisten sofort das Feuer eröffneten. Das Fahrzeug der drei New Yorker Bürger wurde von rund 50 Kugeln getroffen. Die fünf Polizeibeamte, die den Nachtclub observiert hatten, waren nach der tödlichen Tat, wie Polizeichef Kelly seinerzeit bekannt gegeben hatte, vom Dienst suspendiert worden. Daß die drei als Todesschützen identifizierten und angeklagten Beamten nun von einem Gericht im New Yorker Stadtteil Queens freigesprochen wurden, stellte für die Polizeibehörden offenbar keine Überraschung dar. Sie hatten das Gerichtsgebäude in Erwartung der wütenden Proteste, die dann auch im Gerichtssaal wie auf der Straße laut wurden, von rund eintausend Polizeibeamten absichern lassen.

Al Sharpton, prominenter afroamerikanischer Bürgerrechtler, Pfarrer und Rundfunkreporter, brachte die "schwarze Wut" auf den Punkt und erklärte auf einer spontanen Pressekonferenz, die Menschen in New York "müssen realisieren, daß niemand das Recht hat, unbewaffnete und unschuldige Bürger niederzuschießen". Die allermeisten Menschen in New York werden dies allerdings längst realisiert haben und als Selbstverständlichkeit ansehen. "Wie viele Kugeln müssen noch abgefeuert werden, bis sich die Dinge ändern?" fragte die New York Times am Sonntag, den 35jährigen Torell Marsalis zitierend, einen Bewohner desselben Stadtteils, in dem Sean Bell getötet worden war.

Da die polizeilichen Todesschützen in aller Regel - im Fall Bell wie beispielsweise auch in dem des 1992 in der Bronx bei einer Polizeikontrolle vor dem Eingang seines Wohnhauses durch 41 Schüsse regelrecht hingerichteten westafrikanischen Einwanderers Amadou Diallo - freigesprochen werden, wird sich staatlicherseits an dieser Polizeipraxis nichts ändern, auch wenn noch so viele Schüsse mit tödlichen Folgen fallen. Da die Opfer der unter dieser De-facto-Straffreiheit verübten Tötungen durch die Polizei zumeist Schwarze sind, liegt es nahe, von rassistischer Polizeigewalt zu sprechen, wie es zahlreiche afroamerikanische Gemeinden und Bürgerrechtsorganisationen in den USA auch tun. Allerdings darf sich auch die weißhäutige US-amerikanische Bevölkerung ihres Lebens nicht so sicher sein, wie es der Glaube an Rechtsstaatlichkeit und Demokratie verlangen würde.

Der Unterschied zwischen Menschen verschiedener Hautfarbe ist im Verhältnis zu Staat, Polizei und Justiz nicht so gravierend wie der zwischen "normalen" Bürgern und Angehörigen der Sicherheitskräfte. Wären die drei Todesschützen im Fall Sean Bell - zwei von ihnen sind weiß, einer schwarz - einfache Bürger und eben nicht Polizeibeamte in zivil gewesen, hätte der urteilende Richter mit Sicherheit in dem von ihnen entfachten Kugelhagel eine "kriminelle Tat" gesehen, die vermutlich angesichts der hohen Zahl abgefeuerter Schüsse auch nicht als "fahrlässige Tötung", sondern als Totschlag oder Mord bewertet und entsprechend hoch bestraft worden wäre. Hätte einer der Polizeibeamten beim Verlassen des Parkplatzes das Fahrzeug eines normalen Bürgers gerammt und wäre daraufhin von diesem zusammengeschossen worden, hätte das Urteil je nach Bundesstaat Lebenslänglich oder Todesstrafe wegen des Mordes an einem Polizisten gelautet.

Die mit gutem Grund in Schulbücher und juristische Standardwerke geschriebene Behauptung, vor dem Gesetz seien alle Menschen gleich, läßt sich mit der von der US-Justiz polizeilichen Todesschützen gewährten Straffreiheit nicht in Übereinstimmung bringen. Dies zu verlangen oder auch nur zu erwarten, belegt zwar einen unerschütterlichen Glauben an Recht und Gesetz, steht allerdings der naheliegenden Schlußfolgerung im Wege, daß Polizei und Justiz wie zwei Krähen sind, die einander kein Auge aushacken. Als "kriminell" wird durch die staatlichen Repressionsorgane verfolgt und bestraft, wer in welcher Weise auch immer den Interessen der herrschenden Klasse zuwiderhandelt. Daß Gesetzgeber, Polizei und Justiz dabei Hand in Hand arbeiten, versteht sich von selbst und offenbart sich in besonders krasser Weise, wenn die Justiz tötenden Polizeibeamten die im staatlichen Gewaltmonopol, nicht jedoch in dessen demokratischer Fassade begründbare Rückendeckung gibt.

30. April 2008



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