Schattenblick →INFOPOOL →RECHT → MEINUNGEN

DILJA/179: Folter - Abdullah Öcalan und die Schutzversprechen Europas (SB)


Abdullah Öcalan in der Haft mißhandelt und mit dem Tode bedroht

Die Schutzmechanismen Europas - der Anti-Folter-Ausschuß des Europarates sowie der Europäische Menschenrechtsgerichtshof - erweisen sich als Träger leerer Versprechen


Abdullah Öcalan, seit 1999 inhaftierter ehemaliger Vorsitzender der kurdischen Befreiungsorganisation PKK, wurde auf der Gefängnisinsel Imrali, wo er seit neun Jahren als einziger Gefangener in Isolationshaft gehalten wird, von seinen Bewachern körperlich angegriffen und mit dem Tode bedroht. Meldungen dieses Inhalts führten in den kurdischen Gebieten der Türkei zu massiven Protesten. Am vergangenen Wochenende bekam der türkische Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan von der islamisch-konservativen AKP-Partei bei einer Rundreise durch den Südosten des Landes die Wut der Kurden zu spüren.

Die auch nach zwei Wochen noch andauernden Proteste gegen die Mißhandlung und Bedrohung Öcalans sowie die Offensive des türkischen Militärs gegen Kurden im Grenzgebiet des Irak richteten sich bei dessen Rundreise auch gegen den türkischen Regierungschef. So kam es in der kurdischen Stadt Van zu Straßenschlachten zwischen kurdischen Bewohnern und der Polizei, während in der "Hauptstadt" Kurdistans, Diyarbakir, mehrere Tausend Anhänger der kurdischen Partei für eine Demokratische Gesellschaft mit einem zweitägigen Sitzstreik die Regierung in Ankara zu politischen Verhandlungen mit der PKK aufforderten und bessere Haftbedingungen für bzw. die Freilassung Öcalans verlangten.

In Berlin fand am 22. Oktober eine Demonstration statt, an der 400 Demonstranten und mindestens ebenso viele Polizisten teilnahmen. Auch hier wurde gegen die Angriffe des türkischen Militärs auf Kurden im Irak ebenso protestiert wie gegen die Übergriffe des Gefängnispersonals auf den ehemaligen PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan. So hatte es in dem Aufruf zu dieser Demonstration geheißen [1]: "Vergangene Woche wurde der kurdische Volksführer Abdullah Öcalan vom Gefängnispersonal körperlich angegriffen und mit dem Tod bedroht." In vielen Städten Europas soll es zu ähnlichen Protestveranstaltungen kurdischer Aktivisten gekommen sein, ohne daß die Meldungen über die Mißhandlungen Öcalans sowie die gegen ihn ausgesprochenen Todesdrohungen von Nachrichtenagenturen oder sonstigen Medien aufgegriffen und thematisiert worden wären.

So lassen sich die gegen das Gefängnispersonal lautgewordenen Mißhandlungsvorwürfe von unbeteiligten Quellen weder bestätigen noch dementieren. Diese Sachlage deutet auf einen prekären Zusammenhang zwischen den Medien, die im bundesdeutschen Verfassungssystem gern als inoffizielle "vierte" Macht im angeblich gewaltengeteilten Staate bezeichnet werden, und einer generellen, weit über die Grenzen der Türkei hinausgreifenden Repression gegen mißliebige Organisationen und Personen hin. Sollten die Mißhandlungsvorwürfe zutreffend sein - und es ist kein plausibler Grund erkennbar, warum kurdische Organisationen Meldungen dieser Art fälschlicherweise verbreiten sollten -, wären nun, zumal die Türkei nach wie vor die Aufnahme in die EU anstrebt, die europäischen Institutionen, die sich dem Kampf gegen die Folter sowie für die Einhaltung der Menschenrechte verschrieben haben, gefragt, ihre Schutzversprechen einzulösen.

Tatsächlich jedoch treten diese Institutionen öffentlich nicht in Erscheinung, obwohl die kurdischen Proteste nun schon mehrere Wochen andauern. Dies ließe sich mit der Schwerfälligkeit eines administrativen Apparates keineswegs erklären, zumal dann anzunehmen wäre, daß nach einem ausreichend langen Zeitraum eine wirksame Erfüllung des Schutzversprechens gewährleistet wäre. Namentlich im Fall Abdullah Öcalans kann davon jedoch nicht annäherungsweise die Rede sein. So hat der Anti-Folter-Ausschuß des Europarates am 6. März 2008 bessere Haftbedingungen für den auf Imrali in Isolationshaft gehaltenen Kurdenpolitiker gefordert. In einem an diesem Tag veröffentlichten Bericht hatte der Anti-Folter-Ausschuß festgestellt, daß Öcalan schwere psychische Probleme habe und daß sich seine "geistige Gesundheit" seit früheren Besuchen "deutlich verschlechtert" habe. Da Öcalan unter der Abschottung als einziger Gefangener auf der Gefängnisinsel leidet, forderte der Europarat die Türkei auf, ihn an einen Ort zu verlegen, "an dem er Kontakt zu Mithäftlingen haben könnte". Es sei nicht zu rechtfertigen, einen Menschen über einen solch langen Zeitraum hinweg unter solchen Bedingungen gefangenzuhalten.

Weder die in dem Bericht getroffenen Feststellungen noch die an die Türkei gerichteten Aufforderungen zeitigten das geringste Ergebnis. Einmal unterstellt, die aktuell gegen die Gefängniswärter Öcalans laut gewordenen Mißhandlungsvorwürfe könnten eine Reaktion der türkischen Machthaber auf derlei Töne aus Brüssel bzw. Straßburg gewesen sein, würden sich die europäischen Antifolterinstitutionen nicht nur als wirkungslose, sondern als nahezu kontraproduktive Faktoren erweisen. Dies wäre nicht der erste Vorfall dieser Art. So hatte der Europäische Menschenrechtsgerichtshof im März 2003 geurteilt, daß das 1999 in der Türkei gegen Öcalan durchgeführte Verfahren "nicht fair" und das urteilende Tribunal "nicht unabhängig und nicht unparteiisch" gewesen war. Weitere, von den Rechtsvertretern Öcalans erhobene Klagepunkte waren jedoch abgewiesen worden.

Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof hatte 2003 den Vorwurf der Verschleppung abgewiesen, obwohl Öcalan nach einer von der CIA, dem türkischen Geheimdienst MIT sowie dem israelischen Mossad organisierten Entführung von Kenia in die Türkei verschleppt worden war. Der Vorwurf der Isolation wurde ebenfalls abgewiesen, obwohl Öcalan zu diesem Zeitpunkt bereits seit vier Jahren als einziger Gefangener auf Imrali inhaftiert wurde. Gleichwohl hatte der Gerichtshof festgestellt, daß Öcalan von einem nicht unabhängigen und nicht unparteiischen Staatsgerichtshof - ein Militärrichter hatte mit auf der Richterbank gesessen - in einem nicht fairen Verfahren 1999 zum Tode verurteilt worden war. Dieses Todesurteil war 2002 im Zuge der Anpassung der Türkei an die Normen der EU in eine lebenslängliche Freiheitsstrafe umgewandelt worden. An eine Aufhebung des Urteils war selbstverständlich zu keinem Zeitpunkt auch nur zu denken, und nicht einmal das Leben Öcalans schien nach der Umwandlung des Todesurteils in eine lebenslange Freiheitsstrafe tatsächlich geschützt gewesen zu sein.

Zwei Jahre später, am 12. Mai 2005, bestätigte die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofes noch einmal das Urteil von 2003 in einer verbindlichen und nicht mehr anfechtbaren Entscheidung. Die Straßburger Richter befanden abermals, daß der Kurdenführer in der Türkei keinen "fairen" Prozeß bekommen hätte, glaubten jedoch zugleich, entscheiden zu können, daß weder seine Festnahme in Kenia noch seine jahrelange Isolationshaft gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstießen. Das Gericht empfahl der Türkei - und das keineswegs ausdrücklich - das Verfahren gegen Öcalan zu wiederholen. Unterm Strich gesehen verbesserte sich für Öcalan nach diesen Urteilssprüchen aus Straßburg gar nichts.

Nach Angaben von Mahmut Sakar, einem Rechtsanswalt aus Diyarbakir, der seit 1999 dem Verteidigerteam Öcalans angehört, scheint die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte die Situation Öcalans in der Folge sogar noch verschlimmert zu haben. In einem in der jungen Welt am 18. Juli 2005 [2] veröffentlichten Gespräch wies Sakar darauf hin, daß am 1. Juni 2005, also nur wenige Wochen nach der endgültigen Entscheidung des Straßburger Gerichtshofes, daß das Öcalan-Verfahren "unfair" gewesen sei, ein neues Gesetz in Kraft trat, das eigens für bzw. gegen den Kurdenpolitiker erlassen worden zu sein schien. Dieses Sondergesetz schreibt bei Anwaltsbesuchen die Anwesenheit einer dritten Person vor.

Dies machte sich sofort bei Öcalan bemerkbar: Bei Anwaltsgesprächen war eine solche Person anwesend, die noch dazu jedes gesprochene Wort auf Tonband aufnahm. Die Anwaltsnotizen wurden beschlagnahmt. Gegen diese massive Behinderung der Verteidigung versuchten die Vertreter Öcalans, sich in Straßburg bei den zuständigen Institutionen Gehör zu verschaffen, doch niemand war zu einer Stellungnahme gegen dieses von der Türkei offenbar in Reaktion auf die Richterschelte aus Straßburg eigens gegen Öcalan erlassene Sondergesetz bereit. Desweiteren wurden im Juni und Juli 2005 gegen zwölf Anwälte aus dem Öcalan-Team Berufsverbote verhängt.

Die aktuelle massive Zuspitzung der Gefährdung Öcalans könnte abermals mit dem fernen Europa in einem Zusammenhang stehen. So hat am 3. April 2006 der Europäische Gerichtshof in Luxemburg ein Urteil gefällt, demzufolge die EU die PKK sowie ihre politische Nachfolgeorganisation Kongra-GEL von ihrer Liste "terroristischer Organisationen" streichen müsse. Von diesem Tag an dürfen in der EU die Konten und Vermögenswerte dieser Organisationen nicht länger gesperrt werden. Zur Begründung hatten die Luxemburger Richter angeführt, die Einstufung der PKK als "terroristisch" sei von den EU-Regierungen ungenügend begründet worden. Auch eine während des laufenden Verfahrens noch nachgereichte Begründung akzeptierten die Richter nicht.

Für die politische Diskreditierung der PKK und ihrer Nachfolgeorganisationen, die sich seit 1999 gleichermaßen für eine politische Lösung des kurdisch-türkischen Konfliktes einsetzen, ist dies ein gewisser Rückschlag, der jedoch die EU-Staaten wie beispielsweise die Bundesrepublik Deutschland keineswegs davon abhält, die Kriminalisierung der PKK nahtlos fortzusetzen. Nach wie vor gilt die PKK in Deutschland als "kriminelle Vereinigung", und wie um die Bedeutungslosigkeit des Luxemburger Urteils zu unterstreichen, erließ das Bundesinnenministerium am 24. Juni 2008 eine Verbotsverfügung für den Bereich der BRD gegen den in Dänemark lizenzierten kurdischen Satellitensender Roy TV. Dieser sei, so hieß es, in die Organisationsstruktur der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) eingebunden und schüre einen Personenkult um den inhaftierten PKK-Führer Abdullah Öcalan.

Die europäischen Schutzmechanismen gegen Folter und Menschenrechtsverletzungen jeder Art haben im Falle Abdullah Öcalans "versagt", was jedoch keineswegs eine vernachlässigbare Ausnahme von einer ansonsten funktionierenden Regel darstellt. Vielmehr steckt der Fehler im System, da diese juristischen und politischen Instanzen dem Zweck dienen, den Europäern ein möglichst humanitäres Gesicht zu verleihen. Die Grenzen dieser "Möglichkeiten" liegen, wie in diesem Fall, nicht etwa an den begrenzten Möglichkeiten einer Einflußnahme auf die Türkei, sondern in den tatsächlich zugrundeliegenden Interessen. Hätten die EU-Staaten den Befreiungskampf des kurdischen Volkes tatsächlich als solchen respektieren und die langjährige politische und kulturelle Unterdrückung des kurdischen Volkes in der Türkei geißeln wollen, hätten sie dazu längst genug Gelegenheiten gehabt. Die Aufnahme der PKK in die EU-Liste "terroristischer Organisationen" sowie die systematische politische Verfolgung und Kriminalisierung dieser Organisation in der Bundesrepublik Deutschland sprechen eine deutliche Sprache. Zwischenzeitliche Urteilssprüche aus Straßburg und Luxemburg können da nicht für Irritationen sorgen.

[1] zitiert aus: "Kurden demonstrierten gegen Mißhandlung Öcalans in türkischer Haft", von Christian Mang, junge Welt, 24.10.2008, S. 5

[2] Siehe: "Sie wollen Öcalan politisch hinrichten". Türkei will das EU-Urteil zur Neuauflage des Prozesses gegen den Ex-PKK-Vorsitzenden unterlaufen. Ein Gespräch mit Mahmut Sakar, junge Welt, 18.07.2005

4. November 2008



Copyright 2008 by MA-Verlag
Nachdruck und Wiedergabe, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlages.
Redaktion Schattenblick, Dorfstraße 41, 25795 Stelle-Wittenwurth
Telefon 04837/90 26 98 · Fax 04837/90 26 97
E-Mail:ma-verlag.redakt.schattenblick@gmx.de
Internet:www.schattenblick.de