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DILJA/213: Ratlosigkeit im Den Haager Jugoslawien-Tribunal nach Karadzics Eröffnungrede (SB)


Nach der Eröffnungsrede des früheren Serbenpräsidenten Karadzic wurde das Verfahren in Den Haag auf unbestimmte Zeit unterbrochen

Der zur finalen Bezichtigung der serbisch/jugoslawischen Kriegspartei konzipierte Prozeß könnte für seine Betreiber in einem Fiasko enden


Als Radovan Karadzic, der frühere Präsident der Serbischen Republik (Republika Srpska) in Bosnien, im Juli 2008 verhaftet und von der serbischen Regierung an das Den Haager Jugoslawientribunal ausgeliefert wurde, war der Jubel in der westlichen Presse besonders groß, behauptete man doch, mit dem serbischen Politiker einen der größten Kriegsverbrecher der Bosnienkriege von 1992 bis 1995 dingfest gemacht zu haben. Richard Holbrooke, während der bosnischen Bürgerkriege als US-Balkanbeauftragter direkt in das Geschehen involviert, erklärte seinerzeit, ein "großer Verbrecher" sei "von der öffentlichen Bühne entfernt" worden und bezeichnete Karadzic als den "Osama bin Laden Europas". Da Karadzic wie auch der militärische Oberbefehlshaber der bosnischen Serben, General Mladic, vom Den Haager Tribunal bereits am 30. Juli 1995 zu den Hauptschuldigen des Krieges erklärt worden war und gegen beide Anklage wegen Völkermord erhoben wurde, kann der Verdacht, daß hier mit Unterstützung juristischer Mittel die Kriegführung fortgesetzt wurde, bis heute nicht als ausgeräumt betrachtet werden.

Wie der damalige Tribunal-Richter Antonio Cassesse bemerkte, war die frühe Anklageerhebung "ein wichtiges politisches Ereignis", weil sie zur Folge hatte, daß "diese beiden Herren" an den sogenannten Friedensverhandlungen von Dayton nicht teilnehmen konnten. Anwesend waren "diese beiden Herren" in Dayton gleichwohl. Gegenüber der BBC bestätigte US-Unterhändler Holbrooke dennoch, daß das Kriegsverbrechertribunal "ein sehr wertvolles Instrument" war und bekannte freimütig [1]: "Wir benutzten es, um die beiden meistgesuchten Kriegsverbrecher in Europa aus dem Dayton-Prozess herauszuhalten, und wir benutzten es, um alles zu rechtfertigen, was folgte."

Nach seiner Auslieferung machte Karadzic geltend, daß eben dieser Holbrooke ihm bei einem 1996 ausgehandelten Deal Straffreiheit zugesagt hätte, so er sich, wie geschehen, aus dem politischen Leben fernhalte. Dieser Einwand des serbischen Politikers blieb fruchtlos angesichts des massiven Interesses, das die Gegenseite und keineswegs nur Holbrooke nach wie vor an seiner Aburteilung aufzeigten und aufzeigen mußten, zumal der bis heute ungeklärte Tod des früheren jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milosevic, der im März 2006 in einer Den Haager Zelle verstarb, einen zugleich die NATO-Staaten entlastenden Schuldspruch verhinderte. Die Ankläger des Tribunals stellten Karadzic kurz nach seiner Ankunft in Den Haag ihr bis dahin in 13jähriger Arbeit von einem umfangreichen Mitarbeiterstab zusammengesuchtes Belastungsmaterial zu. Es umfaßte rund eine Million Seiten und ist inzwischen um gut weitere 400.000 Seiten ergänzt worden. Für Karadzics eigene Verteidigung kam erschwerend hinzu, daß die tatsächlichen Anklagepunkte erst wenige Wochen vor dem im Oktober 2009 eröffneten Verfahren endgültig festgelegt worden waren.

Um den naheliegenden Vorwurf, hier handele es sich um einen politischen Schauprozeß vor einem eigens zu solchen Zwecken ins Leben gerufenen Sondergericht, so dies überhaupt möglich ist, zu entkräften, hat das Tribunal nach einer am 1. März beendeten Verfahrenspause am Mittwoch einem Antrag des Angeklagten auf weitere Vorbereitungszeit stattgegeben. Dies stellt ein Novum dar, da alle bisherigen Versuche Karadzics, angesichts der schier monströsen Aktenberge zumindest in terminlicher Hinsicht überhaupt die Möglichkeit zu einer Verteidigung zu erstreiten, fehlgeschlagen sind. Sogar diese Anträge waren ihm als Prozeßverzögerung angelastet worden, ohne daß sich auch nur einer der Verfahrensbeteiligten die Mühe gemacht hätte zu erklären, wie denn ein einzelner Angeklagter, und sei es mit der Unterstützung eines kleinen Verteidigungsteams, ein solches Arbeitspensum hätte bewältigen können.

Wenige Wochen vor der Festnahme Karadzics, am 3. Juli 2008, war der frühere bosnisch-muslimische Stadtkommandant von Srebrenica, Naser Oric, in einem Berufungsverfahren vor dem UN-Tribunal vom Vorwurf des Massenmordes, begangen an Serben in der Region Srebrenica, freigesprochen worden, obwohl dieser die ihm zur Last gelegten Greueltaten selbst gefilmt und später gegenüber westlichen Journalisten zugegeben hatte. Dies führte unter anderem dazu, daß das russische Außenministerium nach Karadzics Festnahme die sofortige Schließung des Den Haager Tribunals gefordert hatte mit der Begründung, daß dieser Gerichtshof sich als voreingenommen erwiesen hätte. Angesichts dessen, wie in Den Haag seitdem ungeachtet der russischen Einwendungen damit fortgefahren wurde, "Recht" im Sinne der Ankläger zu sprechen, ist dies noch eine äußerst moderate Formulierung.

Eine tatsächliche Aufarbeitung des Kriegsgeschehens und seiner Hintergründe ist von diesem Tribunal nicht zu erwarten. Im Sommer 2008 hatte auf Seiten des Tribunals die Zielmarke vorgelegen, alle anhängigen Verfahren bis Ende 2008 und alle Berufungsverfahren bis spätestens 2010 abzuschließen, um die Tätigkeiten des 1993 einberufenen Sondergerichts tatsächlich einstellen zu können. Diese Zielvorgabe mag dazu beigetragen haben, auch Karadzic, dem seit dem Milosevic-Verfahren mit Abstand bekanntesten serbischen Angeklagten, zeitliche Daumenschrauben anzulegen und auf Biegen und Brechen seine Aburteilung in diesem Zeitfenster durchzuziehen. All dies ist nach den am 1., 2. und 3. März durchgeführten Verhandlungstagen plötzlich gegenstandslos geworden. Das Tribunal stimmte nun plötzlich der von Karadzic zum wiederholten Mal beantragten Fristverlängerung bis Juni für eine adäquate Vorbereitung zu und unterbrach das Verfahren "auf unbestimmte Dauer". Der südkoreanische Richter Kwon O-gon gab dem Antrag statt und erklärte, es gehöre zur "Fairneß" des Verfahrens, daß Karadzic sich ausreichend vorbereiten könne.

Da dessen diesbezügliche Argumentation bislang nicht im mindesten berücksichtigt worden war, liegt die Schlußfolgerung nahe, daß andere als die genannten Gründe ausschlaggebend für die nun abermals erfolgte Verhandlungsunterbrechung gewesen sein könnten. Da in den wenigen Tagen, an denen in Den Haag verhandelt worden war, außer der Eröffnungsrede für die Verteidigung Karadzics durch den Angeklagten selbst nichts Verfahrensrelevantes geschehen war, steht zu vermuten, daß der frühere Präsident der bosnischen Serben mit seiner ersten inhaltlichen Stellungnahme zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen den Tribunal-Verantwortlichen Probleme bereitet hat, die diese befürchten lassen müssen, in diesem Verfahren ein weiteres, dem Milosevic-Prozeß vergleichbares Debakel zu erleben.

Deshalb ist denkbar, daß die Verfahrensverantwortlichen mit der Prozeßunterbrechung sich selbst Bedenkzeit verschaffen wollten, da Karadzic alle Voraussetzungen dafür bietet, wie schon vor ihm Milosevic, selbst unter den eingeschränkten Bedingungen eines solchen Tribunals den ihm verbliebenen Bewegungsraum zu nutzen, um die Ankläger vor der Weltöffentlichkeit in Angeklagte zu verwandeln. Karadzic deutete die Linien seiner Verteidigung in seiner Eröffnungsrede bereits an und nahm insbesondere auch zu dem schwersten, gegen ihn erhobenen Vorwurf, nämlich der Verantwortung für den angeblich von Serben an der muslimischen Bevölkerung Srebrenicas begangenen rund 8000fachen Mord, Stellung. Er erklärte, daß die serbische Seite in der Region Srebrenica auf Angriffe der muslimisch-bosnischen Kampftruppen reagiert hätte, wobei "höchstens 2000 bis 3000" Menschen getötet worden seien, "aber keineswegs 8372, wie dies auf einem Gedenkstein behauptet wird". Später ausgegrabene Leichname, so Karadzic, könnten aus anderen Kampfgebieten nach Srebrenica gebracht worden sein. Den Vorwurf, junge Männer seien von serbischen Kräften grundlos erschossen worden, wies er als "bösartige Propaganda" zurück. Vielmehr habe er damals eindeutige Befehle erlassen, "keine Racheakte an Muslimen zuzulassen".

Mit diesen Einlassungen hat Karadzic bereits unmißverständlich klargestellt, daß er nicht bereit ist, die von der NATO wie auch dem Den Haager Tribunal vorgehaltene historische Darstellung der Kriegsereignisse wie auch ihre juristische Zuspitzung auch nur ansatzweise zu übernehmen. Wären die gegen ihn erhobenen Vorwürfe so fundiert und über jeden vernünftigen und juristisch nachweisbaren Zweifel erhaben, müßten die Ankläger dem bevorstehenden Prozeß gelassen entgegensehen können, weil es ihnen keine Schwierigkeiten bereiten dürfte, die Gegenhaltungen Karadzics mit unanfechtbaren juristischen Mitteln zu entkräften und zu widerlegen. Doch danach sieht es ganz und gar nicht aus, was zum Teil an Aussagen liegt, die in früheren Prozessen vor dem Den Haager Tribunal gemacht worden sind.

So war der ehemalige Oberkommandierende der bosnisch-muslimischen Truppen, General Sefer Halilovic, am 16. November 2005 von dem Den Haager Tribunal vom Vorwurf der Mitverantwortung an in zwei Dörfern begangenen Kriegsverbrechen freigesprochen worden. Als Zeuge hatte der General gleichwohl Aussagen gemacht, die mit der offiziellen und vom Tribunal als historische Wahrheit behandelten Version schwerlich in Übereinstimmung zu bringen sind. Halilovic, ehemaliger Befehlshaber der Armee Bosnien-Herzegowinas, hatte eingeräumt, daß vor der Einnahme Srebrenicas 5.500 Soldaten der 28. Division dort stationiert gewesen waren und daß sie, wenige Tage vor den Ereignissen, die später als serbischer Massenmord in die Geschichtsbücher Eingang finden sollten, den Befehl erhalten hatten, ein militärisch unbedeutsames serbisches Dorf anzugreifen. 18 höhere Offiziere hatten zudem den Befehl erhalten, sich aus Srebrenica zurückzuziehen, sodaß die Stadt schließlich, wie Halilovic bestätigte, von einer kleinen serbischen Streitmacht, bestehend aus fünf Panzern und 200 Soldaten, ebenso kampf- wie widerstandslos eingenommen werden konnte.

Selbst der berüchtigte Stadtkommandant von Srebrenica, Naser Oric, hatte auf den Befehl der bosnisch-muslimischen Führung in Sarajewo hin die Stadt verlassen. Daß es in dieser Situation seitens der serbischen Kräfte zu Verbrechen an der muslimischen Zivilbevölkerung gekommen ist, wurde von seiten der bosnischen Serben keineswegs in Abrede gestellt. So hatte Miroslav Toholj, der während des Bürgerkriegs Informationsminister der Republika Srpska in Bosnien gewesen war, in einem 2005 geführten Interview [2] zur Einnahme Srebrenicas erklärt:

Wir wollten die Stadt eigentlich gar nicht erobern, sondern sie wurde vom Gegner geräumt und uns sozusagen angeboten. In den Tagen zuvor war es zu Kämpfen in der Umgebung gekommen, und als wir dann mit sehr schwachen Kräften - vielleicht 200 bis 300 Soldaten - den Stadtrand erreichten, stellten wir fest, daß der Gegner weg war. In dieser Situation entschlossen wir uns zur Besetzung. Aber es gab gleich am 11. Juli einen ausdrücklichen schriftlichen Befehl von Präsident Karadzic, daß die moslemischen Zivilisten strikt zu schonen und die moslemischen Soldaten, falls man welche gefangennehmen sollte, nach den Regeln der Genfer Konvention zu behandeln sind.

Daß wir uns schließlich zu diesem Schritt entschlossen haben, erklärt sich auch aus der Vorgeschichte. Daß der UN-Sicherheitsrat die Stadt zur Schutzzone erklärt hatte, war nämlich nicht nur eine Verpflichtung für uns, sondern beinhaltete auch eine Verpflichtung für die moslemische Armee, nämlich die Verpflichtung zur Demilitarisierung Srebrenicas. Diese Verpflichtung wurde niemals umgesetzt, und mit den nicht abgelieferten Waffen wurden laufend von der Stadt aus terroristische Angriffe auf die serbischen Dörfer im Umland verübt.

Der vielfach erhobene Einwand, dieser Tagesbefehl Karadzics sei zur Tarnung oder Täuschung ergangen, während der bosnisch-serbische Präsident durch geheime Befehle eben doch ein Massaker angeordnet hätte, läßt sich nicht nachweisen. Im Gegenteil. So hat das Niederländische Institut für Kriegsdokumentation (NIOD) in seinem im April 2002 vorgelegten Untersuchungsbericht zu Srebrenica zu der Frage, ob die bosnisch-serbische Führung um Präsident Karadzic und General Mladic für die Massaker verantwortlich gemacht werden könnte, festgestellt: "Ein schriftlicher Befehl wurde nicht gefunden ... Es ist unwahrscheinlich, daß (das Massaker) lange vorher in dieser spezifischen Form und in diesem Ausmaß geplant worden war."

Diese Fragen und viele mehr könnten und müßten in dem bevorstehenden Verfahren gegen Karadzic thematisiert und kontrovers aufgeworfen werden. Dabei könnte sich ein Bild abzeichnen, das die Verhältnisse auf den Kopf stellen und die NATO-Verantwortlichen als die eigentlichen Kriegsverantwortlichen bloßstellen könnte. Nicht auszudenken, wenn vor dem Den Haager Tribunal zur Sprache gebracht werden würde, was der frühere UN-Generalsekretär Kofi Annan für wert befunden hat, in seinen am 15. November 1999 veröffentlichten Bericht mit aufgenommen zu werden. Darin berichtete Annan über ein Treffen, das angeblich am 28. und 29. November 1993 in Sarajewo zwischen dem damaligen US-Präsidenten Bill Clinton und der bosnisch-muslimischen Führung stattgefunden haben soll und auf dem besprochen wurde, daß es nach Clintons Äußerungen eine Intervention der NATO zugunsten der muslimisch-kroatischen Allianz in diesem Krieg nur geben könne, wenn es zuvor in Srebrenica zu einem von Serben begangenen Massaker an mindestens 5.000 Menschen käme. Von bosnisch-muslimischen Beteiligten an dieser Verabredung zu einem Massenmord auf Bestellung wird der Inhalt dieser Unterredung durchaus bestätigt.

Da Karadzic, wie sein Auftreten in seiner Eröffnungsrede belegt, keineswegs bereit ist, sich dem Tribunal und der durch es repräsentierten Übermacht zu unterwerfen, ist sehr gut vorstellbar, daß das eigentliche Problem in dem bevorstehenden Verfahren paradoxerweise nicht auf der Seite des Angeklagten liegt, wiewohl dieser keine Chance auf ein faires und gerechtes Urteil haben kann, sondern im Dunstkreis der Ankläger zu vermuten ist, weil sie, allen Manipulationen und Manipulationsversuchen zum Trotz, die Macht historischer und juristisch belegbarer Fakten gegen sich haben. Zu diesen Fakten wäre beispielsweise die Aussage des bosnischen Muslim Hakija Meholjic zu rechnen, der vor niederländischen Dokumentarfilmern die Angaben über die Unterredung zwischen Clinton und der bosnisch-muslimischen Führung, an der er selbst teilgenommen hatte, bestätigte. Meholjic, bis zur Einnahme Srebrencias durch die bosnisch-serbische Armee Polizeichef der Stadt und Gefolgsmann des berüchtigten Stadtkommandeurs Naser Oric, hatte dieses Treffen auch in einem in der bosnisch-muslimischen Zeitung "Dani" am 22. Juni 1996 in Sarajewo veröffentlichten Interview erwähnt.

In dem Annan-Bericht wird der damalige Präsident der bosnischen Muslime, Alija Izetbegovic, in diesem Zusammenhang namentlich erwähnt [3]:

Einige überlebende Mitglieder der Srebrenica-Delegation haben behauptet, daß Präsident Izetbegovic ihnen auch gesagt habe, er habe erfahren, daß eine NATO-Intervention in Bosnien-Herzegowina möglich sei, aber nur in dem Fall stattfinden könne, daß die Serben in Srebrenica eindringen und dabei mindestens 5.000 Einwohner töten würden. Präsident Izetbegovic hat entschieden bestritten, eine solche Aussage gemacht zu haben.

Dieses Dementi Izetbegovics, gemacht vor UN-Ermittlern, ist nicht unbedingt glaubwürdig, da der erklärte Widersacher der bosnischen Serben kurz vor seinem Tod gegenüber aus westlicher Sicht höchst glaubwürdigen Zeugen - wenn auch in einem anderen Zusammenhang - eingeräumt hat, zur Herbeiführung des Eingreifens der NATO in den Bürgerkrieg gelogen zu haben. Wie einem Buch des späteren französischen Außenministers Bernard Kouchner und damaligen Repräsentanten der Hilfsorganisation "Ärzte ohne Grenzen" zu entnehmen ist, hat Izetbegovic diesem gegenüber wie auch im Beisein des früheren US-Unterhändlers Richard Holbrooke dargelegt, daß die von ihm behaupteten serbischen Konzentrationslager von ihm erfunden worden waren. "Es gab keine Vernichtungslager, wie schrecklich auch immer diese Orte gewesen sind", stellte Izetbegovic vor seinem Tod klar und begründete sein vorheriges Vorgehen folgendermaßen: "Ich dachte, meine Enthüllungen würden die Bombardements beschleunigen."

Gegen Izetbegovic waren schwerwiegende Vorwürfe auch aus den eigenen Reihen erhoben worden. Ibran Mustafic, Vorsitzender der Izetbegovic-Partei SDA in Srebrenica, war nach der Einnahme der Stadt von der bosnisch-serbischen Armee gefangengenommen, im Austausch gegen einen hochrangigen serbischen Offizier jedoch wieder freigelassen worden. Gegenüber muslimischen Medien erhob er später schwerste Vorwürfe gegen die eigene Führung um Präsident Izetbegovic. So war in dem Magazin "Slobodna Bosna" am 17. Juni 1996 ein Interview erschienen, in dem Mustafic die Anschuldigung erhob, daß Srebrenica von der bosnischen Präsidentschaft (Izetbegovic) und dem eigenen Oberkommando verraten worden war [1]:

Das Szenario für den Verrat an Srebrenica wurde bewusst vorbereitet. Leider waren die bosnische Präsidentschaft und das Armeeoberkommando an diesem Geschäft beteiligt. Hätte ich Befehle erhalten, die serbische Armee von der entmilitarisierten Zone aus anzugreifen, hätte ich abgelehnt, diesen Befehl ohne Nachzudenken auszuführen, und hätte den Menschen, der diesen Befehl erlassen hatte, aufgefordert, seine Familie nach Srebrenica zu bringen, damit ich ihm ein Gewehr geben und einen Angriff aus der entmilitarisierten Zone heraus inszenieren lassen kann. Ich wusste, dass solche beschämenden, kalkulierten Manöver unser Volk in die Katastrophe führen würden. Der Befehl kam aus Sarajevo.

Alija Izetbegovic war im ehemaligen Jugoslawien lange vor Ausbruch des bosnischen Bürgerkrieges (1983) wegen der von ihm in den Jahren seiner Untergrundtätigkeit zwischen 1966 und 1970 verfaßten "Islamischen Denkschrift" zu einer Haftstrafe von 14 Jahren verurteilt, nach sechs Jahren jedoch entlassen worden, woraufhin er die muslimische Partei der Demokratischen Aktion (SDA) gründete. Seine früheren Ausführungen mögen seine späteren Verbündeten in den Reihen der NATO-Staaten zu der Auffassung gebracht haben, in ihm und seinen Mitstreitern einen Kämpfer gefunden zu haben, der sich mit absoluter Gewähr für die Zerschlagung der Bundesrepublik Jugoslawien und damit auch der den Gesamtstaat verteidigenden bosnischen Serben sowie der Republik Serbien einsetzen lassen würde. Daß die westlichen Staaten dabei auf eine radikal-islamische Karte setzten, stellte dabei nicht das geringste Hindernis dar, und so gilt inzwischen als einigermaßen sicher, daß der tatsächliche Osama bin Laden 1993 inmitten des bosnischen Bürgerkrieges in Wien einen bosnischen Paß erhielt und mehrfach zu Gesprächen in Sarajewo im Präsidentenpalast Izetbegovics weilte.

All dies und noch viel mehr könnte in dem bevorstehenden Prozeß gegen Radovan Karadzic zur Sprache gebracht und einer näheren Untersuchung und Prüfung unterzogen werden. Im Interesse der NATO-Staaten, die das Den Haager Tribunal mittels der Vereinten Nationen ins Leben gerufen haben, wird dies kaum sein können. Die Erklärungen des Angeklagten in der Eröffnungsrede seiner Verteidigung mögen für eine desinformierte Öffentlichkeit, die ihre Informationen bislang einzig aus Medien gezogen haben, die sich der von dieser Kriegspartei vorgelegten Geschichtsdeutung unterworfen haben, unglaubwürdig und befremdlich wirken. Würde Karadzic, wie es eine Selbstverständlichkeit sein müßte, tatsächlich die Möglichkeit, sich umfassend und unter Nutzung aller bislang erarbeiteten Untersuchungen und verfügbaren Unterlagen zu verteidigen, eingeräumt werden, könnte es für die NATO-Staaten und die von ihnen unterstützte muslimisch-kroatische Kriegsallianz - rein theoretisch gesprochen - ein böses Erwachen geben.

Karadzic hat in seiner Eröffnungsrede dargelegt, daß er als Präsident der bosnischen Serbenrepublik die Einheit Jugoslawiens verteidigen und damit den Frieden auf dem Balkan wahren wollte, während die muslimischen Radikalen in der SDA, der Partei Izetbegovics, geplant hätten, den Balkan für arabische Fundamentalisten zu öffnen. Nur "unter Schmerzen" hätten die bosnischen Serben, so Karadzic, Anfang der 1990er Jahre der Aufteilung Bosniens zugestimmt. Und: "Wir wollten nie Krieg, den wollten nur die anderen."

Ginge es tatsächlich vor dem Den Haager Tribunal um die juristische und insofern auch historische Aufarbeitung der Balkankriege und der in ihnen, wie zu vermuten ist, von allen Kriegsbeteiligten verübten Kriegsverbrechen, könnte dieses Forum unter Umständen ein Jota zur Beilegung des nach wie vor nachwirkenden Konfliktes beitragen. Dies anzunehmen, wäre nach dem Verlauf des Milosevic-Verfahrens allerdings geradezu sträflich, und so darf getrost prognostiziert werden, daß sich die Einschätzung, auch im Karadzic-Prozeß solle nichts anderes als die letztgültige juristische Entlastung für die NATO einseitig zu Lasten der unterlegenen Seite erwirtschaftet werden, in dessen weiterem Verlauf Schritt für Schritt erhärten lassen wird.

Anmerkungen

[1] Srebrenica und die Politik der Kriegsverbrechen, eine Analyse von George Bogdanich, vom 17. Juni 2005,
www.free-slobo.de/notes/050617gb.pdf

[2] "Sarajevo versucht, Beweise zu manipulieren", Interview mit Miroslav Toholj, von Jürgen Elsässer, erschienen in der jungen Welt vom 11. Juli 2005

[3] Srebrenica und das Video, von Dr. Werner Sauer, Graz, begonnen am 18. Juli 2005,
www.labournetaustria.at/archiv41.htm

5. März 2010



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