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DILJA/237: Distomo-Massaker - Der Instanzenweg will von deutscher Schuld nichts wissen (SB)


Wer den Instanzenweg beschreitet, macht bittere Erfahrungen

Nach deutschen Gerichten lehnt auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Entschädigungsklage von Distomo-Opfern ab


Zweiter Weltkrieg, Griechenland. Das von der deutschen Wehrmacht besetzte Griechenland, dessen Bevölkerung sich mit der Besatzung durch die faschistischen Truppen Nazi-Deutschlands nicht abfand und Widerstand leistete. Die Angriffe der griechischen Partisanen wurden von der deutschen Wehrmacht wie auch der Waffen-SS mit ihrer gewohnten und keineswegs nur auf den griechischen Kriegsschauplatz begrenzten Terrormethode "beantwortet". Der berüchtigte 100:1-Befehl, demzufolge für jeden getöteten deutschen Offizier hundert wahllos zusammengesuchte Menschen aus der örtlichen Bevölkerung getötet wurden, um auf diese Weise den Widerstand zu brechen, wurde mit deutscher Gründlichkeit befolgt. Mit äußerster Brutalität gingen die deutschen Besatzer gegen den ihnen entgegenschlagenden Widerstand vor. So auch in Griechenland. So auch am 10. Juni 1944, als gegen 17.30 Uhr Angehörige eines Regiments der 4. SS-Polizei-Panzergrenadierdivision in die griechische Ortschaft Distomo einrückten. Im nahegelegenen Stiri hatten Partisanen zuvor bei einem Angriff drei deutsche Soldaten getötet.

Was nun folgte, ging als eines der grausamsten, aber keineswegs einzigartigen Massaker in die Geschichte dieses Krieges ein. 228 der einst rund 1800 Bewohner Distomos wurden durch die SS, die den ganzen Ort anschließend niederbrannte, getötet. Bei den Opfern handelte es sich überwiegend um alte Menschen, Frauen und 34 Kinder. Aus Sicht Nazi-Deutschlands war dies eine "Sühnemaßnahme". Diese Bezeichnung zu übernehmen, würde bedeuten, den Standpunkt Nazideutschlands in dieser Frage einzunehmen und den Abwehrkampf griechischer Partisanen gegen eine ausländische, ihr Land besetzt haltende und die Bevölkerung terrorisierende Armee für illegitim zu erklären. Das deutsche Bundesverfassungsgericht bezieht nach Angaben des Rechtsanwalts Martin Klingner, der drei Distomo-Überlebende vertritt, den Standpunkt, Distomo sei ein "unerlaubter Exzeß einer an sich zulässigen Vergeltungsmaßnahme" gewesen, weshalb es sich um kein NS-Unrecht, sondern "allgemeines Kriegsschicksal" [1] gehandelt habe.

Wie ein solches Verbrechen gleichzeitig unerlaubt und zulässig sein kann, mag eine Frage sein, deren Beantwortung, so dies denn überhaupt möglich sein sollte, im Verantwortungsbereich des höchsten deutschen Gerichts zu verorten wäre. Allein, das Bundesverfassungsgericht wird dazu kaum Gelegenheit haben, genauer gesagt wohl nicht mehr in eine solche Verlegenheit gebracht werden können. Die einzelnen Stationen des gerichtlichen Instanzenweges arbeiten reibungs- und nahtlos ineinander, und so haben griechische Kläger aus Distomo, zumindest was deutsche Gerichte betrifft, nicht die geringsten Aussichten auf Entschädigung und damit eine, wenn auch sehr späte, offizielle Anerkennung der in diesem Ort verübten Verbrechen. Um die Abwehr etwaiger Entschädigungsansprüche hat sich auch der Bundesgerichtshof verdient gemacht, indem er geltend machte, daß das deutsche Amtshaftungsrecht, das Entschädigungsansprüche für Bürger bei Rechtsverletzungen durch staatliche Organe begründet, im Krieg nicht anwendbar sei.

Sämtliche deutsche Gerichte sind sich in ihren Feststellungen und Urteilen darin einig, daß Verbrechen in diesem Krieg nicht Gegenstand von Ansprüchen ziviler Einzelpersonen sein können, sondern ausschließlich im Zusammenhang von zwischen Staaten ausgehandelten Reparationsfragen geahndet werden können. Ganz offensichtlich ist die deutsche Justiz, genauer gesagt die Justiz der Bundesrepublik Deutschland, die 1949, wie in jedem Lexikon nachzulesen ist, auf der Basis des am 8. Mai desselben Jahres durch die Parlamentarische Versammlung angenommenen Grundgesetzes als demokratisch-parlamentarischer Bundesstaat ins Leben gerufen wurde, in den seitdem vergangenen sechs Jahrzehnten konsequent dabei geblieben, den deutschen Staat von Schadenersatzansprüchen freizuhalten. Martin Klingner wies darauf hin, daß alle bisherigen deutschen Regierungen wie auch die Gerichte die Auffassung vertreten, das Deutsche Reich sei niemals untergegangen, weshalb die Bundesrepublik nicht sein Rechtsnachfolger, sondern mit ihm identisch sei. Diese Rechtsauffassung hätte dem Zweck gegolten, die deutsche Wiedervereinigung wie auch die "verlorengegangenen" Ostgebiete beanspruchen zu können.

Den Opfern deutscher Kriegsverbrechen umfangreiche Entschädigungsansprüche unbürokratisch zuzugestehen, wie es eine politische, moralische und damit auch juristische Selbstverständlichkeit gewesen wäre, wäre die neue Republik tatsächlich aus einem antifaschistischen Guß und der damals vorherrschenden Devise "Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus" verpflichtet gewesen, kam deutschen Regierungen und Gerichten einfach nicht in den Sinn. Von anderen europäischen Gerichten, die sich in ihrer Urteilsfindung und Beschlußfassung selbstverständlich nicht der deutschen Staatsräson verpflichtet sehen können, wurden gänzlich andere Entscheidungen in dieser Frage getroffen.

In Italien werden seit zehn Jahren Strafverfahren gegen Angehörige der Wehrmacht wie auch der SS durchgeführt, die neben Verurteilungen der Täter auch zu Entschädigungsverpflichtungen gegenüber den Opfern bzw. ihren Angehörigen führten. Allein, was kümmern die Entscheidungen italienischer Gerichte deutsche Regierungen? Um den Opfern zu den ihnen zugesprochenen Rechten zu verhelfen, hat der italienische Kassationsgerichtshof im Jahre 2008 in Rom entschieden, daß zur Durchsetzung dieser Ansprüche in Italien die Pfändung deutschen Staatseigentums möglich sei. Namentlich für die Kläger aus Distomo wurde vom dem Gerichtshof in Rom geklärt, daß die Zahlungsansprüche der Deutschen Bahn gegen die italienische Staatsbahn herangezogen werden können. Damit wurde die deutsche Bundesregierung an einer empfindlichen Stelle getroffen. Sie setzte sich allem Anschein nach mit der italienischen Regierung ins Benehmen mit der Folge, daß Silvio Berlusconi dieses Vollstreckungsverfahren per Dekret stoppen ließ.

Es sind die Gerichte Italiens, nicht deren Regierung, die den Standpunkt Deutschlands, es habe ein Recht auf Staatsimmunität, bei solch schwerwiegenden Vorwürfen wie Kriegsverbrechen nicht gelten lassen. Es ist eine noch offene Frage, ob deutsche Regierungsstellen nach so langer Zeit immer noch eine Flut von Entschädigungsforderungen und -klagen fürchten, oder ob diese starre und das Renommee der Bundesrepublik schädigende Haltung zugleich auch der Zukunft gewidmet ist, in der, wie im Afghanistankrieg bereits geschehen, ebenfalls Entschädigungen gefordert werden könnten. In Hinsicht auf Griechenland kommt noch erschwerend hinzu, daß die heutige Schuldenkrise, die das Land in seiner Zwangsabhängigkeit von der EU an den Rand des Staatsbankrotts getrieben und in eine sozial wie politisch katastrophale Lage manövriert hat, möglicherweise gar nicht in einem solchen Ausmaß entstanden wäre, hätte die deutsche Regierung nicht einen enormen Druck auf die griechische ausgeübt, als es um diese Entschädigungsforderungen ging.

So ist heute kaum bekannt, daß der Oberste Gerichtshof Griechenlands, der Areopag, im Jahre 2001 die Entschädigungsforderungen für rechtmäßig erklärt hatte. Die damalige Bundesregierung setzte die griechische Regierung jedoch massiv unter Druck, um die Vollstreckung dieser Ansprüche zu verhindern - was ihr auch gelang. Das damalige Druckmittel war - ausgerechnet - der Beitritt Griechenlands zur Eurozone, weshalb Gabriele Heinecke, eine weitere Rechtsanwältin der Distomo-Kläger, schon vor einem Jahr die Auffassung vertrat, daß Griechenland wahrscheinlich besser gefahren wäre, hätte es sich 2001 nicht zwingen lassen, die Vollstreckung aufzugeben mit der Folge, daß der südeuropäische Staat der Euro-Zone nicht beigetreten wäre [2] und damit nicht die Rettungsmaßnahme in wirtschaftlichen Krisenzeiten, nämlich die eigene Währung abzuwerten, verloren hätte.

Nun haben die Distomo-Kläger, die den Instanzenweg über die deutschen Grenzen hinweg bis hin zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingeschlagen haben, auch hier die Erfahrung machen müssen, daß Recht nur auf der Basis von Unrecht bestehen und gedacht werden kann. Seit 2006 war an diesem Gericht die Beschwerde der Geschwister Sfountouris, die als Kinder das Massaker von Distomo durch die menschliche Regung eines SS-Angehörigen überleben konnten, anhängig. Das Straßburger Gericht befand, daß nach der Europäischen Menschenrechtskonvention kein Staat zu Wiedergutmachungen für Schäden oder Unrecht verpflichtet werden könne, die seine Vorgängerstaaten verübt hätten. Das europäische Gericht ignorierte damit den von deutschen Gerichten und Regierungen vertretenen Standpunkt, keineswegs nur der Rechtsnachfolger des NS-Staates zu sein.

Rechtsanwendung und -auslegung gehorchen den Zweckbestimmungen und Zielsetzungen derer, die darüber die Definitions- und Auslegungshoheit haben. Deutsche Gerichte erkennen zwar das unermeßliche Leid der Opfer bzw. Hinterbliebenen an, doch damit auch genug. Im Bundesentschädigungsgesetz von 1953 wurde eigens festgelegt, daß die Opfer der NS-Verfolgung, nicht jedoch die der Kriegshandlungen, entschädigt werden müßten; eine Beschwerde dagegen nahm das Bundesverfassungsgericht im Februar 2006 lieber gar nicht erst an. Die vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte von den Klägern geltend gemachte Argumentation, es sei eine Diskriminierung, wenn die Opfer der NS-Verfolgung und auch Zwangsarbeiter entschädigt werden würden, nicht jedoch die der damaligen deutschen Wehrmacht, wurde in Straßburg ebenfalls ignoriert.

Nebenbei bemerkt wurde das Massaker von Distomo nicht von der Wehrmacht, sondern von der SS verübt... Die Mühlen einer Justiz, die grenzüberschreitend die Interessen der Sieger in Buchstaben und Gesetze gießt und dementsprechend umsetzt, mahlen keineswegs nur langsam, so als würde es im Interesse der Opfer und Hinterbliebenen sein können, noch länger zu warten, als sie es ohnehin schon getan haben. Diese Mühlen mahlen konsequent nur in einer einzigen Richtung und zu einem einzigen Zweck, der die Anerkennung einer Schuld Deutschlands nun einmal nicht vorsieht.


Anmerkungen

[1] "Vernichtungsabsicht der Nazis wird ignoriert". Entschädigungsklage griechischer SS-Opfer von Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte zurückgewiesen. Gespräch mit Martin Klingner, junge Welt, 11.07.2011, S. 8

[2] "Deutschland hat Schulden". Ein Gespräch mit Argyris Sfountouris, Gabriele Heinecke und Martin Klingner, junge Welt, 17.06.2010, S. 3

21. Juli 2011