Schattenblick → INFOPOOL → REDAKTION → REPORT


ZEITZEUGEN LINKS/010: Treu geblieben - mit harten Bandagen ...    Rolf Becker im Gespräch (SB)


Grafik: copy; 2016 by Schattenblick


Sturmlauf gegen das bürgerliche Theater und dessen Restauration

Gespräch mit Rolf Becker am 18. Oktober 2016 in Hamburg-St. Georg - Teil 4

Rolf Becker nimmt uns im vierten Teil des Gesprächs mit in die eskalierende Auseinandersetzung am Bremer Theater, auf deren Höhepunkt der grenzüberschreitende Entwurf der "Kollektiv-Produktion" abgeschmettert wird: "Politisches Theater ja, Politik im Theater, nein." Dies war für das Anliegen, zur Veränderung der damaligen gesellschaftlichen Verhältnisse auch mit künstlerischen Mitteln beizutragen, aber auch für seinen persönlichen Lebensweg mit einschneidenden Konsequenzen verbunden.


Im Gespräch - Foto: © 2016 by Schattenblick

Rolf Becker
Foto: © 2016 by Schattenblick


Schattenblick: Worum ging es bei der damaligen Kontroverse mit Hübner?

Rolf Becker: 7. September 1968: meine letzte Inszenierung, nicht nur in Bremen, sondern überhaupt, war "Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny" von Bertolt Brecht, Musik Kurt Weill, eine Aufführung, an die ich mich gern erinnere, auch wegen der Zusammenarbeit mit Lambert Maria Wintersberger [1], der das Bühnenbild machte. Mit der nachfolgenden Arbeit, der "Frauenvolksversammlung" [2], kam es nach vorausgegangenen, aber immer irgendwie noch halbwegs beigelegten Auseinandersetzungen, zur Eskalation am Bremer Theater.

Claus Bremer, mit dem ich die Komödie von Aristophanes ins Deutsche übersetzt hatte, wurde Mitarbeiter unserer "Kollektiv-Produktion". Am ersten Probentag hatte ich in Absprache mit ihm dem Ensemble die Regie übergeben. Wir haben anhand der Texte "prozesshaft" gearbeitet, also Diskussionen während der Proben aufgeschrieben und als Einschübe - Kommentare oder zusätzliche Szenen - in das Darzustellende eingearbeitet. Debatten innerhalb des Ensembles hatten zur Folge, dass ein großer Teil ausstieg. Andere, aus dem "Tasso"-Ensemble von Peter Stein [3], solidarisierten sich und beteiligten sich an der halbszenischen Veranstaltung. Nur Fetzen der Texte gespielt, das übrige vorgelesen. Wir spielten nicht Theater, sondern machten das Theater zum Thema, zugleich die damaligen Gesellschaftsverhältnisse, die wir im Zuge der Schüler- und Studentenbewegung gegen Notstandsgesetzgebung und Vietnamkriegs-Politik verändern wollten.

Wir spielten auf der großen Bühne des Goethe-Theaters. Die Zuschauer wurden durch den Zuschauerraum mit auf die Bühne geleitet. Hinter ihnen schloss sich der eiserne Vorhang. Turnhallenbänke als Sitzplätze, im Quarre um die leere Spielfläche gestellt, nur ein großer Stapel Manuskripte lag für das Ende der Veranstaltung bereit, das Ensemble in privater Garderobe, also keine Kostüme, eine Würstchenbude mit Getränken im Hintergrund. Als Auftakt Pink Floyd Music, einzige Beleuchtung eine 10.000 Watt Glühbirne, die von Hell auf Dunkel und wieder Hell gedimmt wurde. Zaghafte Stimme aus dem Publikum: "Lotti, gleich fliegen wir in die Luft."

Kurt Hübner und Wilfried Minks - Peter Zadek war auswärts - hatten angekündigt, der Veranstaltung fernzubleiben. Minks hielt sich daran. Hübner meldete sich irgendwann laut von einer der Galerien des Schnürbodens: "Rolf, das ist Quatsch!" Allgemeine Irritation, dann noch lauter: "Ich wiederhole, das ist Quatsch". Nach mehrfachen Aufforderung kam er zu uns runter und beteiligte sich, jetzt mit uns auf gleicher Ebene, zusammen mit dem besorgt blickenden Verwaltungsdirektor Erich Dünnwald und etliche Zuschauer auch, an der inzwischen stattfindenden Mischung aus Vortrag, Darstellung und Diskussion. Er selbst hatte ja in leitender Funktion zu denen gehört, die die vorangegangene Periode des Nachkriegstheaters in Frage gestellt hatten. An diesem Abend aber wurde eine für ihn unüberschreitbare Grenze missachtet: "Politisches Theater ja, Politik im Theater, nein."

Unser Auftritt endete mit den Sätzen: "Den Rest des Stückes können Sie nachlesen. Trennen Sie sich von dieser GmbH. Geben Sie das Theater auf!" Das "Aha" unseres Verwaltungsdirektors verkannte, dass wir nicht das Theater überhaupt meinten, sondern die besondere Form des in Bremen wie auch sonst im Lande gepflegten bürgerlichen Theaters.

Die Premiere fand am 31. März statt, und mit ihr endete nach sechsjähriger Zusammenarbeit meine Bremer Theaterzeit. Die fristlose Entlassung war bereits sechs Wochen zuvor "im gegenseitigen Einvernehmen" erfolgt - Hübners Bedingung, die Premiere überhaupt zuzulassen statt schon die Probenarbeit zu beenden. Ich arbeite seitdem als Schauspieler, habe auch bei Hübner noch wieder gespielt, wir blieben uns trotz unterschiedlicher politischer Positionen in Freundschaft verbunden.

Zur von uns geplanten "prozesshaften Weiterarbeit" zusammen mit Besuchern folgender Veranstaltungen kam es nicht mehr, die "Frauenvolksversammlung" wurde vom Spielplan abgesetzt, also verboten. Für mich begann eine - auch finanziell - schwierige Zeit, weil die Informationen über den Abend und sein Zustandekommen nicht nur von den Medien sondern auch vom Deutschen Bühnenverein verbreitet wurden - damit war ich für weitere Theaterarbeiten gesperrt. Unerwarteter Ausweg: Fernsehen. Und dank Ivan Nagel [4], der unserem Versuch mit Aristophanes "Frauenvolksversammlung" mit Vergnügen - Wein trinkend und Würstchen essend - gefolgt war, konnte ich bereits drei Jahre später am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg auch auf der Bühne weitermachen. Persönliche Konsequenz: keinerlei Funktionen wieder zu übernehmen, auch keine Regie, nur noch als Schauspieler zu arbeiten.

SB: In welchem Zusammenhang stand der Film "Ich bin ein Elefant, Madame" von Peter Zadek, in dem du mitgespielt hast, mit den Bremer Schülerstreiks?

RB: Vorangegangen war 1965 Zadeks Inszenierung von Thomas Valentins [5] "Die Unberatenen" am Bremer Theater. Er hatte Robert Muller [6] aus England hinzugezogen, der die Dramatisierung des Romans besorgte. Differenzen mit dem Autor waren die Folge, der als Konsequenz das Bremer Theater verließ. Valentin hatte in seinem Roman die Schülerinnen und Schüler als Vorläufer einer sich entwickelnden Protestgeneration beschrieben, Zadek und Muller reduzierten den Protest dieser Gruppe, die gegen autoritäre und von nationalsozialistischer Vergangenheit geprägte Eltern und Lehrer rebellierte, auf die Figur des Einzelgängers Rull.

Die Schüler- und Studentenunruhen 1968 nahm Zadek zum Anlass für die Verfilmung des Stoffes unter dem Titel "Ich bin ein Elefant, Madame" - inhaltlich jedoch mit einer entscheidenden Wendung: Er blieb, und da gab es weder Zweifel noch Widerspruch, bei seinem antifaschistischen Anliegen, distanzierte sich aber entschieden von der eben ausbrechenden Protestbewegung, deren Anfänge Thomas Valentin in seinem Roman geschildert hatte. Zadek, nachlesbar im "Spiegel" von damals, sinngemäß: "Wo sich mehr als drei Deutsche im Gleichschritt bewegen, handelt es sich um Faschisten." Das war der Bruch. Ich habe die Rolle noch zu Ende gespielt, allerdings mit größtem Unbehagen. Problem war: wir hatten keine vollständigen Drehbücher, nur Rollenauszüge, Texte für die einzelnen Szenen, versuchten uns die Zusammenhänge aus dem zu erklären, was wir während der Dreharbeiten wahrnahmen. Verstanden haben wir sie erst, als wir den Film gesehen haben.

Rückblickend von heute auf die gesellschaftliche Entwicklung seitdem: Zadeks pauschale Abwertung der 68er Bewegung als drohenden faschistischen Anlauf hat sich tendenziell für große Teile der damals Beteiligten leider bestätigt, - eine künstlerische und politische Weitsichtigkeit, die von uns damals nicht wahrgenommen wurde. Zusammengefunden haben Zadek und ich entsprechend erst ein Vierteljahrhundert danach.

Dass die Hübner-Ära zu einer "Sternstunde" des Nachkriegstheaters in Westdeutschland wurde, ist aus meiner Sicht im günstigen Zusammentreffen objektiver und subjektiver Voraussetzungen begründet: Die besten Jahre der Bundesrepublik, die 1960 begannen, endeten mit der Niederschlagung der Studentenbewegung, spätestens mit der seit 1973 fortschreitenden ökonomischen Krise. Die besten Jahre des Bremer Theaters liegen im gleichen Zeitraum. Ein Zufall? Ich denke nicht. Es bleibt Verdienst Kurt Hübners und des Bremer Ensembles, dieser Epoche mit den Mitteln des Theaters Ausdruck verliehen zu haben.

(wird fortgesetzt)


Fußnoten:

[1] "Die Frauenvolksversammlung" ist eine klassische griechische Komödie, die der Dichter Aristophanes um 392 v. Chr. schrieb. In ihr stellte er Frauen als eine latente revolutionäre Kraft dar.

[2] Lambert Maria Wintersberger (1941-2013) war ein deutscher Maler.

[3] Peter Stein (geb. 1937) ist ein deutscher Theater-, Opern- und Filmregisseur und ehemaliger Theaterleiter. Zahlreiche seiner Inszenierungen haben Theatergeschichte geschrieben, insbesondere die bahnbrechenden Aufführungen an der Berliner Schaubühne, die er inhaltlich erneuert und seinerzeit zu einem der bedeutendsten Theater weltweit gemacht hatte.

[4] Ivan Nagel (1931-2012) war ein ungarisch-deutscher Theaterwissenschaftler, Kritiker, Publizist und Theaterintendant. Er war von 1960 bis 1969 Chefdramaturg der Münchner Kammerspiele, wo es u. a. zur Zusammenarbeit mit Peter Stein kam. 1972 wurde er zum Intendanten des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg ernannt und blieb dies bis 1979. In dieser Zeit arbeitete er mit zahlreichen renommierten Regisseuren, darunter auch Peter Zadek und Luc Bondy.

[5] Thomas Valentin (1922-1980) war ein deutscher Schriftsteller. Er hat zeitkritische Romane, Erzählungen, Theaterstücke und Drehbücher verfaßt, die häufig Probleme von Kindern und Jugendlichen schildern.

[6] Robert Muller (1925-1998) war ein Autor, Drehbuchautor und Journalist.

23. Februar 2017


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang