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PRESSE/634: Interview mit S.H. dem Dalai Lama (Buddhismus aktuell)


Buddhismus aktuell, Ausgabe 4/2007
Zeitschrift der Deutschen Buddhistischen Union

SPECIAL - Dalai Lama in Hamburg
"Einige sagen, ich hätte zu viel Mitgefühl"

Interview mit S.H. dem Dalai Lama


Neun Tage war der Dalai Lama auf Einladung des Tibetischen Zentrums in Hamburg und begeisterte rund 30 000 Menschen mit seinen Vorträgen und Belehrungen. Brigitte Löhr hatte dort die Gelegenheit mit S.H. ein Interview über die politische Situation in Tibet zu führen. Sein Hauptanliegen sei jedoch nicht die Tibetfrage, sondern sein Engagement in Hamburg diene vor allem der Förderung menschlicher Werte und der Harmonie zwischen den Religionen.

Das Interview führte Brigitte Löhr


BRIGITTE LÖHR: Eure Heiligkeit, wie ist es heute um die Menschenrechte in Tibet bestellt?

S.H. DER DALAI LAMA: Die Situation ist immer noch sehr, sehr ernst. Erst vor einem Monat habe ich einen Tibeter getroffen, der acht Jahre in chinesischen Gefängnissen saß. Er berichtete nicht nur von Schlägen, sondern auch dass man ihm ein Instrument an die Finger angelegt habe, das einen Schmerz auslöste, als ob man ihm die Haut abziehe. Auch die Bedingungen in den Gefängnissen sind so, dass Kriminelle besser behandelt werden als politische Gefangene. Als der gegenwärtige Chef der Kommunistischen Partei in Tibet, Zhang Qingli, die Verantwortung übernahm, sagte er bei einem Treffen von Funktionären, wenn es notwendig sei zu töten, werde er töten und wenn es notwendig sei, die Leute ins Gefängnis zu stecken, werde er sie ins Gefängnis stecken. Die anderen Funktionäre waren schockiert, weil es natürlich auch früher schon Folter gegeben hat, es aber in dieser Deutlichkeit nicht von den Verantwortlichen geäußert wurde.

BRIGITTE LÖHR: Und wie steht es um die Religionsfreiheit?

S.H. DER DALAI LAMA: Im Allgemeinen hat besonders die jüngere Generation ein starkes Gefühl für unsere eigene Kultur und Spiritualität. Aber wie ich immer sage, gibt es in den größeren Städten eine überwältigende chinesische Mehrheit. Daher wird dort der Lebensstil von Tag zu Tag chinesischer, was ich gewöhnlich als beabsichtigten kulturellen Völkermord beschreibe.

BRIGITTE LÖHR: Hat die jüngere Generation überhaupt noch eine Möglichkeit, eine solide, traditionelle religiöse Erziehung zu bekommen?

S.H. DER DALAI LAMA: Vergleicht man das Verhalten der in Tibet geborenen Tibeter mit dem der in Indien geborenen, dann sind letztere "tibetischer". Sie sind freundlicher und haben mehr Mitgefühl. Manche Inder sagen, dass es unter den Tibetern, die 1959 kamen, keinen Streit und keine Diebstähle gab, nichts. Die in Indien geborenen Tibeter seien sehr freundlich und vertrauenswürdig. Die Neuankömmlinge seien ein wenig anders. Das ist also auch ein Anzeichen für den kulturellen Wandel.

Was eine solide religiöse Erziehung in Tibet anbelangt, so ist das sehr schwierig. Erstens fehlt die ganze ältere Generation, die eine bessere Kenntnis des Buddhadharma hatte. Besonders in der Region Lhasa, in Zentraltibet gibt es jetzt sehr, sehr wenige. In einigen abgelegeneren Gebieten wie Kham oder einigen Amdo-Regionen gibt es immer noch einige Klöster mit alten, gut ausgebildeten Lehrern. Dann hat auch der Politikunterricht in den Klöstern zugenommen. Es bleibt keine Zeit für ein religiöses Studium.

BRIGITTE LÖHR: Wie wichtig sind Ihre Besuche im Ausland und der Kontakt mit der Bevölkerung? Geht davon Druck auf China aus?

S.H. DER DALAI LAMA: Der Hauptzweck meiner Besuche in den verschiedenen Ländern ist das Zusammentreffen mit der Bevölkerung. Der Hauptzweck ist nicht die Tibetfrage. Mein Anliegen ist die Förderung menschlicher Werte, um glücklichere Menschen zu haben, glücklichere Familien, glücklichere Gemeinschaften. Und auf diesem Weg glücklichere Länder. Ich glaube, dass die Menschen eine Verantwortung für eine bessere Welt haben. Dazu will ich beitragen.

Das zweite ist die Harmonie zwischen den Religionen. Mein Engagement hier in Hamburg, diese rund neun Tage, dient zuerst der Förderung menschlicher Werte und der Harmonie zwischen den Religionen. Wenn die Tibetfrage erwähnt wird, ist es meine moralische Verantwortung, diese zu erklären.

Nicht nur in der westlichen Welt, auch unter den Chinesen gibt es mehr und mehr ein starkes Interesse am tibetischen Buddhismus. Nach meinen Informationen zeigen rund eine Million Chinesen Interesse am tibetischen Buddhismus und viele davon praktizieren ihn auch. Wenn sie die tibetische Kultur oder den Buddhismus als etwas Nützliches kennenlernen, wird auch ihre Haltung zu Tibet positiver. Viele Chinesen betrachten Tibet als hoffnungslos rückständig. Erst nach der Befreiung seien die Tibeter so etwas wie menschliche Wesen geworden, vorher waren sie so etwas wie Halbmenschen. Aber die chinesische Haltung ändert sich jetzt. Seit einigen Jahren kommen zu meinen Veranstaltungen in Indien mehr und mehr Chinesen. Manchmal legt ihnen die Regierung Steine in den Weg. Wenn sie aber tatsächlich die tibetische Gemeinschaft und den Dalai Lama persönlich gesehen haben, stellen sie große Unterschiede zu dem fest, was sie in China gehört haben (lacht). Es gibt zweifellos einige positive Ansätze.

BRIGITTE LÖHR: Wäre die Welt nicht ein besserer Ort, wenn man für die verantwortlichen Politiker ein mentales Training organisieren könnte?

S.H. DER DALAI LAMA: Wie? (schüttelt sich vor Lachen) Präsident Putin, Präsident Bush und Mister Brown, die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel, der französische Präsident (lacht), niemand kann das machen (lacht). Die meisten der heute Verantwortlichen kommen aus einer auf die Vergangenheit bezogenen Gesellschaft. Sie haben in ihrem Kopf eine bestimmte Art zu denken, ein bestimmtes Konzept. Wenn sie mit einem Problem konfrontiert sind, schauen sie es aus diesem Blickwinkel an. Daher hoffe ich wirklich, dass man Familien mit mehr Mitgefühl und eine mitfühlendere Gesellschaft aufbauen kann. Dass vom Kindergarten und der Schule an eine Erziehung zum Dialog beginnt. Dann werden die kommenden Generationen, die aus dieser Erziehung hervorgehen und auch die Politiker friedvoller und mitfühlender sein.

BRIGITTE LÖHR: Seit über zwei Wochen befinden sich in Delhi 14 Tibeter in einem unbegrenzten Hungerstreik, den der Tibetan Youth Congress (TYC) organisiert hat. Wie stehen Sie dazu?

S.H. DER DALAI LAMA: Ich verstehe die Jugendlichen vollständig, ihre Frustrationen. Seit 2002 sind wir in direktem Kontakt mit der chinesischen Regierung und hatten bis jetzt sechs Round-table-Gespräche. Natürlich besteht unser Hauptziel darin Vertrauen aufzubauen, und noch nicht mit ernsthaften Verhandlungen oder Diskussionen zu beginnen. Aber die Situation in Tibet kommt nicht voran.

Von daher sind ihre Frustrationen zu verstehen. Aber der unbegrenzte Hungerstreik bis zum Tod ist eine Form der Gewalt.(1) Es gibt Gewalt gegen andere und Gewalt gegen das eigene Leben. In den buddhistischen Texten wird Selbsttötung als negative Handlung bewertet.

Wie der TYC wollen sie die vollständige Unabhängigkeit Tibets. Unser Standpunkt ist, dass wir keine Unabhängigkeit anstreben, sondern den mittleren Weg gehen. So gibt es also von Anfang an diese Differenzen. Wir machen ihnen immer klar, dass unser Standpunkt von ihrem völlig verschieden ist. Einige sagen, ich sei ein "schwacher Dalai Lama" (lacht) und hätte "zuviel Mitgefühl", sie sagen sogar: "Zu viel Mitgefühl ist nicht gut" (lacht), sie kritisieren das.

BRIGITTE LÖHR: Haben Sie noch Hoffnung, in diesem Leben nach Tibet zurückkehren zu können?

S.H. DER DALAI LAMA: Oh, ja, sehr große Hoffnung. Sogar Tibeter, die krank sind, hoffen sehr darauf. Gleichzeitig bin ich ein buddhistischer Mönch. Wenn man ein Mönch wird, löst man sich aus der Familie usw. Wir haben ein Sprichwort: Wichtig ist, dass man ein nützliches Leben führt. Eine Rückkehr in mein eigenes Land bietet ohne Freiheit keine Chance, um meine eigene Existenz zu nützen. Das wäre wie ein Hausarrest, wie beim gegenwärtigen Panchen Lama. Das hat keinen Nutzen. Meine Anliegen sind die Förderung der menschlichen Werte und die Harmonie unter den Religionen. Und ich möchte eine gewisse Freiheit haben. Damit bin ich glücklich.

Falls sich für mich eine Rückkehr ergibt, möchte ich etwas tun, Freundschaft zwischen Chinesen und Tibetern aufbauen, so wie Bischof Tutu in Südafrika. Vergebung ist sehr wichtig, um harmonisch miteinander leben zu können. Aussöhnung zwischen den tibetischen und den chinesischen Brüdern und Schwestern - das ist das, was ich wirklich tun will. Und dann möchte ich die Freundschaft mit Deutschland, zwischen den Tibetern und den Chinesen und engere Beziehungen zwischen Indien und China fördern. Und dann werde ich gehen und "Bye, bye" sagen.

Anmerkung:
(1) Am 7. August, dem 31. Tag, hat der Dalai Lama die Teilnehmer in einem Brief aufgerufen, den Hungerstreik abzubrechen. Information zum Hungerstreik unter: www.phayul.com


Übersetzung aus dem Englischen und Bearbeitung: Brigitte Löhr.
Sie führte das Interview mit S.H. dem Dalai Lama in Hamburg am 23. Juli 2007.

Dr. Brigitte Löhr ist Dozentin am Seminar für Indologie und vergleichende Religionswissenschaft an der Universität Tübingen mit Schwerpunkt Buddhismuskunde und westlichem Buddhismus.

Weitere Teilnehmer beim Journalistengespräch mit dem Dalai Lama waren Carola Große-Wilde, Alexander Heinz, Dr. Uwe Jean Heuser und Dr. Hans Jürgen Mayer.


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Botschafter des Friedens

Der Dalai Lama ist das spirituelle und politische Oberhaupt der Tibeter. Er ist ein charismatischer Botschafter des Friedens und ein weltweit anerkannter spiritueller Lehrer. Im Westen wurde S.H. der Dalai Lama 1989 berühmt, als er für sein Bemühen um eine gewaltlose Lösung des Tibetproblems den Friedensnobelpreis erhielt.

Das Nobelpreiskomitee schrieb in seiner Begründung u. a.: "Der Dalai Lama hat seine Friedensphilosophie auf der Grundlage von großer Ehrfurcht vor allen Lebewesen und der Vorstellung einer universellen Verantwortung, die sowohl die gesamte Menschheit als auch die Natur umfasst, entwickelt."

Aufgrund seines lebenslangen Engagements für menschliche Werte wie Mitgefühl und Toleranz genießt der Dalai Lama große Sympathie bei Angehörigen verschiedenster Religionen, Parteien und gesellschaftlichen Gruppen.

Als einer der führenden buddhistischen Lehrer hat er seit 1967 Reisen in die ganze Welt unternommen, um unermüdlich für den Weltfrieden zu wirken.

67 Länder hat er bisher bereist. Allein rund 30 Mal besuchte er Deutschland. Auf seinen Reisen wird er immer wieder auch von Regierungschefs und hohen Politikern empfangen.


Kurzbiografie: Tenzin Gyatso, der 14. Dalai Lama

Im Alter von zwei Jahren wird Tenzin Gyatso 1937 als Wiedergeburt des 13. Dalai Lama anerkannt und aus dem Elternhaus in den Potala-Palast in Lhasa, den traditionellen Sitz der Dalai Lamas, gebracht. Hier durchläuft er seine mönchische Ausbildung und erhält von den besten Lehrern Tibets eine umfassende Schulung in buddhistischer Philosophie und Meditation.

Mit fünfzehn Jahren wird er 1950 auch als weltliches Oberhaupt Tibets inthronisiert. Kurz danach marschieren chinesische Truppen in Lhasa ein. 1959 flüchtet der Dalai Lama nach Indien, wohin ihm rund hunderttausend Tibeter folgen. Im indischen Dharamsala ruft er eine Exilregierung ins Leben und versucht auf vielen Wegen das Los der Menschen in seiner Heimat Tibet zu verbessern.

S.H. der Dalai Lama verfolgt nach eigenen Aussagen drei Lebensziele: Er möchte menschliche Werte wie Mitgefühl und Toleranz fördern, besonders auch unter Menschen, die sich keiner Religion zugehörig fühlen. Er engagiert sich für ein harmonisches Verhältnis unter den Weltreligionen. Als tibetisches Oberhaupt streitet er für eine gewaltlose Lösung des Tibetproblems.

Dazu gehört auch sein Bemühen um eine Demokratisierung der tibetischen Gesellschaft im Exil: Auf Initiative S.H. des Dalai Lama wurden nach und nach demokratische Institutionen geschaffen, u.a. das Exilparlament und ein Kabinett. Im Juli 2001 beschloss S.H. der Dalai Lama, seine eigene Macht weiter einzuschränken: auf sein Betreiben hin wählten die Exiltibeter mit Professor Samdhong Rinpoche ihren ersten Premierminister.

Weitere Infos: www.dalailama.com


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Quelle:
Buddhismus aktuell, Ausgabe 4/2007, S. 6-9
Herausgeberin: Deutsche Buddhistische Union (DBU)
Buddhistische Religionsgemeinschaft e.V.
Chefredaktion: Michaela Doepke
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Oktober 2007