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PRESSE/656: Neues vom Nahtod (DMW)


Der Mittlere Weg - Nr. 1, Januar - April 2008
Zeitschrift des Buddhistischen Bundes Hannover e.V.

Neues vom Nahtod

Von Axel Rodeck


Phänomen Tod

Schon immer hat sich der Mensch die Frage gestellt, woher er kommt und wohin er geht - vor allem, was ihn nach seinem Tod erwartet. Zur weitergehenden Erörterung, was denn überhaupt der "Tod" ist, sind von Philosophen, Theologen, Dichtern, Medizinern, Juristen und vielen anderen Leuten umfangreiche Bibliotheken geschrieben worden. Wir wollen und können uns hier nicht ausführlich mit diesem Thema befassen, sondern möchten uns mit einer, wie wir meinen schlüssigen, Aussage von Viktor von Weizsäcker, dem Begründer der Psychosomatik, über das Verständnis vom Tod begnügen: "Der Tod ist nicht der Gegensatz zum Leben, sondern der Gegenspieler von Zeugung und Geburt - Geburt und Tod verhalten sich wie Rückseite und Vorderseite des Lebens, nicht wie logisch einander ausschließende Gegensätze."

Damit leiten wir zur Frage über, wann man mit Bestimmtheit sagen kann, dass besagter Tod bei einem Wesen eingetreten ist. Auch hier sind die Ansichten verschieden und es bestehen Unklarheiten. In der Schulmedizin wird der Tod definiert als das Erlöschen der Lebensäußerungen des Organismus, insbesondere Aufhören von Kreislauf und Atmung sowie Erlöschen der Hirnfunktionen (Hirntod). Allerdings bleiben auch nach Eintritt des klinischen Todes bestimmte Körperorgane noch eine kurze Zeit erregbar, was die Beurteilung kompliziert. Wir wollen daher auch bezüglich des zeitlichen Moments vorerst eine Definition vermeiden und lediglich davon ausgehen, dass der Tod irgendwann mit Sicherheit als eingetreten angesehen werden muß. Der Tod soll hier in diesem Sinn als etwas Endgültiges aufgefasst werden, unbeschadet unterschiedlicher religiöser Auffassungen über Auferstehung, Wiedergeburt oder Reinkarnation.

Die spannende Frage ist, ob wir ein wenig über den Zaun gucken können, der die Lebenden vom Tod trennt und grundsätzlich nur in einer Richtung überwunden werden kann. Sieht man wiederum von Behauptungen aus religiösem Umfeld ab, so stößt man im Westen auf die Auswertung von Erfahrungen, die zumindest in unmittelbarer Nähe des Todes gemacht wurden und als "Nahtoderlebnisse" bezeichnet werden.


Nahtoderlebnisse

Wie gesagt, ist der Schulmedizin zufolge der klinische Tod mit dem weiteren Leben von Teilen des Organismus nur kurze Zeit vereinbar. Wenn es gelinge, verunglückte Personen durch Wiederbelebungsversuche wiederzubeleben, so sei dies eben ein Beweis dafür, dass der Kreislauf doch noch nicht völlig still stand und der "Tod" noch nicht eingetreten war. Ein solcher "Scheintod" sei mit einer tiefen Ohnmacht zu vergleichen. In den letzten Jahrzehnten haben sich jedoch viele Fälle gezeigt, in denen die Verunglückten nicht nur "wiederbelebt" wurden, sondern über ihren Aufenthalt im Grenzbereich zwischen Leben und Tod erstaunliche Aussagen machen konnten:

Es gibt im Westen zunehmend Berichte von Personen, die zumindest von Kurzerlebnissen nach dem (als eingetreten angesehenen) Tode zu berichten wissen. Es handelt sich um Menschen, die nach Unfällen womöglich klinisch tot waren und angeben, sich außerhalb des Körpers wiedergefunden zu haben. Der Amerikaner Moody sammelte bei Personen, die nach Unfällen oder Operationen wiederbelebt worden waren, Hunderte von Berichten über "Sterbeerlebnisse". Dabei stellten sich viele gemeinsame Elemente heraus, etwa die (mutmaßliche) Loslösung vom physischen Leib und Beobachtung des Geschehens von oben, ohne mit den am Geschehensort Anwesenden Kommunikation aufnehmen zu können.

Neudeutsch spricht man von "Out-of-Body-Erfahrungen", etwas wissenschaftlicher von der Betrachtung des eigenen Körpers als "Autoskopie". Ebenfalls erwähnt wird oft das Auftreten eines Begleiters oder die Empfindung von Harmonie und Glück. Auffallend ist auch die häufige Begegnung mit einem weißen Licht, welches als Lichtwesen aufgefaßt wird. Hier bestehen erstaunliche Übereinstimmungen mit dem "Tibetischen Totenbuch", dessen Inhalt den wenigsten der Verunglückten bekannt gewesen sein dürfte.

Die Schulmedizin spricht freilich nur von "Nahtoderlebnissen", die das Gehirn im Grenzbereich zwischen Leben und Tod verursacht, wenn es mit einem jähen Notprogramm euphorisierende Endorphine ausschüttet.


Out-of-Body im Buddhismus

"Out-of-Body-Erfahrungen" sind auch Buddhisten nicht fremd. Der jedes Jahr einige Wochen in thailändischen Klöstern verbringende deutsche Buddhist Matthias Hoffmann, der "als gelernter Informatiker eigentlich nichts von esoterischem Klimbim hält", berichtet beispielsweise (Spiegel-Spezial "Weltmacht Religion"), dass er sich bei tiefer Meditation selber aus 5 m Höhe sehen konnte - ob zwei oder zwanzig Minuten lang, das wisse er nicht.

Andere Buddhisten ziehen derartige Erlebnisse zur Unterstützung eigener Vorstellungen von der Welt heran. Sie sehen die Menschen als Wesen an, die aus einem feinstofflichen Körper bestehen, der lediglich in unserer materiell-dinglichen Umwelt einen zusätzlichen grobstofflichen Körper hat. Mit dem Tod geht der grobstoffliche Körper zugrunde, während der feinstoffliche - für normale Sterbliche unsichtbar - als "Geistwesen" weiterexistiert. Die geschilderten "Out-of-Body-Erfahrungen" beruhen demnach auf einer nur vorübergehenden Trennung des subtilen vom fleischlichen Körper, unterstützen aber die Theorie der Existenz jenseitiger Wesen. Da dies für kritische Westler wohl etwas phantastisch klingt, wollen wir folgend in einem kleinen Exkurs zu klären versuchen, wie solche Vorstellungen im indischen Kulturkreis entstanden sind:*

Dem alten Indien waren die Vorstellungen von Mehrkörperlichkeit der Seele und feinstofflichen, transmigrierenden Körpern nicht fremd. Denn die für den modernen westlichen Menschen gewohnte Unterscheidung zwischen einer physischen Welt einerseits und einer psychischen Welt andererseits ist in Indien nicht selbstverständlich. Daher ist es nicht verwunderlich, dass auch im späteren Buddhismus von einem Parallelismus körperlicher und seelischer Funktionen ausgegangen wird. In seinem Buch "Grundlagen tibetischer Mystik" bezieht sich Lama Anagarika Govinda auf die altindische Taittiriya-Upanishad und vertritt deren "Lehre von den fünf Hüllen": Die dichteste und äußerste dieser Hüllen ist der aus Nahrung gebildete physische Körper (anna-maya-kosha). Die nächste ist die diesen materiellen Körper durchdringende atemgenährte feinstoffliche Hülle (prana-maya-kosha) und die nächstfeinere unser Gedankenkörper (mano-maya-kosha), der durch unser aktives Denken gebildet wird. Die 4. Hülle ist der unsere gesamten geistigen Fähigkeiten enthaltende Bewußtseinskörper (vijnana-maya-kosha). Schließlich als letzte und feinste, alle vorhergehenden durchdringende Hülle der nur im Zustand der Erleuchtung oder in höchsten Meditationsstufen erlebbare Körper des universellen Bewusstseins (ananda-maya-kosa).


Der Blick von oben

Auch die Theosophen im 19. Jahrhundert sahen in außerkörperlichen Erfahrungen einen Beleg für eine vom materiellen Körper unabhängige Seele und nahmen, wie die alten Inder, mehrere Körper des Menschen an: Den "physischen", den "ätherischen" und den "astralen" Körper. Letztlich ist es wohl eine Sache des Glaubens, ob man das Vorhandensein einer feinstofflichen Existenz unterstellen will. Wie folgend dargelegt werden soll, kann jedenfalls den hier erörterten "Out-of-Body-Erfahrungen" kein indizieller Wert für die - auch nur kurzzeitige - Existenz von "Geistwesen" beigemessen werden. Denn die Geheimnisse des "Nahtods" wurden wissenschaftlich untersucht - und inzwischen wohl auch überzeugend geklärt.

Wissenschaftler des Universitätskrankenhauses in Genf schickten das Bewusstsein einer Epilepsiepatientin durch elektrische Reizung bestimmter Regionen der Großhirnrinde in ein "Out-of-Body"-Erlebnis: Immer wenn dieses Gebiet mit einer Elektrode stimuliert wurde, hatte die Frau das Erlebnis, unter der Zimmerdecke zu schweben und das Geschehen von oben zu betrachten. Nach Abschalten des Stroms verschwand die Empfindung, so wie sie gekommen war. Offenbar kommen durch den angelegten Strom die neuronalen Daten für Wahrnehmung des Körpers, Raumgedächtnis und visuelle Perspektive durcheinander, so dass sich die Perspektive der Umweltbetrachtung verschiebt. Dem Gehirn ist offensichtlich möglich, auch bei Lage des Körpers in der Ebene wie ein Computerprogramm die dazu gehörende Raumperspektive zu errechnen und vorzuspielen.

Ein entsprechendes Erlebnis hatte die britische Psychologin Susan Blackmore.** Die drogen- und meditationserfahrene Forscherin berichtet, dass sie unter Drogeneinfluß das Gefühl hatte, unter der Decke zu schweben und durch Wände gehen zu können, worüber sie sich mit ihrer im Raum anwesenden Freundin sogar zu unterhalten vermochte. "Nahtoderfahrungen" können auch gemacht werden, wenn weder Drogen genommen wurden noch Lebensgefahr besteht, wohl aber Sauerstoffzufuhr oder Stoffwechsel des Gehirns eingeschränkt sind.

Wenn Ihnen, liebe Leser, das zu unglaubhaft und abwegig erscheint, dann machen Sie doch mal ein kleines Experiment: Denken Sie bitte einen Augenblick an ein Erlebnis im vergangenen Sommer, etwa einen Aufenthalt im Schwimmbad oder einen Theaterbesuch. Fertig? Gut, und nun sagen Sie bitte, wie Sie sich selber und die Umgebung gesehen haben - mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht aus der damals eingenommenen Bodenperspektive, sondern aus der Höhe des 10-Meter-Turms oder der Theaterleuchter. Entsprechendes gilt für Träume, die uns in der Höhe schweben lassen. Hier verlässt keine feinstoffliche Entität den materiellen Körper, sondern ein neuronaler "Computer" baut in uns eine in die Raumdimension verschobene Betrachtung auf - der Höhenflug findet im Kopfe statt.


Eine Entmystifizierung?

Buddhisten akzeptieren die Erkenntnisse der Wissenschaft und sind gern bereit, eigene diesbezügliche Vorstellungen zu korrigieren. Der 14. Dalai Lama hat hierzu (in seinem Buch "Die Welt in einem einzigen Atom") unmissverständlich ausgeführt: "Sollte die Wissenschaft abschließend nachweisen können, dass gewisse Behauptungen des Buddhismus falsch sind, müssen wir die Erkenntnisse der Wissenschaft annehmen und überholte Anschauungen revidieren." Insofern ist es unproblematisch, wenn durch den Fortschritt auf dem Gebiet der Biologie bisher geheimnisvoll interpretierte Geschehnisse wie Nahtoderlebnisse entmystifiziert werden. Es handelt sich hier um Vorgänge in unserem Nervensystem - und eben nicht um Ereignisse jenseits des Todes, der "Blick über den Zaun" bleibt uns verwehrt.

Freilich warnt der Neurophysiologe Detlef Linke davor, aus den wissenschaftlichen Erkenntnissen übereilte Folgerungen abzuleiten: "Der Schluß von naturwissenschaftlich fassbaren Gehirnprozessen auf die Nicht-Existenz einer höheren Wirklichkeit ist keinesfalls streng logisch oder gar zwingend." Der Glaube an die Existenz von feinstofflichen Wesen ist damit nicht widerlegt. "Out-of-Body"-Erlebnisse zeigen lediglich die überraschende Fähigkeit, uns selber aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten, gewissermaßen aus uns heraus zu treten - und möglicherweise in einer Extremsituation eine verschüttete menschliche Wahrnehmungsform wieder aufnehmen zu können. Offenbar scheitert unser Gehirn in solchen Momenten daran, urplötzlich das erwartete Ende der eigenen Existenz zu verarbeiten.

Insbesondere die oben erwähnten Lichterscheinungen haben eine große Ähnlichkeit mit mystischen Erlebnissen. Sie sind, vor allem als Tunnel-Erscheinungen, in vielen Kulturen bekannt, jedoch keineswegs mysteriös, sondern reine Neurobiologie: Diese "Tunnel-Halluzinationen" beruhen darauf, dass die Regelsysteme im visuellen Kortex des Hinterhirns beispielsweise durch psychoaktive Substanzen imitiert werden und Kreis- und Spiralmuster hervorrufen, die vom Bewusstsein dann als Tunnels interpretiert werden.

Damit kommen wir noch auf die Aussagen des sog. "Tibetischen Totenbuches" zu sprechen, etwa über ein unerträglich intensives Licht, das dem Verstorbenen erscheint. Eine Interpretation solcher Erscheinungen ist schwierig und ungewiß. So deutet die Sterbeforschung von E. Kübler-Ross das tibetische Totenbuch im Zusammenhang mit Nahtoderfahrungen. Carl Gustav Jung will dagegen die Höllen und Schreckensgestalten im Tibetischen Totenbuch symbolisch verstanden wissen im Sinn psychischer Dissoziationen. Andere deuten die einzelnen Zwischenzustände (bardos) nicht metaphorisch, sondern als reale Bereiche der Wiedergeburt.

Letztlich ist es uns wohl nicht möglich festzustellen, ob magische Praktiken innerpsychische Vorgänge sind oder ob eine Manipulation äußerer objektiver Kräfte vorliegt. Der tibetische Meditationsmeister Sogyal Rinpoche erklärt, es sei gerade für Westler äußerst schwierig zu verstehen, was das "Tibetische Totenbuch" vermitteln wolle. Die Fragen, die es aufwerfe, seien ohne tiefgreifende Kenntnis der zugrunde liegenden kulturellen Tradition gar nicht zu beantworten - wer aber kann sich schon solchen Wissens rühmen.

Es ließe sich auch noch darüber sinnieren, ob letztlich alle Religion auf den Erfahrungsbildern Sterbender beruht. So genannte "Neuro-Theologen" wollen das Erleben transzendenter Realität durch Gläubige oder Meditierer mit neuronalen Verschaltungen und biochemischen Prozessen erklären. Diese rufen Momente spirituellen Erwachens hervor und führen zum Aufheben der Grenze zwischen Selbst und Welt, zum Gefühl von Ewigkeit und Endlosigkeit. Wir wollen uns jedoch hier mit der Feststellung begnügen, dass neurowissenschaftliche Erkenntnisse einen kleinen, bisher mystisch verschleierten Teilbereich der Todesnähe für westliche Gemüter verständlicher gemacht haben.


* siehe DMW 3/2006 S. 17ff

* * Susan Blackmores grundlegendes Buch über die Elemente kulturellen Verhaltens ("Die Macht der Meme") wurde in DMW 3/2006 besprochen.


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Quelle:
Der Mittlere Weg - majjhima-patipada
39. Jahrgang, Januar - April 2008/2551, Nr. 1, Seite 18-21
Herausgeber: Buddhistischer Bund Hannover e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Januar 2008