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PRESSE/692: Liebe (StadtRaum FORUM)


StadtRaum FORUM - spirituelles Magazin Nr. 2/08

Liebe

Von Werner Heidenreich


Vor Jahren nahm ich an Exerzitien-Tagen in einem Nonnenkloster teil. Bei meiner Ankunft im Kloster begegnete mir eine ältere Nonne. Sie lächelte mich an, schaute mir mit einem sehr warmen, liebevollen Blick in die Augen und sagte: "Wunderbar, dass auch Sie da sind." Es wirkte für mich, als ob sie meinte mich zu kennen. Ich erwiderte: "Verwechseln Sie mich? Ich bin das erste Mal hier, wir kennen uns noch nicht." Sie: "Das ist mir klar, ich freue mich über Sie und heiße Sie herzlich willkommen zu unseren Exerzitien. Kommen Sie hier gut an und fühlen Sie sich wohl." Ich fühlte mich, als hätte ich meine Urmutter getroffen. In den nächsten Tagen sah ich die Nonne bei vielen verschiedenen Arbeiten und beobachtete, dass sie bei jeder Handlung, egal, was sie gerade machte, eine spürbare Liebe ausstrahlte. Rückte sie Stühle oder deckte Tische, es wirkte bei ihr, als wäre es eine sakrale, heilige Handlung, von Liebe und Hingabe getragen.

Jahre später traf ich während eines Vipassana-Retreats einen sehr betagten burmesischen Mönch und Gelehrten. Wie bei der christlichen Nonne fiel mir auf, wie er trotz seines hohen Alters und der damit verbundenen körperlichen Einschränkungen seine Handlungen mit einer Würde verrichtete, die mich zutiefst beeindruckte. Öffnete er eine Tür, griff er die Türklinke so sanft und bewusst, als würde er einem Freund die Hand reichen. Trank er Tee, hob er seine Teetasse mit einer Hingabe und Präsenz für die ich das Wort Liebe verwenden möchte. In der Abschlussrunde des Retreats meinte eine teilnehmende Ärztin, zu Tränen gerührt, dass dieser alte Mönch für sie die Personifizierung gelebter Liebe sei.

Ich habe diese Erlebnisse geschildert, um auszudrücken, wie ich Liebe erlebe. Liebe ist in meinem Verständnis eine Färbung des Geistes. Sie ist nicht eine Handlung an sich, sondern sie kann bei jeder Handlung entfaltet werden und diese zu einer Handlung der Liebe werden lassen. Das gilt für alle Aktivitäten in allen Bereichen unseres Lebens.

Die von uns genannten "Liebesbeziehungen" basieren nicht ursprünglich auf Liebe. Sie basieren auf Bedürfnissen und Trieben, Sympathie und Affinität, genetischen und hormonellen Anlagen, Geistesstrukturen und Konzepten und übereinstimmenden und passenden Lebensumständen. Schön ist es, wenn in Partnerschaften Liebe wirkt und reifen kann. Erotik ist auch nicht allein Liebe, kann aber ebenso Ort und Praxis für Liebe sein. Das gilt auch für den sexuellen Akt. Findet er in Liebe statt, dann erhöht er die Liebesempfindung und bringt sie auf der Empfindungs- und Gefühlsebene zu ihrem Höhepunkt. Die höchste Liebe verwirklicht sich in der völligen Hingabe ohne Handlung, ohne Wirken. Sie ist eine sich selbst erfüllende Liebe, die als Gotteserfahrung wahrgenommen wird.


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Quelle:
StadtRaum FORUM - spirituelles Magazin Nr. 2/08, Mai/Juni 2008, S. 1
Herausgeber: StadtRaum Köln Veranstaltungsorganisation GmbH
Moltkestr. 79, 50674 Köln
Tel.: 0221/56 25 805, Fax: 0221/56 25 806
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Erscheinungsweise: alle drei Monate


veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Mai 2008