Schattenblick →INFOPOOL →RELIGION → BUDDHISMUS

PRESSE/705: Zen in der Kunst des Suchens (Buddhistische Monatsblätter)


Buddhistische Monatsblätter Nr. 3/2008, Juli-September
Buddhistische Gesellschaft Hamburg e.V.

Zen in der Kunst des Suchens

Von Christiane Doerre


Gestern sah ich einen Bericht über ein thailändisches Kloster, in dem 16 Tiger leben, außerdem unzählige Wildschweine, Pferde, Hirsche, Pfauen und anderes Getier. Als Buddhist muss man alles Leben achten und erhalten, deshalb werden alle Tiere aufgenommen, gepflegt und mit Achtsamkeit behandelt. So kommt es, dass die Mönche eine besondere und erstaunliche Beziehung zu den Tieren haben. Die Tiger sind keineswegs gezähmt, aber sie laufen frei herum und haben niemals jemandem auch nur ein Haar gekrümmt. Die Mönche üben den Geist des Buddha in der Tierpflege.

Ich habe Zen geübt in der Kunst des Bogenschießens, des Gärtnerns, des Tai Chi, des Scherenschnitts, des Aquarellierens, des Gehens,... Das kennt man ja. Aber Zen und Suchen? Schließt sich das denn nicht aus? Theoretisch ja, praktisch meist auch - denn so sieht mein Bemühen im Alltag aus: Suche nach dem Zen und Zen in der Suche.

Kürzlich begab sich das so:
Wenn es in die Sommerferien gehen soll, dann wird tagelang gewaschen und gebügelt. Das ist kein "Zen im Bügeln", denn meine Hände halten meine Lieblingsbluse, aber ich spüre sie nicht in den Fingern und ich heiße sie nicht willkommen. Meine Augen sehen sie, aber ich nehme sie kaum wahr. Meine Nase bekommt nichts mit von dem feuchten, sauberen Geruch nach frischer Wäsche und meine Ohren hören das heimelige Gurgeln des Dampfbügeleisens nicht. Keine Spur von Hier und Jetzt. Mein Geist prescht in die Zukunft und rattert ununterbrochen die Dinge durch, an die ich ganz dringend noch denken muss. Ich renne schneller und schneller durch die Wohnung und erfülle meine Gedanken noch zusätzlich mit der Angst, das alles gar nicht mehr zu schaffen und mit der Ungeduld, den nervigen Kram endlich fertig zu bekommen. Sollte ich doch mal kurz innehalten, so spüre ich den aufgeregten Schlag meines Herzens und meinen beschleunigten Atemzug. Und ich setzte mich nicht etwa hin, um ruhiger zu werden, sondern meine Gedanken jammern noch zusätzlich über den Stress. Und mein Geist sucht einen Schuldigen für mein Unwohlsein - vielleicht die Nachbarn, die mich aufhalten? Ich ertappe mich nicht einmal dabei, sondern ich renne auch noch schimpfend durch's Haus.

In dieser Situation nimmt die Geschichte mit dem Autoschlüssel ihren Anfang. Autoschlüssel liegen bei uns in der Regel auf der Heizung, der Kommode, manchmal in der Jackentasche, gelegentlich auch am vorgesehenen Ort, dem Schlüsselbrett. Im Rahmen dieser Alternativen lässt er sich meist problemlos aufspüren. Nicht so in der Ferienzeit. Jemand hatte mir diese Geschichte von den Nachbarn erzählt, bei denen ein Einbrecher ihre urlaubsbedingte Abwesenheit nutzte, um den ordentlich am Schlüsselhaken hängenden Autoschlüssel zu nehmen und mit dem so praktisch vor der Tür parkenden Auto der ahnungslosen Diebstahlsopfer davonzufahren. "Nicht mit mir!", denke ich mir. Es gilt, den Autoschlüssel absolut genial und einbruchsicher an einem besonderen Ort zu verwahren. Mit diesem Plan gehe ich los und greife mir den Schlüssel. Zwei Wochen später komme ich nach Hause zurück, gelassen und mit leichtem, wohlgemutem Herzen. Alles scheint in bester Ordnung, bis am nächsten Morgen die Nahrung knapp wird und ich beschließe, den Tag mit einem entspannten Trip zum Supermarkt zu beginnen.

Da erklingt der Paukenschlag: Wo ist der Autoschlüssel? Nein, nicht am Schlüsselbrett. Auch nicht an den sonst üblichen Orten. Da dämmert mir, dass ich vor der Reise diese geniale Idee hatte...Ich eile zu den nächstgelegenen Orten, die als Versteck hätten herhalten können und rechne damit, den Schlüssel sofort zu finden. Nichts! Mutters Rat kommt mir in den Sinn:"Denk doch mal in Ruhe nach, wo du ihn zuletzt gesehen hast!" Mir fällt ein, wie ich im Flur stand, das Bild sehe ich noch vor mir, das Schlüsselbrett vor meiner Nase, und ich spüre den Schlüssel in meiner Hand. Was war danach? Die große Leere. Ich sehe nochmal dort nach, wo ich eben schon gesucht habe, denn ich kann's nicht glauben, dass er da nicht ist. In der Nähe steht der Küchenschrank, also suche ich dort. Unschuldig liegen da die Tischdecken und die Handtücher. Auch in den Tassen und hinter den Gewürzgläschen - kein Schlüssel. Ich kann's zwar nicht glauben, dass ich ihn dort hingetan habe, aber wer weiß! Langsam traue ich mir alles zu.

Nein, es ist nicht Alzheimer in jungen Jahren, es ist mangelnde Achtsamkeit. Dafür suche ich nun sehr achtsam. Soweit mir das in meiner Aufregung möglich ist. Jetzt wird die Küche systematisch aus- und wieder eingeräumt. Wenn ich das nach und nach mit der ganzen Wohnung mache, muss ich doch irgendwann beim Schlüssel ankommen. Es sei denn, ich bin auch noch mit Blindheit geschlagen. Inzwischen ist es Mittag, ich bin schweißgebadet, und mein Magen knurrt. Nichts zu machen. Ich wohne auf dem Land und komme ohne Auto gar nicht bis zu einem Supermarkt. Es sei denn, ich unternehme einen langen Fußmarsch. Mit leerem Magen und in der Sommerhitze ist das kein verlockender Gedanke. Da fällt mir auf, dass ich noch nicht einmal das Haus verlassen kann, denn ich habe keinen Haustürschlüssel. Der hängt am Autoschlüssel. Inzwischen tue ich mir sehr leid. Ich rufe erst meinen Mann und dann eine Freundin an und klage ihnen in zunehmender Lautstärke und Vehemenz mein Leid. Wie gemein, sie haben kaum Mitleid mit mir und finden es günstig, dass ich ja noch Ferien habe und eigentlich gar nicht so dringend ein Auto brauche. Die Gier sagt mir aber: "Ich wollte doch da und dort hinfahren und mir einen netten Tag machen!" Außerdem erinnert es mich daran, dass ich nächste Woche ganz dringend den verdammten Schlüssel brauche, sonst komme ich nämlich gar nicht zu meiner Arbeitsstelle. "Was soll ich dann tun?", rumoren meine Gedanken wie wild. "Mich wegen Unzurechnungsfähigkeit krank schreiben lassen?" Meine Freundin rät: "Setz' dich doch erstmal ruhig hin, entspann' dich, tu' was Nettes, was dich ablenkt!" Ich möchte den Rat gern befolgen, aber ich kann's nicht. Ich habe mich in eine solche Aufregung geräumt, gedacht und geredet, dass mir das Herz bis zum Halse schlägt, meine Schultern sind bretthart und kleben schon fast an den Ohrläppchen, und mein Gesicht ist mit gerunzelter Stirn erstarrt. Die Gedanken kommen keine Sekunde zur Ruhe. Immmerhin, stelle ich mit einem Anflug von Befriedigung fest, beobachte ich meinen Körper, meine Gedanken und meine Gefühle. Letztere diagnostiziere ich als Wut und Verzweiflung. Und der krönende Gedanke: Ich muss verrückt sein, alles das für einen Autoschlüssel! Ich finde keinen Moment der Ruhe und kanalisiere meine Nervosität, indem ich weiter räume.

Der Küche tut es gut. Leere Müslipackungen wandern aus dem Schrank in's Altpapier, der Staub verschwindet endlich von den Regalen, nie benutzte Küchenutensilien werden aussortiert. Ein angenehmes Gefühl von Sauberkeit, Ordnung und Orientierung macht sich breit. Vielleicht war die Zeit reif für einen großen Arbeitseinsatz, der mich von dem Gerümpel befreit? Vielleicht führt es auch zu einem aufgeräumten Geist? Das funktioniert tatsächlich, denn ich fühle mich trotz meiner Pein ein wenig besser orientiert und erleichtert. Die weise Erkenntnis, dass Besitz nur eine Last ist, verstehe ich plötzlich besser. Hätte ich den ganzen Kram in der Wohnung nicht, müsste der Schlüssel viel leichter zu finden sein. Und hätte ich kein Auto, hätte ich gar kein Problem. Jedenfalls nicht dieses. Ich mache also aus der Not eine Tugend und übe mich im Loslassen von Gegenständen. Ich fange mit der einfachsten Übungsstufe an: Ich muss nur Geschirrtücher und Topflappen weggeben, an denen ich sowieso nicht gehangen habe. "Aber man könnte sie ja noch brauchen!", flüstert der Gedankenstrom... Im nächsten Schritt wird es schwieriger: Nun kommen die liebgewordene, aber nicht mehr tragbare Kleidung und die Bücher an die Reihe. Die Gedanken flüstern noch lauter, und es tut weh. Ich fühle mich so nackt und ungeschützt. Aber die Vorstellung von einer halbwegs leeren, überschaubaren Wohnung ist verlockender. Eine volle Woche geht es so weiter, herrliche Sommertage leuchten ungenutzt vor dem Fenster, und ich wühle mich wie ein Maulwurf durch die Wohnung und miste säckeweise aus. Ich feiere Wiedersehen mit lang verschollenen Gegenständen, aber was nicht auftaucht ist der Schlüssel. Was, wenn ich ihn an irgendeinem absurden Ort in der Wohnung fallen gelassen oder ihn in geistiger Umnachtung mit dem Müll in die Tonne geworfen habe? Ich muss das Schlimmste befürchten. Ich traue mir alles zu und bin langsam richtig verzweifelt. Ich kann mir also selbst nicht mehr trauen, vielleicht bin ich verrückt? Wer oder wie bin ich eigentlich? Wie gut, dass es kein stabiles Ich gibt. Vor drei Wochen war ich für einen Moment unachtsam und vielleicht verrückt. Heute ist wieder alles anders. Im aktuellen Moment bin ich bloß verwirrt vor Sorge. Aber ich bin mir dessen wenigstens bewusst.

Am 8. Tag, als sich die Resignation schleichend immer mehr ausbreitet, komme ich zufällig am Wäscheschrank vorbei und denke: "Ach, seh' ich doch eben mal da rein!" Und da liegt der Schlüssel. Unschuldig unter Mützen und Handschuhen. Ich glaube, ich spinne. Das Versteck kommt mir noch nicht einmal bekannt vor.

Wenn das keine buddhistische Lektion ist! Ich frohlocke mit dem Schlüssel fest in der Hand und finde plötzlich, dass das eine lehrreiche Erfahrung war, für die ich fast dankbar sein könnte. Was habe ich daraus gelern? Ich fühle mich wieder einmal angespornt, auch unliebsame Hausarbeit mit Achtsamkeit zu erledigen. Es ist tatsächlich keine schlechte Idee, Körper, Gedanken und Gefühle zu beobachten und sie zu benennen. Ich gewinne dadurch einen Überblick über die immer wiederkehrenden Muster, verstehe sie besser und gewinne Abstand zu ihnen. Sie verschlingen mich nicht mehr ganz so. Was die Gedanken angeht, hat sich gezeigt, dass es nicht gut ist, den Samen der Nervosität, der Angst, der Verwirrung fortwährend durch Gedankenschleifen und Reden zu begießen. Sie kosten auch viel zu viel Kraft. Wie ich da rauskomme, muss ich noch üben. Den Körper spüren oder mich auf den blühenden Baum vor dem Fenster zu konzentrieren, das hilft für einen Moment. Sitzen...Auch Metta. Also doch, Meditieren hilft in allen Lebenslagen. Loslassen ist nun zum großen Thema geworden. Die Gedanken und den Besitz. Loslassen erleichtert tatsächlich. Ich muss lernen, weniger nach Dingen zu gieren. Nach Schlüsseln und nach Sommertagen und so vielen anderen Dingen. Und Vertrauen lernen. Als ich aufgehört hatte, den Schlüssel unbedingt finden zu wollen, da war er plötzlich da. Ganz einfach.

Suche und Zen? Man soll nach nichts streben und suchen, heißt es. Aber es hat sich gezeigt: Auch achtsame Suche nach Schlüsseln ist eine wunderbare Praxis.


*


Quelle:
Buddhistische Monatsblätter Nr. 3/2008, Juli-September, Seite 15-18
Herausgeberin: Buddhistische Gesellschaft Hamburg e.V.,
Beisserstr. 23, 22337 Hamburg
Tel.: 040 / 6313696
E-Mail: bm@bghh.de, buddha-hamburg@gmx.de
Internet: www.bghh.de

Die Buddhistischen Monatsblätter erscheinen
vierteljährlich.
Abonnementspreis: 20,-- Euro jährlich.
Einzelheft: 5,-- Euro


veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Juli 2008