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PRESSE/728: Ein genauerer Blick aufs Karma (Buddhistische Monatsblätter)


Buddhistische Monatsblätter Nr. 4/2008, Oktober-Dezember
Vierteljahreszeitschrift der Buddhistischen Gesellschaft Hamburg e.V.

Ein genauerer Blick aufs Karma

Von Marianne Wachs


Ich möchte den Artikel von Kai Jacobsen "Theravada und Tibet" zum Anlass nehmen, um einmal einen genaueren Blick auf das, was Buddhistinnen und Buddhisten unter "Karma / Kamma"(1) verstehen, zu werfen. Dieser genauere Blick wird es ermöglichen, dass einige Aussagen des Artikels korrigiert und die fatalen Konsequenzen einiger anderer Aussagen des Artikels herausgestrichen werden können. Ich lehne mich dabei nicht nur an Originalschriften an, sondern auch an das, was Prof. Peter Harvey in seinem sehr ausgewogenen und detaillierten - leider noch nicht ins Deutsche übersetzten - Buch 'An Introduction to Buddhist Ethics' (Cambridge University Press, 2000) zu dem Thema festgestellt hat.

Zuerst einige allgemeine Aussagen: Karma (wörtlich: "Handeln") ist ein Gesetz, welches die Bewegung der Lebewesen von einer Wiedergeburt zur anderen bestimmt und auch deren Bewegung innerhalb einer einzelnen Wiedergeburt - aber nur in einem gewissen Grade! - bestimmt. Interessant ist hierbei, dass die Vorstellungen vom Karma sowohl im Theravada, als auch im Mahayana und Vajrayana sich nicht grundlegend geändert haben. Später sind nur kleinere Zusätze dazugekommen, aber trotzdem bleibt Karma ein Begriff, der im gesamten Buddhismus prinzipiell gleich verstanden wird.

Die Früchte des Karma konfrontieren eine Person mit etwas, das dem Wesen eines bestimmten Handelns als besonders angemessen erscheint. So wird im Pali-Kanon beispielsweise gesagt, dass das Töten oder Schädigen von Lebewesen dazu führt, dass das Leben der Person, die dieses getan hat, kurz ist (wobei sich die Kürze entweder auf das jetzige oder auf ein zukünftiges Leben beziehen kann)(2). Es wird festgestellt, dass die Früchte eines ethisch einwandfreien Lebens in einem guten Ruf, einer freudigen Erinnerung an die eigene ethische Reinheit, einem leichteren Fortschritt in der Meditation, einem furchtlosen Tod und einer Wiedergeburt in himmlischen Bereichen bestehen können(3). Interessant ist hierbei, dass die Aussagen des Buddha Shakyamuni zum Karma hauptsächlich dazu dienen, seine ZuhörerInnen dazu zu bewegen, ein ethisch einwandfreies Leben zu führen. In den Lehrreden gibt es keine Stelle, an welcher der Buddha mit dem Finger auf eine Person oder auf eine Gruppe (z.B. eine gesellschaftlich niedrigstehende Schicht) weisen und sagen würde: Dieser Mensch / diese Menschen müssen in der Vergangenheit etwas sehr Schlimmes gemacht haben, da sie doch jetzt so leiden! Eine solche Haltung wäre für die unglücklichen Menschen herabwürdigend und würde den anderen Gelegenheit geben, sich als etwas Besseres zu fühlen. Einer solchen Haltung wird von Buddha Shakyamuni nicht Vorschub geleistet; ihm geht es darum, dass sich die Menschen ethisch entwickeln, um auf dieser Basis ihren Geist weiter schulen zu können.

Es muss betont werden, dass es im gegenwärtigen Leben der Menschen noch andere wirksame Kräfte gibt außer dem Karma. Die Konsequenz davon ist, dass es im Leben keineswegs, wie es in dem genannten Artikel behauptet wird, immer gerecht zugeht! Im Pali-Kanon und auch in den buddhistischen Schriften des Mahayana wird meines Wissens an keiner Stelle explizit gesagt, dass das Karma dafür sorgt, dass Gerechtigkeit in der Welt herrscht und dass in der Welt insgesamt immer ein Gleichgewicht zwischen Recht und Unrecht besteht.

Shakyamuni Buddha hat einen Unterschied zwischen Karma und Schicksal (niyati) gemacht. Die Idee des Karma betont die Wichtigkeit des menschlichen Handelns und seiner Wirkungen, während die Idee des Schicksals (Fatalismus) gerade vom Buddha kritisiert wird, da sie den Menschen die Verantwortung für ihr eigenes Leben aus der Hand nimmt. Während bestimmte Aspekte des gegenwärtigen Lebens (die Form der Wiedergeburt, die soziale Schicht, in die man geboren wird, allgemeine Charakterzüge, bestimmte kritische Ereignisse, die einem passieren, und die Art, in der man die Welt erfährt) als Resultat des Wirkens vergangenen Handelns angesehen werden, wird gesagt, dass einige unangenehme Dinge, mit denen man konfrontiert ist, auf anderes zurückgehen, z.B. auf das Zusammenwirken verschiedener Kräfte innerhalb der körperlichen Konstitution (Galle, Schleim, Wind), auf Klimagegebenheiten und sogar auf den Zufall(4). In den Lehrreden des Pali-Kanons wird häufig darauf hingewiesen, dass sich jemand, der noch nicht erwacht ist, nicht zu viel mit dem Wirken des Karma beschäftigen solle, da er oder sie sonst in Gefahr ist, wahnsinnig zu werden. Nur eine Erwachte / ein Erwachter kann das Wirken des Karma ganz durchschauen und deshalb ist es für alle übrigen Menschen nur wichtig, das Gesetz des Karma zur Kenntnis zu nehmen und sich so zu verhalten, dass die karmischen Früchte nicht negativ sind. Demnach sind Gegenwart und Zukunft wichtiger als die Vergangenheit. Man muss immer wieder betonen, dass der Buddhismus - egal, ob Theravada, Mahayana oder Vajrayana - eminent praktisch ist. Es geht nicht um Theorie, sondern um die Arbeit am eigenen Geist - und Theorie ist deshalb nur insoweit wichtig, als sie eine Grundlage für die förderliche Arbeit am eigenen Geist bildet!

Was auf keinen Fall von Buddha Shakyamuni betont wird, ist so etwas wie "Gruppenkarma" oder "Volkskarma". Es geht um den einzelnen Menschen, und dieser ist auf Grund bestimmter karmischer Früchte in eine bestimmte Gruppe hineingeboren worden und muss deshalb bestimmte Erfahrungen mit dieser Gruppe gemeinsam machen. Es ist aber die einzelne Person, welche sich unheilsam verhält - da kann sie die Verantwortung nicht auf die Gruppe abschieben.

Im Pali-Kanon wird zwar die Möglichkeit nicht verneint, dass sich zwei einander besonders nahestehende Menschen auch in späteren Leben wiedersehen können, aber es wird meines Wissens nie davon gesprochen, dass eine ganze Gruppe als Gruppe in einem bestimmten Daseinsbereich wiedergeboren wird. Es muss immer wieder betont werden, dass es darum geht, dass die einzelnen Menschen an sich arbeiten - in einer Gruppe können sich zwar die Mitglieder gegenseitig unterstützen, aber die Früchte der Unterstützung erhalten die Mitglieder dieser Gruppe gemäß ihrem eigenen Anteil, nicht die Gruppe insgesamt.

Geradezu gefährlich wird es, wenn vom Karma eines ganzen Volkes gesprochen wird. Wenn wir von "Volk" reden, meinen wir etwas ganz anderes als zu Buddhas Zeit. Wenn in der Moderne von "Volk" geredet wird, dann bezeichnet man damit eine nationale Einheit, die sich durch eine gemeinsame Kultur und andere gemeinsame Faktoren auszeichnet. "Volk" besitzt für uns eine stark affektive Komponente und ist ein Wert an sich geworden. Dies geht auf die napoleonische Zeit zurück, in der zum ersten Mal Volk als etwas die Einzelnen Vereinendes und sie zugleich Überhöhendes verstanden wurde, etwas, dem der Einzelne zu dienen hat, aus dem er seine Würde bezieht. Shakyamuni Buddha hat zwar von so etwas wie Völkern gesprochen - z.B. von den Vajjern -, aber darunter wurde zu seiner Zeit etwas völlig anderes verstanden. Völker, das waren nur zu Familien (Clans) zusammengefasste Menschen, die in einer überschaubaren Region lebten, einen gleichen oder ähnlichen Dialekt sprachen und einem bestimmten Kriegsherren (wie es Shakyamuni Buddhas Vater gewesen war) tributpflichtig waren. Männer und Frauen einer Region verstanden sich in erster Linie als Mitglieder eines Clans, in zweiter - besonders bei den Männern - als Mitglieder einer gesellschaftlichen Schicht und, damit zusammenhängend, als Mitglieder eines Berufsstandes - und erst viel später kam ihr Verständnis als Tributpflichtige eines bestimmten Kriegsherren. Große Könige, wie Ashoka, gab es damals noch nicht. Ein affektives Verständnis von "Volk" war bei den Menschen nicht vorhanden.

Buddha hat zwar erwähnt, dass sich die Vajjer sehr heilsam verhielten und es deshalb auch (indirekt gemeint: wegen der Früchte ihres Wirkens) wahrscheinlich war, dass sie zu der Zeit, da die Früchte des Heilsamen reiften, nicht besiegt werden konnten. Bei dieser Erwähnung ging es ihm jedoch nicht darum, auf das Karma hinzuweisen, sondern mitzuwirken, damit Krieg von ihnen ferngehalten wurde.

Die Vorstellung von "Volkskarma" kam zur Blüte mit Madame Blavatsky und der Theosophie, und sie bekam bald einen rassistischen Beigeschmack. Als unheilvolles Erbe kam die christliche Vorstellung von "Schuld" hinzu. Schuld galt in einer christlichen Kultur als etwas, wodurch eine Person, eine ganze Gruppe oder eben auch ein Volk an Wert verliert! Schuld wird wie eine Last aufgebürdet. Derjenige, der sich schuldig vorkommt, schätzt sich selbst geringer ein als andere und findet es ganz richtig, wenn er für seine - manchmal auch nur vermeintliche - "Missetat" bestraft wird. Im Buddhismus gilt diese Haltung jedoch als eine Form von Stolz, denn eine Person ist nicht nur stolz, wenn sie sich als besser als andere vorkommt, sondern auch, wenn sie sich geringer als andere dünkt! In beiden Fällen setzt sie sich von den Lebewesen ab und stellt sich als etwas Besonderes heraus. Nun wird deutlich, warum man nicht meinen darf, die leidvolle Situation der Tibeter wäre karmisch bedingt. Dies wäre das gleiche, wie wenn man verkündete, dass die Juden schuld am Holocaust seien. Um es noch einmal zu wiederholen: Noch nicht völlig erwachte Menschen können nicht durchschauen, was alles karmische Früchte sind und was nicht. Deswegen sollten sie auch nicht behaupten, ein ganzes Volk(5) hätte sich sein Leid selbst zuzuschreiben. Eine solche Behauptung zeugt nicht von Mitgefühl.

Nun noch zu einem in dem hier behandelten Artikel falsch dargestellten Punkt, der freilich nichts mit Karma zu tun hat. Im Artikel wird gesagt: "Und wir können beten, dass sich die Situation zum Guten wendet." Wieso sollten Buddhisten oder Buddhistinnen beten? Ein Gebet ist der Definition nach ein Text, der an eine unsichtbare Wesenheit gerichtet ist und meist eine Bitte beinhaltet. Die unsichtbare Wesenheit, an die ein Gebet gerichtet ist, zeichnet sich im Denken der betenden Person durch eine übermenschliche Macht, durch Unbedingtheit, Substanzhaftigkeit und ewige Dauer aus. Buddha hat jedoch ganz richtig erkannt - und das war seine allergrößte Leistung! -, dass es an einer Person (sei sie sichtbar oder nicht) nichts Unbedingtes, Festes, Ewiges, Unwandelbares gibt. Außer dem Nirvana ist alles bedingt, ändert sich, entsteht und vergeht. Selbst im Tibetischen Buddhismus kann man nicht von "Beten" reden (obwohl das Wort dort gern verwendet wird), da hier zwar bestimmte Wesenheiten angefleht werden, diese aber nur als Produkte des eigenen Geistes gesehen werden. Bei ihrer Visualisierung entstehen sie aus dem Leeren (um das Nomen "Leere" zu vermeiden, welches als zu substanziell, zu wenig dynamisch erscheint) und lösen sich am Ende im Leeren wieder auf. Man "betet" also zu dem eigenen Geist - und die Buddhisten sollten sich dessen immer bewusst sein!

Wir sehen also, wie wir von unserem westlichen - vom Christentum geprägten - Denken her gerne in eine falsche Schiene rutschen und dann buddhistische Begriffe falsch verstehen. Das führt, wie es der Begriff des Karma zeigt, manchmal zu fatalen Konsequenzen. Es ist also angebracht, sich die buddhistischen Begriffe immer genau zu betrachten und sie intensiv, auf dem Boden der Erfahrungswirklichkeit, zu hinterfragen.


"Die Wesen haben das Kamma als ihr Eigentum
(kammassaka), sind Erben ihres Kamma, das Kamma
ist ihr Mutterschoß, das Kamma ist ihre Blutsverwandtschaft,
das Kamma ist ihre Stütze. Das Kamma teilt die Wesen
ein, nach Niedrigkeit und Vorzüglichkeit."
M 135


Anmerkungen:
(1) Ich benutze die Sanskrit-Form, da sie die geläufigere ist.
(2) siehe u.a. A IV.247-8
(3) u.a. M.III.170-1
(4) siehe besonders das Milindhapanha, aber auch z.B. S. IV.230-1; A. V.10
(5) Unser heutiger Begriff von "Volk" fasst das, was man unter "Nation" versteht - und nichts anderes, denn nach den Erfahrungen des Nationalsozialismus wird wohl kaum jemand mehr ernsthaft den Begriff "Volk" mit dem Begriff "Rasse" zusammenbringen wollen (wobei das in der Romantik noch gemacht wurde und gemacht werden konnte!). Unter "Volk" versteht man heute bewusst und unbewusst "Nation" - und von daher sind "Nation" und "Volk" heute zumindest im Westen ineinsgefallen!


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Quelle:
Buddhistische Monatsblätter Nr. 4/2008, Oktober-Dezember, Seite 16-20
Vierteljahreszeitschrift der Buddhistischen Gesellschaft Hamburg e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Oktober 2008