Schattenblick →INFOPOOL →RELIGION → BUDDHISMUS

PRESSE/753: Shinjinmei - Verse über das Vertrauen in den einen Geist (Zenshin)


ZENSHIN - Zeitschrift für Zenbuddhismus, Nr. 2/08

Sosan Zenji: Shinjinmei
Verse über das Vertrauen in den einen Geist

Mit einem Kommentar von Dorin Genpo Zenji


Der große Weg ist ganz einfach,
wenn du keine Vorlieben hast und aufhörst zu wählen.
Wo weder Liebe noch Hass,
wird alles klar und unverhüllt.
Wenn du jedoch die kleinste Unterscheidung triffst,
werden Himmel und Erde unendlich weit voneinander getrennt.
Soll die Wahrheit sich dir offenbaren,
Lass jede Meinung für oder gegen etwas beiseite.
Der Kampf zwischen Neigung und Abneigung
ist die Krankheit des Geistes.
Wird die tiefe Wahrheit und Bedeutung der Dinge nicht erkannt,
erschöpft sich der Geist vergeblich
und sein grundlegender Friede wird nutzlos gestört.

Der große Weg ist vollkommen wie der weite Raum,
in dem es weder ein zuviel noch ein zuwenig gibt.
Nur durch das Wählen, ob wir ablehnen oder ergreifen wollen,
erkennen wir das wahre Wesen, die Soheit der Dinge nicht.
Verstricke dich weder im Jagen nach äußeren Erscheinungsformen,
noch in der Erfahrung von Leerheit.
Bleibe heiter und gelassen in der Einheit der Dinge,
Und solche irrigen Ansichten verschwinden von selbst.
Wenn du versuchst, Aktivität zum Stillstand zu bringen,
um Passivität zu erreichen, ist dieses Bemühen selbst nur wieder Aktivität.
So lange du in dem einen oder anderen Extrem verharrst,
wirst du das Eine nicht erkennen.

Und wer das Eine nicht lebt, verfehlt beides:
Aktivität und Passivität, verfehlt das Ja und das Nein.
Die Wirklichkeit der Dinge leugnen heißt ihre Wahrheit zu verfehlen.
Nur der Leere zu folgen heißt, sich gegen die Leere zu wenden.
Hör auf zu reden und zu denken,
und es gibt nichts, was du nicht erkennen kannst.
Wenn wir zur Wurzel zurückkehren, finden wir das Wesen der Dinge.
Folgen wir den Erscheinungen, verfehlen wir die Quelle.
Im Augenblick innerer Erleuchtung
gehen wir jenseits von Erscheinung und Leerheit.
Scheinbare Wandlungen in der Welt der Leerheit
erscheinen nur aus Verblendung wirklich.
Suche nicht nach der Wahrheit, höre nur auf, Meinungen zu hegen.

Verharre nicht in dualistischen Anschauungen,
sei achtsam und folge ihnen nicht.
Gibt es auch nur eine Spur von Dies und Das, von Richtig und Falsch,
gerät der Geist in Verwirrung und verliert sich.
Obgleich jede Zweiheit aus dem Einen kommt,
hafte nicht einmal an diesem Einen.
Wenn der Geist auf dem Weg ungestört weilt,
kann nichts auf der Welt mehr verletzen.
Und wenn etwas nicht mehr zu verletzen vermag,
hört es auf, auf die alte Weise zu sein.

Wenn keine unterscheidenden Gedanken aufsteigen,
hört der alte Geist auf zu existieren.
Wenn die Gedankenobjekte verschwinden,
verschwindet auch das denkende und urteilende Subjekt.
Die Dinge sind Objekte, weil es ein Subjekt gibt.
Und das Subjekt bestätigt sich als Subjekt
durch seine Abhängigkeit vom Objekt.
Versteht die Relativität und Abhängigkeit von diesen beiden,
und die grundlegende Wirklichkeit,
die Einheit der Leerheit in Allem.
In dieser Leerheit sind die beiden nicht zu unterscheiden,
und jedes von beiden enthält die ganze Welt.
Unterscheidest du nicht zwischen Fein und Grob,
so wirst du nicht zu Vorurteil und Meinung verführt.

Der erhabene Weg ist in seinem Wesen großmütig.
Er ist weder schwierig noch leicht.
Aber jene mit begrenztem Blick
sind furchtsam und unentschlossen.
Je schneller sie eilen, desto langsamer kommen sie voran.
Und das Anhaften und Greifen
ist nicht auf bestimmte Bereiche begrenzt.
Selbst das Anhaften an die Idee der Erleuchtung
lässt in die Irre gehen.
Lass einfach die Dinge ihren eigenen Weg gehen,
und es wird weder Kommen noch Gehen geben.
Lass los und folge der Natur der Dinge
und du wirst frei und ungestört wandeln.
Wenn Gedanken in Fesseln liegen, ist die Wahrheit verborgen,
denn dann ist alles dunkel und unklar.
Die Last des Urteilens bringt den Verdruss und die Erschöpfung.
Welchen Nutzen bringen denn Unterscheidungen und Trennungen?

Wenn du den erhabenen Weg erfahren möchtest,
so lehne auch die Welt der Sinne und Ideen nicht ab.
In der Tat - sie vollkommen zu akzeptieren,
kommt wahrer Erleuchtung gleich.
Der Weise verfolgt keine Ziele,
der Narr aber fesselt sich selbst.
Es gibt einen Dharma, eine Wahrheit, nicht viele.
Unterscheidungen entstehen, wenn man das nicht erkennt,
und daher dem Bedürfnis, sich anzuklammern, folgt.
Den einen Geist mit dem unterscheidenden Geist zu suchen,
ist der größte Fehler von allen.

Ruhe und Unruhe entstammen der Illusion,
Erleuchtung kennt weder Vorliebe noch Abneigung.
Alle dualistischen Ansichten entstehen aus Unwissenheit
wie Träume von Blumen in der Luft -
Es ist närrisch, sie fassen zu wollen.
Gewinn und Verlust, Richtig und Falsch,
all diese Gedanken müssen letztlich
mit einem Mal aufgegeben werden.

Wenn das Auge niemals schläft,
vergehen alle Träume von allein.
Ist der Geist nicht den Unterscheidungen unterworfen,
werden alle Daseinsformen des Kosmos Einheit.
Das Wesen dieses einen Soseins ist ein ewiges Mysterium -
unbewegt, absolut, alle karmischen Bindungen befreiend.
Wenn alle Dinge mit dem gleichen offenen Auge betrachtet werden,
wird die zeitlose Essenz des Selbst erreicht.
Keine Vergleiche oder Analogien sind hier möglich -
in diesem Sein ohne Ursache, Grund und Beziehung.

Betrachte Bewegung in Stille und Stille in Bewegung,
so verschwinden beide,
der Zustand der Ruhe und der Zustand der Bewegung.
Und wenn die Dualitäten aufhören zu existieren,
kann selbst Einheit nicht bestehen.
Auf diese letzte Endgültigkeit
trifft kein Gesetz und keine Beschreibung mehr zu.

Der vereinigte Geist ist in Übereinstimmung
mit dem erhabenen Weg.
Wenn es den Argwohn des Fuchses nicht mehr gibt,
lösen die Leidenschaften sich restlos auf.
So endet alles selbstbezogene Trachten
und ein Leben in wahrem Vertrauen ist möglich.
Mit einem einzigen Schlag sind wir befreit von den Fesseln.
Nichts hängt an uns und wir hängen an nichts.
Alles ist leer, klar und selbsterleuchtend,
ohne Anstrengung des Geistes.
Hier haben Gedanke, Gefühl, Wissen und Vorstellung keinen Wert.
In dieser Welt der Soheit gibt es weder Selbst noch Andere.

Willst du in unmittelbare Harmonie mit dieser Wirklichkeit gelangen,
so erinnere dich, wenn der Zweifel kommt, einfach: "Nicht zwei".
In diesem "Nicht-zwei" ist nichts getrennt und nichts ausgeschlossen,
ganz gleich, wann und wo und wie - es duldet alle Widersprüche.
Erleuchtung heißt, in diese Wahrheit einzutreten.
Und diese Wahrheit ist jenseits von Ausdehnung
oder Zusammenziehung in Zeit und Raum.
In ihr währt ein einzelner Gedanke zehntausend Jahre.

Leerheit hier, Leerheit dort -
aber das unendliche Universum steht immer vor deinen Augen.
Unendlich groß, unendlich klein - kein Unterschied,
denn alle Definitionen sind verschwunden
und keine Grenzen sind zu sehen.
Das gleiche gilt für Sein und für Nichtsein.
Verschwende deine Zeit nicht mit Zweifeln und Argumentationen,
die mit Dem nichts zu tun haben.

Ein Ding - alle Dinge bewegen sich ineinander
und vermischen sich ohne Unterscheidung.
In dieser Verwirklichung leben heisst,
ohne Angst vor Nicht-Perfektion zu sein.
In diesem Vertrauen leben ist der Weg der Nicht-Dualität,
weil das Nicht-Duale eins ist mit dem vertrauenden Geist.

Worte!
Der Weg ist jenseits von Sprache,
denn auf ihm gibt es
kein Gestern,
kein Morgen,
kein Heute.


Anmerkung der Schattenblick-Redaktion:
Der Schattenblick-Redaktion ist es trotz sorgfältiger Recherche
und Nachfragen nicht gelungen, den Übersetzer der vorliegenden
deutschen Version des Shinjinmei zu ermitteln. Gern wird vom SB
jeder zielführende Hinweis auf den Übersetzer entgegengenommen.


*


Kommentar zum Shinjinmei

von Dorin Genpo Zenji


Die Meißelschrift vom "Vertrauen in den einen Geist" schätze ich sehr, hat sie mich doch auf meinem Zen-Weg immer wieder inspiriert und motiviert. Für mein Zen-Leben (in Theorie und Praxis) habe ich dort stets hilfreiche Hinweise gefunden. Umso erstaunter war/bin ich, dass ich immer wieder gebeten wurde/werde Kommentare und Erläuterungen zum Shinjinmei zu verfassen. Wer sich mit dem Text eingehend beschäftigt wird feststellen, dass er ein Erfahrungsbericht ist, der das Leben selbst beschreibt und wertvolle Anregungen flur die Lebensschule gibt. Wer sich auf den Zen-Weg eingelassen hat und ihn mit guter Motivation und Ausdauer beschreitet, wird dort das eigene Erleben in jahrelanger Praxis und Übung beschrieben finden. Dies bezeichne ich gerne als "freudiges Wiedererkennen" oder als "Bestätigung sich auf dem Weg zu befinden".

Das Leben ist ganz einfach, wenn wir uns nicht ständig von Gier, Hass und Unwissenheit beherrschen lassen. Wenn wir unsere Wünsche, Vorlieben und Abneigungen als das betrachten was sie tatsächlich sind, dann wird alles klar und einfach. Wenn jedoch egoistische Unterscheidungen das Handeln bestimmen, werden das Leben und das Miteinander kompliziert. Wer seine Meinung als die einzig richtige oder maßgebliche in den Vordergrund stellt, verleitet sich zum Urteilen und Verurteilen. Wer jedoch die Wirklichkeit so sehen möchte, wie sie ist, lässt sich von seinen Eigenarten nicht den Blick auf sie verstellen.

Erfahren wir Selbstwesenschau, erwachen wir zum wahren Menschen. Das, was wir Wahrheit nennen, ist nichts anderes als das Konstrukt unserer Gedanken. Die Wahrheit kann sich nur dann zeigen, wenn ihr weder etwas hinzufügt noch etwas weggenommen wird. Der Kampf zwischen Neigung und Abneigung, das Hin und Her zwischen Richtig und Falsch, ist die Krankheit des Geistes. Wird die grundlegende Wahrheit und die Bedeutung der Dinge nicht so akzeptiert, wie sie von Natur aus sind, erschöpft sich der Geist vergeblich und sein grundlegender Friede wird nutzlos gestört.

Der Mensch spielt Gott und übersieht dabei das Gesetz von Ursache und Wirkung. Dabei ist der große Weg vollkommen wie der weite Raum, in dem es weder ein Zuviel noch ein Zuwenig gibt. Aufgrund der in uns wohnenden Geistesgifte Gier, Hass und Unwissenheit erkennen wir das wahre Wesen, die Soheit der Dinge nicht. Wir leiden am Dasein, weil unser selbstgefertigtes Weltbild nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmt.

Das Haften und Klammern, sowohl an materiellen oder geistigen Dingen, führt zu Intoleranz und Unfrieden. Bleiben wir heiter und gelassen in der Einheit der Dinge, werden solche irrigen Ansichten von selbst verschwinden. Form ist Leerheit und Leerheit ist Form. Es gibt kein Kommen und Gehen, sondern "nur" ein sich ständiges Wandeln von Werden und Entwerden.

Wer beim Zazen versucht seine Aktivität oder sein Denken zum Stillstand zu bringen, verfehlt es. Zen ist weder quietistisch noch nihilistisch. Der Buddha lehrt den mittleren Weg. Das heißt, wir üben uns darin, Extreme zu vermeiden. Irgendwann können wir feststellen, dass Denken alleine keine Probleme löst. Wenn wir wieder lernen zu hören, zu sehen und zu fühlen (d.h. die Sinne zu benützen), ohne diese mit unserem Denken zu verkomplizieren, dann sind wir "auf dem Weg".

Ich würde mich sehr freuen, durch meinen Kommentar Interesse für das Shinjinmei zu wecken.


*


Quelle:
ZENSHIN - Zeitschrift für Zenbuddhismus, Nr. 2/08, S. 9-14
Herausgeberin: Hakuin Zen Gemeinschaft Deutschland e.V. (HZG)
Burggasse 15, 86424 Dinkelscherben
Redaktion: Nanshu Susanne Fendler / Bunsetsu Michael Schön
Übelherrgasse 6, 89420 Höchstädt a.d.D.
E-Mail: s-fendler@t-online.de / schoen-bio@gmx.de

ZENSHIN erscheint halbjährlich.
Einzelheft 7,50 Euro inklusive Versand


veröffentlicht im Schattenblick zum 2. April 2009