PRESSE/764: Die Dharma-Linie (Buddhismus heute)
Buddhismus heute 46 - Frühjahr/Sommer 2009
Das Diamantweg-Magazin der Karma-Kagyü-Linie
Die Dharma-Linie
Von Künzig Shamar Rinpoche
Schüler in der Karma Kagyü Linie zu sein, ist ein sehr glücklicher und außergewöhnlicher Umstand, denn Karma Kagyü ist eine der kostbarsten Linien des tibetischen Buddhismus. Ursprünglich empfing Marpa aus Tibet diese Linie von seinem indischen Lehrer Naropa und brachte sie von Indien nach Tibet. Er schuf die Grundlage für diese Linie in Tibet und der erste Meister, der dann in Tibet diese Übertragung erhielt, war Milarepa. Diese Linie hat sich bis in unsere heutige Zeit in nahezu alle Ecken der Welt verbreitet und ist überall angesehen und respektiert. Die Lehren der Karma Kagyü Linie werden von hohen Lehrern, den Rinpoches, zum Nutzen der Wesen verbreitet.
Buddha sagte im Samadhiraja-Sutra, dass in der Zeit des Niedergangs des Dharma ein großer Bodhisattva namens Gampopa geboren werden würde, um zu helfen, die Wesen aus ihrer Unwissenheit zu befreien. Gampopa war der Hauptschüler von Milarepa und dieses Sutra erwähnt auch eindeutig den 1. Karmapa, Gampopas Hauptschüler.
Als Karmapa sich auf den hohen Bodhisattva-Stufen befand, machte er viele, weite und reine Versprechen zum Wohle aller Wesen. Das Sutra besagt, dass er mittlerweile die 10. Bodhisattva-Stufe (1) erlangt habe. Karmapa manifestiere sich in der Welt, um die Lehren Buddhas zu schützen und zu bewahren.
Das Samadhiraja-Sutra sagt auch klar, dass Gampopa diese Linie aufbauen und an seinen Schüler Karmapa weitergeben werde. Dieser würde sie wiederum durch seine aufeinander folgenden Wiedergeburten halten.
Ihr seid jetzt Schüler dieser Linie und das ist wirklich eine sehr seltene und kostbare Gelegenheit, die ihr ganz bestimmt nicht vergeuden solltet.
Was ist hier mit 'Vergeuden' gemeint? Die größte Vergeudung wäre, wenn man die sehr kostbare Gelegenheit für die Dharmapraxis hätte und dann aber keinen Fortschritt machen könnte. Aus früheren Leben sind wir von zu vielen Störgefühlen und Verdunkelungen beeinträchtigt und die Chance der Verbindung zum Dharma könnte schnell durch karmische Kräfte zerstört werden. Die Menge an Karma, die wir unter dem Einfluss von Störgefühlen angehäuft haben, ist riesig und wird millionenfach zur Reife kommen. Die stärksten Karmas reifen immer zuerst heran und so erfahren wir nach und nach die Resultate all dieser Karmas.
In diesem Leben sind wir zum Beispiel als Menschen geboren und alles Gute und Schlechte, das wir jetzt in der Menschenwelt erfahren, ist die Folge von unserem früheren Karma. Die stärkste karmische Kraft ist bereits gereift und hat zur Wiedergeburt in der Menschenwelt geführt, aber dieses Leben ist irgendwann zu Ende. Es ist möglich, dass unser gutes Karma für menschliche Wiedergeburt verbraucht ist, wenn wir in diesem Leben nicht mit ganzer Anstrengung praktizieren und Verdienst aufbauen. Es könnte dann ein anderes Karma heranreifen und das könnte durchaus ein negatives sein, denn das gute Karma der Menschengeburt wurde verbraucht und zurück bleibt dann ein schlechteres Karma. Denkt man einmal für nur fünf Minuten darüber nach, wird einem deutlich, dass man die ganze Zeit unter dem Einfluss von zu vielen Störgefühlen, wie zum Beispiel Begierde, steht. Diese Störgefühle werden einem schlechtes Karma bringen und das kann all unsere Chancen für Glück zerstören. Aus diesem Grunde sollten wir diesen Menschenkörper gut nutzen, um damit eine Ebene von Verwirklichung zu erlangen, so dass wir in der Zukunft weiterhin mit freudiger Anstrengung Dharma üben können.
Man sollte mutig und stark in der Praxis sein, bis man Resultate hat
Der Weg der Bodhisattvas besteht aus vielen uns jetzt zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, unter denen wir in diesem Leben wählen können und unsere Wahl hat eindeutige Folgen. Unsere Wahl und deren karmische Folgen bilden einen Kreislauf aus Kettenreaktionen. Wenn wir uns also nun entscheiden den Erleuchtungsgeist zu entwickeln, werden wir natürlicherweise einen Durchbruch in der Entwicklung von Bodhicitta und damit auf dem Bodhisattva-Weg erleben.
Wie entwickelt man die Fähigkeit fühlenden Wesen zu helfen? Sie entsteht grundsätzlich aus dem Aufbau von Bodhicitta und der Praxis des Bodhisattva-Verhaltens einer Person. Dadurch wird man fähig fühlenden Wesen spontan zu helfen und durch diese Hilfe entstehen wiederum noch mehr solcher Fähigkeiten. Es entsteht eine Art positive Spirale und Entwicklung in gegenseitiger Abhängigkeit. Das durch Bodhisattva-Verhalten angesammelte Verdienst ist unsere stärkste Kraft um schlechtes Karma zu beenden. Jede Art von schlechtem Karma kann durch den positiven Eindruck selbst einer kleinen Bodhisattva-Handlung aufgelöst werden. Wie viele negative Taten man auch begangen hat, die reine Motivation des Bodhisattva-Verhaltens kann sie alle reinigen. Das ist die einzige Möglichkeit Verwirklichung zu erlangen und in die Reinen Länder der Buddhas zu gehen.
Schlechtes Karma kann extrem hartnäckig und stark sein. Wenn man durch die Praxis des Bodhicitta und des Bodhisattva-Verhaltens Verdienst aufbaut, kann es aber stufenweise abgeschwächt werden, bis hin zum völligen Verschwinden. Man kann es auch anders ausdrücken: unser früheres Karma ist samsarisches Karma und Bodhicitta führt uns zum Gegenteil, also gereinigtem Karma. So wird schlechtes Karma umgeformt und gereinigt.
Wenn jemand Befreiung - die 1. Bhumi - erlangt, hat er die bedingte Welt überwunden und ist nicht länger dem Existenzkreislauf unterworfen. Der ganze Bodhisattva-Weg besteht aus fünf Pfaden (2) und auf dem zweiten davon - der noch vor dem Erreichen der Befreiung liegt - hat schlechtes Karmas nur noch schwachen Einfluss auf uns. An diesem Punkt wird die Praxis sehr fließend, man ist voll freudiger Anstrengung und erlebt einen schnellen Fortschritt in der Bodhisattva-Praxis. Diese Ebene ist zwar doch weit entfernt von der Buddhaschaft, aber verglichen mit dem Zustand gewöhnlicher Wesen ist es bereits eine hohe Stufe von Verwirklichung. Deshalb sollten wir all unsere Anstrengung darauf richten, diese Ebene in diesem Leben zu erreichen. Nur dann kann man wirklich sagen, dass der Kostbare Menschenkörper nicht vergeudet wurde. Wenn man sehr intelligent ist, sehr viel Verdienst aufbaut und sehr fleißig praktiziert, kann man natürlich auch in einem einzigen Leben alle fünf Pfade zur Buddhaschaft durchlaufen. Aber auch wenn man in seiner Praxis nicht so scharf und geschickt ist, kann man doch durch die allmähliche Praxis mit einem starken und unumkehrbaren Erleuchtungsgeist beträchtliche Resultate erlangen.
Das Wichtigste bei der Praxis ist, dass man richtige und fehlerfreie Methoden hat. Die erleuchtete Praxis eines Buddhas ist eigentlich kein Dharma zum lehren. "Buddha-Dharma" nennt man all die Belehrungen, die nur als Führer zur Erleuchtung dienen. Wenn man Zuflucht genommen hat und Buddhist geworden ist, wird der Buddha unser höchster Lehrer und das Dharma unser Weg oder Führer und es zeigt uns klar die Richtung. All die verschiedenen Lehren des Buddhas wurden entsprechend den Fähigkeiten der Wesen gegeben, deswegen ist das Dharma tatsächlich unermesslich und grenzenlos.
Grundsätzlich ist jeder Linienhalter ein erleuchtetes Wesen und hat tiefgründiges Wissen und geschickte Mittel. Um den Wesen zu helfen, haben die Linienhalter voller Mitgefühl viele der tiefgründigen Lehren zu systematischen Sets von stufenweiser Praxis arrangiert. Ob die Wesen die Chance haben, die korrekte Praxis zu bekommen und einen qualifizierten Lehrer zu treffen oder nicht, ist aber trotzdem fraglich. Aus diesem Grunde habe ich zu Anfang gesagt, dass ihr sehr großes Glück habt, Schüler der Karma Kagyü Linie geworden zu sein.
Gampopa hatte ein Set von Belehrungen zusammengestellt, das systematisch und leicht zu praktizieren ist. Es gibt im Allgemeinen nämlich nur wenige Menschen, die tiefgründige und komplizierte Belehrungen annehmen können. Es fehlt ihnen dazu die dafür nötige Grundlage von großem Verdienst. Ich sage das nicht, weil ich alle Menschen absichtlich klein machen will, sondern es ist eine Tatsache, die auch der Grund dafür ist, dass wir fühlende Wesen sind. Wie es auch sei, ihr bekommt ja schon die richtigen Belehrungen und habt auch das Glück, dass ihr nicht irgendwelche gegenstandslosen, philosophischen Sachen durchdenken müsst. Bitte hütet euch vor der Idee, zu praktizieren um besondere geistige Kräfte zu erlangen, die einem ermöglichen würden zum Beispiel zu fliegen, Licht auszustrahlen oder Macht zu bekommen. Nachdem sie verschiedene Lebensgeschichten gelesen haben, könnten Leute den Wunsch entwickeln, die großartigen Kräfte von Meistern wie Tilopa, Naropa und Marpa zu erlangen. Wenn man den von den Linienhaltern gegebenen Lehren folgt und ihren Anweisungen folgend korrekt praktiziert, stellen sich diese besonderen geistigen Kräfte von selbst ein und man erlangt so bestimmte Ebenen der Verwirklichung. Es ist aber wichtig zu verstehen, dass es nur Nebeneffekte eurer Praxis sind.
Wir brauchen sehr starke Willenskraft, um auf unserem Weg zur Buddhaschaft die erste Stufe der Verwirklichung zu erreichen. Dafür muss man ein sehr entschlossener Praktizierender sein. Auch auf der zweiten Stufe, ab der man nie wieder in die niederen Daseinsbereiche fallen kann und auf der man große Fortschritte in der Praxis macht, ist immer noch große Entschlossenheit nötig. Es wird manchmal gesagt, dass es sehr schwer sei, volle Buddhaschaft zu erlangen, denn man müsse so hart dafür praktizieren. Das stimmt natürlich, und für uns scheint das sehr weit entfernt und schwierig zu sein. Aber hier spreche ich von etwas anderem, nämlich davon, dass es in diesem Leben gut möglich ist, eine bestimmte Ebene von Verwirklichung zu erlangen. Aber ich muss auch daran erinnern, dass es selbst dafür nötig ist hart zu praktizieren. Man sollte mutig und stark in der Praxis sein, bis man Resultate hat, mit denen man in der Lage ist, unsere starken Verstrickungen zu durchbrechen.
Die Belehrungen und die klaren, einfachen, tiefgründigen und kraftvollen Übungen in der Karma Kagyü Linie werden auch von anderen Schulen gepriesen und geschätzt. Die erste Stufe der Praxis ist, dass man das Bodhisattva-Versprechen nimmt und dann die vier Grundübungen praktiziert. Diese Vier sind die Verbeugungen mit Zufluchtnahme, Diamantgeist-Praxis, Mandala-Schenkungen und die Guru-Yoga-Praxis.
Besonders Guru-Yoga ist sehr wichtig, denn es ermöglicht uns, direkt die höchste Mahamudra-Praxis zu erlangen. Wenn wir in den vielen Dharmatexten über Meditationspraxis lesen, dann sind das alles nur Anweisungen dazu, wie man seine Gedanken unter Kontrolle bringt. Durch Guru-Yoga-Praxis hingegen können wir den kraftvollen Segen all der Linien-Meister bekommen und das kann uns direkt in die Mahamudra-Praxis führen.
Im Allgemeinen sind all die Meditationspraktiken denen des Mahamudra sehr ähnlich. Aber in der Guru-Yoga-Praxis müssen wir uns nicht auf die traditionellen Meditationsmethoden als Führer auf unserem Weg stützen, denn Guru-Yoga ist eine einfachere und stabilere Abkürzung. Keiner von euch muss solche Härten wie Milarepa auf sich nehmen, oder die Art des Trainings durchlaufen wie Gampopa. Naropa hatte viel Mühe und Anstrengungen für grundlegende Übungen auf sich genommen und wir müssen diesen gleichen Weg nicht noch einmal gehen. Aufgrund von Gampopas Mitgefühls wurden all die Übungen für uns arrangiert und vereinfacht. Man fragt sich vielleicht, warum nicht Marpa schon eine solche Vereinfachung für Milarepa gemacht hatte? Wollte er etwa absichtlich Milarepa Probleme in den Weg legen? Natürlich nicht. Aber Milarepa musste einfach einen hohen Preis dafür zahlen, die Praxis zu verwirklichen. Heute jedoch haben wir viele vereinfachte Lehren zur Praxis und das verdanken wir dem starken und großen Versprechen, das Gampopa einmal in der Vergangenheit abgelegt hatte um den Wesen zu nutzen. Buddha Shakyamuni hat aus diesem Grunde im Samadhiraja-Sutra insbesondere das Erscheinen von Gampopa prophezeit.
Um Dharma zu praktizieren, muss man zuerst einmal ein richtiges Verständnis davon haben. Danach konzentriert man sich darauf erfolgreich zu praktizieren und so auch alle möglichen Fehler zu beseitigen. Man kann auf dem Weg sehr leicht Fehler machen, ohne es überhaupt zu merken.
Guru-Yoga ermöglicht uns, direkt die höchste Mahamudra-Praxis zu erlangen.
Einige Meditierende, die bereits beachtliche Erfahrungen in der Meditation haben, könnten zum Beispiel denken, dass sie das Ziel und damit das Ende der Praxis schon erreicht hätten. Sie könnten sogar denken: "Ich habe die Erleuchtung erlangt!" So etwas ist recht verbreitet unter manchen erfahrenen Meditierenden. Ihr Stolz wird allmählich so groß, dass sie nicht einmal mehr den Anweisungen ihrer Lehrer folgen wollen. Unter solchen Umständen führen einen dann die Meditationsresultate vom richtigen Weg ab.
Auf den letzten Stufen konzentriert man sich darauf, die eigene Fähigkeit, Fehler zu vermeiden zu verstärken und selbst geeignete Korrekturen vorzunehmen. Auf diesen von Gampopa erwähnten Stufen geht es vor allem darum, unsere getäuschten Gedanken zur Grundlage der Praxis zu machen. Alle der Täuschung unterliegenden Gedanken, wie zum Beispiel Schaden bringende Begierden und Gier, sind in der Tat im Prozess unserer Praxis hilfreiche Faktoren. Deswegen wäre es hier ein ungeeigneter Ansatz, wenn man Gegenmittel einsetzen würde, um diese getäuschten Gedanken am Entstehen zu hindern. Tatsächlich ist die Essenz von schädlichen Begierden eigentlich Weisheit. Sie können in Weisheit verwandelt werden. Um das aber wirklich tun zu können, muss man schon auf sehr fortgeschrittenen Stufen der Praxis sein. Deshalb müssen wir zuerst kontinuierlich drei vorhergehende Stufen üben, bis wir eine bestimmte Verwirklichung erlangen können. Erst dann streben wir nach höheren Zuständen. Sehr gute Meditierende können dann sogar im gleichen Moment, in dem Gedanken und Begierden aufkommen, deren Essenz erkennen und diese Gedanken und Begierden kontrollieren. Deswegen können Begierden als hilfreich für die Praxis behandelt werden.
Gewöhnliche Wesen sind nicht in der Lage die Essenz ihrer Begierden zu verstehen. Für sie ist Begierde eine Täuschung, die sehr real und solide ist. Wenn wir aber wirklich die Natur der Begierden oder Täuschungen erkennen können, dann können wir sie in hilfreiche Bedingungen, die zum Erreichen der Erleuchtung führen, verwandeln. Im Vajrayana wird ganz klar gesagt, dass die Natur von schädlicher Begierde der Wahrheitszustand, also höchste Weisheit, ist. Das muss man verstehen, um auf dem "Pfad der Meditation"(3) Fehler zu vermeiden und man muss eine richtige Sichtweise und Einstellung zur Dharmapraxis haben. Aus all dem hier Gesagten wird deutlich, warum es in unserer Praxis so wichtig ist, die Stufen der vier Grundübungen und des Mahamudra und auch das Entwickeln der richtigen Motivation zu üben.
Man kann alle Fehler und falschen Verhaltensweisen vermeiden, wenn man diesen Stufen der Praxis, beginnend mit den Grundübungen, nacheinander folgt. Die Resultate der Grundübungen führen uns dann in die Weisheitssicht des Mahamudra. Sobald man diese Sicht einmal hat, wird man fähig zu erkennen, dass Gier und Begierde Weisheiten und der Wahrheitszustand sind. Dann wird man erkennen, dass Mahamudra alldurchdringend ist. Im Moment ist Mahamudra für uns ja das, was unsere Lehrer uns gelehrt haben und ein Zustand, von dem wir hoffen, ihn durch fleißige Praxis erlangen zu können. Wenn man aber an diesem Punkt steht, gibt es keinen Unterschied mehr, denn die Weisheits-Sicht des Mahamudra ist natürlicherweise vorhanden. Mahamudra entspricht dem natürlichen Wesen aller Dinge und alles ist tatsächlich ein Ausdruck dieser Natur.
Zwischen der Erleuchtungsnatur des Mahamudra und der Natur der Begierden gibt es deswegen keinen Unterschied. Auf unserer derzeitigen Ebene nehmen wir sie noch als verschieden wahr: für uns ist der Mahamudra-Geisteszustand der Geist der Erleuchtung und der Geist voller Begierden ist der Geist Samsaras. Aber es ist ganz anders, wenn man auf ihre wahre Natur schaut. Wenn man zum Beispiel die wahre Natur von Zorn sieht, dann ist Zorn nicht mehr einfach samsarischer Zorn, sondern Weisheit. Diese Weisheit entspringt tatsächlich dem Zorn selbst.
Das ist eine sehr wichtige Belehrung der Karma Kagyü Linie. Sie umfasst eine sehr tiefgründige innere Bedeutung, die in keinerlei Worte gefasst werden kann. Es ist tatsächlich ein spezielles Charakteristikum des Vajrayana. Die Lehren des Vajrayana haben zudem die Besonderheit, einfach und schnell zu sein - es ist eine Praxis, die leicht und bequem auszuführen ist und sowohl vollständig als auch fehlerfrei ist. Deswegen ist die aus dieser Praxis resultierende Verwirklichung die volle Buddhaschaft. Wenn man sich die Geschichte des tibetischen Buddhismus anschaut, sieht man, dass die meisten erleuchteten Meister Praktizierende der Karma Kagyü Linie waren.
Die Karma Kagyü Praktizierenden betonen die eigentliche Praxis und haben keine Lust, viel Zeit und Energie für Debatten zu verwenden oder Professoren und Gelehrte zu werden. Milarepa und Gampopa haben ihre Energie gar nicht für solche Dinge verwendet. Alle Buddhas und Bodhisattvas haben geeignete Wiedergeburten gewählt um diese Linie aufrechtzuerhalten. Es ist tatsächlich die hilfreichste und nützlichste Wahl für alle Wesen und Dharma-Praktizierenden.
Auch die Tradition der bewussten Wiedergeburten geht auf die Karma Kagyü Linie zurück. Alle Wesen werden ständig wiedergeboren, sodass Rinpoche (4) nur ein Titel ist. Selbst eine winzige Fliege wird irgendwo wiedergeboren. Um aber den Prozess der Wiedergeburt völlig zu kontrollieren, braucht es beachtenswerte Fähigkeiten. Wesen, die so etwas können, sind keine gewöhnlichen Wesen, denn nicht jeder hat die Kraft seine Wiedergeburt frei zu wählen.
Diese außergewöhnliche Tradition der bewussten Reinkarnationen begann in der Karma Kagyü Linie. Weil diese Linie so kostbar ist, haben viele Buddhas und Bodhisattva mit großen Versprechen in dieser Linie Wiedergeburt angenommen um sie zu schützen und zu halten. Der erste bewusst wiedergeborene Meister war der Karmapa. Warum hat er sich wiedergebären lassen? Weil er diese wertvolle Linie aufrechterhalten wollte, so dass sie nicht durch eine Unterbrechung zu Ende gehen würde.
Aus dem Englischen von Detlev Göbel und Claudia Knoll
Künzig Shamar Rinpoche
Künzig Shamar Rinpoche ist der zweithöchste Lehrer der Karma Kagyü Linie. Seine Inkarnationslinie stand von jeher in engster Verbindung mit derjenigen der Gyalwa Karmapas, so dass er auch zu dem Beinamen "Rothut-Karmapa" kam. 1959 verließ Shamar Rinpoche aufgrund der chinesischen Invasion sein Heimatland Tibet an der Seite des 16. Karmapa. Bis 1979 erhielt er im Kloster Rumtek in Sikkim sämtliche Belehrungen und Übertragungen der Kagyü-Linie vom 16. Karmapa. Seitdem reist er durch die ganze Welt und lehrt den Diamantweg-Buddhismus.
Vor allem seiner Aktivität ist es zu verdanken, dass 1992 die 17. Inkarnation des Karmapa, Thaye Dorje, gefunden und nach Indien in die Freiheit gebracht werden konnte, wo er jetzt unter seiner Leitung ausgebildet wird.
Anmerkungen
(1) Die Stufe vor der völligen Erleuchtung
(2) Pfad der Ansammlung, Pfad der Verbindung, Pfad des Sehens, Pfad der Meditation, Pfad des Nicht-mehr-Lernens
(3) Die Phase zwischen der Befreiung und der vollen Erleuchtung
(4) Als Bezeichnung für einen bewusst Wiedergeborenen
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Quelle:
Buddhismus heute 46, Frühjahr/Sommer 2009, Seite 14 - 20
Herausgeber:
Buddhistischer Dachverband Diamantweg der Karma Kagyü
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Einzelheft: 8,00 Euro
veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Mai 2009