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PRESSE/831: Hunger ist die schlimmste Krankheit (Buddhismus aktuell)


Buddhismus aktuell, Ausgabe 1/2010
Zeitschrift der Deutschen Buddhistischen Union

Hunger ist die schlimmste Krankheit
Die Aufgabe globaler buddhistischer Hilfe

Von Bhikkhu Bodhi


Kann der Buddhismus zur Bewältigung von Hunger und Unterernährung in unserer Welt beitragen? Warum ist es wichtig, Mitgefühl mit Gewissen zu paaren und sich dem Leid anderer zu öffnen? Am Beispiel der buddhistischen Hilfsorganisation "Buddhist Global Relief" gibt der Autor Antworten auf drängende Fragen unserer Zeit.


Vor einiger Zeit veröffentlichte ich für das Magazin "Buddha-dharma" einen Beitrag mit dem Titel: "Eine Herausforderung für Buddhisten". Diese Abhandlung rief die Buddhisten in den USA dazu auf, die starke Gewichtung der kontemplativen Praxis, welche den amerikanischen Buddhismus auszeichnet, mit dem Bestreben zu vereinbaren, sich dem unermesslichen Leid anzunehmen, dem die Menschheit in der heutigen Zeit ausgesetzt ist. Mein Argument war, dass der Dharma (Lehre des Buddha) nicht nur als Mittel zu innerer Erleuchtung dienen sollte, sondern auch als Richtlinie für eine Veränderung der Welt, für eine Umgestaltung der sozialen und ökonomischen Strukturen im Einklang mit den ethischen Idealen der buddhistischen Lehre. Meiner Ansicht nach bietet unser Zeitalter die entsprechenden Bedingungen, um in ein neues Stadium in der historischen Entwicklung des Buddhismus einzutreten.

Ein Blick in die buddhistischen Schriften zeigt, dass Buddha nicht nur Meditation und hohe Philosophie lehrte, sondern die stärkste Betonung auf moralisch aufrechtes Verhalten legte. Ich stelle die Behauptung auf, dass moralisches Denken unter den Bedingungen unseres Zeitalters von Buddhisten die Bereitschaft erfordert, für die stummen Opfer sozialer, ökonomischer und politischer Ungerechtigkeit, den schlimmsten Ausprägungen heutigen Leids, aufzustehen. Das ist, so glaube ich, eine zwingende Notwendigkeit, wenn die buddhistischen Werte der liebenden Güte und des Mitgefühls als wirkungsvolle, moralische Tatkraft sichtbar werden sollen.

Als der Essay veröffentlich wurde, ahnte ich nicht, dass meine eigenen Schüler und Dharma-Freunde diese Herausforderung annehmen würden. Das Walten des Karma ist jedoch manchmal unvorhersehbar, und schon nach kurzer Zeit begannen einige meiner Schüler, die den Aufsatz gelesen hatten, über die Gründung eines buddhistischen Hilfswerks zu sprechen. Bis Mitte des Jahres 2008 hatte eine unerwartete Verkettung von Ursache und Wirkung eine Gruppe zusammengeführt, die bereit war, eine buddhistische Aktionsgruppe mit den Zielen sozialer und ökonomischer Gerechtigkeit zu gründen. Aus unseren anfänglichen Treffen entwickelte sich die "Buddhist Global Relief" (BGR)(1), die wir als "interkonfessionelle Gemeinschaft von Buddhisten und Freunden des Buddhismus" definieren, "die dem Großen Mitgefühl des Buddha in der heutigen Welt konkreten Ausdruck in Form eines fortlaufendes Projekts verleihen wollen".


Aktive Hilfe im Kampf gegen weltweiten Hunger

Auf der Suche nach einer spezifischeren Aufgabe für die BGR bezogen wir uns auf zwei Aussagen des Buddha, nämlich "Hunger ist die schlimmste Krankheit" und "das Geschenk der Nahrung ist das Geschenk des Lebens". So beschlossen wir, uns auf die Bereitstellung von Nahrungshilfe für die Menschen in Entwicklungsländern zu konzentrieren, die unter chronischem Hunger und der Sorge um die nächste Mahlzeit leiden. Nur wenige sind sich bewusst, dass Hunger heutzutage die häufigste Todesursache ist und jedes Jahr fast zehn Millionen Menschen an ihm sterben. Das ist jährlich die anderthalbfache Opferzahl des Holocaust, und fast sechzig Prozent davon sind Kinder.

Die Organisation "Buddhist Global Relief" ist der Versuch, eine deutliche buddhistische Gewissensregung in Bezug auf die unaussprechliche Tragödie globalen Hungers und weltweiter Armut zum Ausdruck zu bringen. Das Wort "Gewissen" hat keine genaue Entsprechung im Vokabular des klassischen Buddhismus, aber für mich stellt es eine der treibenden Kräfte hinter der Mission des Buddha und der Ausbreitung seiner Lehre durch die Jahrhunderte dar. Gewissen ist die geistige Fähigkeit, die unsere Empfindung moralischer Richtigkeit in Handlung übersetzt. Gewissen verlangt, dass wir das Leid anderer als unser eigenes betrachten. Und noch mehr: Es bewegt uns zu handeln. Es lässt nicht zu, dass wir uns zurücklehnen und uns selbst zu unseren großartigen Gefühlen gratulieren, sondern es fordert uns auf, persönliche Verantwortung zu übernehmen, das Leid anderer zu verringern und ihr langfristiges Wohlergehen sicherzustellen.


Gewissen aktiviert unser Mitgefühl

Im buddhistischen Dialog ist es heutzutage üblich, von Mitgefühl zu sprechen. Durch zu häufigen Gebrauch hat das Wort jedoch seine Aussagekraft eingebüßt. Es kann uns nicht länger in ausreichendem Maß die Dringlichkeit der Aufgabe vermitteln, die uns in der direkten Konfrontation mit globaler Verelendung zufällt. Vielmehr bedeutet es kaum noch mehr als ein frommes Gefühl der Sympathie mit den Notleidenden und Unterdrückten. Ich ziehe es vor, das Wort "Mitgefühl" mit dem Wort "Gewissen" zu paaren. Meiner Ansicht nach ist das, was wir als Ansporn für sozial engagierte Aktivitäten am meisten benötigen, eine mitfühlende Empfindung aus Gewissensgründen, sozusagen ein "gewissensbedingtes Mitgefühl", das gleichzeitig ein pflichtbewusstes und verantwortungsbewusstes Mitgefühl ist.

Das Gewissen ist eine tiefe innere Stimme in uns, die uns fortwährend an die große Diskrepanz erinnert, die zwischen unseren ethischen Idealen, unserem Sinn für Güte und Gerechtigkeit und der harten Realität gelebter Erfahrung besteht, in welcher Ungerechtigkeit, Gewalt und Zynismus im Vordergrund stehen. Das Gewissen formt unsere moralische Verantwortlichkeit und verlangt, dass wir unsere Ideale noch effektiver in unseren Einstellungen, Handlungen und Beziehungen zum Ausdruck bringen.

Im Buddhismus sprechen wir oft über die Notwendigkeit, allen fühlenden Wesen gegenüber Mitgefühl zu entwickeln. Aber viel zu oft dient diese schöne Rhetorik nur dazu, in Bequemlichkeit zu verharren, statt dass sie uns antreibt, die notwendigen praktischen Schritte zu unternehmen, um das Leiden der Wesen zu lindern. Wird Mitgefühl jedoch mit einer Gewissensregung verbunden, kann es Wunderbares inspirieren und unvorstellbare Wunder bewirken. Wahres Mitgefühl drängt uns in das lodernde Feuer des Lebens, um jene zu retten, die von den Flammen des Leids und der Verzweiflung eingeschlossen sind. Wenn Mitgefühl und Gewissen sich zu einem "gewissensbedingten Mitgefühl" vereinen, erlangen wir den Schlüssel, den wir brauchen, um die Unterdrückten zu erlösen und ihrem Leben Würde und Bestimmung zu geben.


Fast jeder sechste Mensch auf der Welt leidet an Hunger und seinen Folgen

Eines der dramatischsten Symptome heutiger sozialer Ungerechtigkeit ist das weltweite Fortbestehen von Hunger und Unterernährung. Der gegenwärtige wirtschaftliche Abschwung treibt immer mehr Menschen immer tiefer in die Armut, und die Zahl der Hungernden nimmt stetig zu. Das Jahr 2009 ist ein Einschnitt in der Geschichte, denn die Zahl der chronisch hungernden Menschen hat das erste Mal die Marke von einer Milliarde überschritten. Für jemanden, der Hunger nie erfahren, ihn nie bis ins Mark gespürt hat, ist es schwer zu verstehen, wie viel Leid Hunger bringen kann: das Schwinden der Vitalität, der Verlust jeglichen Interesses außer für Nahrung, die Verzweiflung, während Erschöpfung zu lähmender Krankheit und Tod führt. Wenn dieser Zustand das Leben von einer Milliarde Menschen bestimmt, und vielleicht eine weitere Milliarde unterernährt ihr Dasein fristet, übersteigt das immense Ausmaß des Leidens die Vorstellungskraft des Geistes.

Indem die BGR den Hunger in der Welt in den Blick nimmt, eröffnet sie uns ein ideales Tätigkeitsfeld, um gewissenbedingtes Mitgefühl zu praktizieren. Die Erkenntnis, dass globaler Hunger eine Leidenserfahrung ist, die von vielen geteilt wird, öffnet unsere Herzen dem Schmerz der Welt und ruft einen Strom lindernder Empathie hervor. Die Erkenntnis, dass dieser Hunger ein Ausdruck sozialer Ungerechtigkeit ist, stachelt unser Gewissen an und schürt in uns einen heftigen und unlöschbaren Drang, die sozialen und ökonomischen Kräfte zu verändern, die ganze Völker einem solch grausamen und tödlichen Schicksal überantworten.

Es gibt wohl keine andere buddhistische Organisation, die sich so ausdrücklich dem Problem des globalen Hungers widmet. Bereits in ihrem ersten Jahr hat die BGR drei Pilotprojekte in Sri Lanka, Burma und Vietnam auf den Weg gebracht. Unsere nächsten drei Projekte sind Nahrungshilfe für die Flüchtlinge in Sri Lankas Lagern für Zwangsvertriebene, die Verteilung von Reis an notleidende Schulmädchen und deren Familien in Kambodscha, damit die Mädchen ihre Ausbildung fortsetzen können, und die Verteilung von Nahrungsergänzungsmitteln in Niger, wo etwa ein Viertel aller Kinder hauptsächlich aufgrund von Unterernährung sterben, bevor sie ihren fünften Geburtstag erreichen. Zwei weitere Projekte in Afrika stehen für die nahe Zukunft auf unserer Agenda.

Die Globale Buddhistische Hilfe hat im ersten Jahr ihres Bestehens bemerkenswert schnelle Fortschritte gemacht. Sogar ohne umfassende Spendenbeschaffungsaktionen haben wir bei vielen ausreichend guten Willen geweckt, um die oben angeführten Projekte zu initiieren und zu erhalten. Obwohl wir klein angefangen haben, hauptsächlich durch Mundpropaganda, verspricht die Arbeit der BGR Großes für die Zukunft. Ihre Mission ist der ernsthafte Versuch, eine buddhistische Gewissensregung zum Ausdruck zu bringen - ein gewissensbedingtes Mitgefühl -, indem sie sich der schmerzlichsten Ausprägungen sozialer und ökonomischer Ungerechtigkeit unserer Zeit annimmt.


Anmerkung:
(1) Globale Buddhistische Hilfe


Der Ehrwürdige Bhikkhu Bodhi ist ein aus New York City stammender buddhistischer Mönch. 1972 erhielt er die Mönchsordination in Sri Lanka und lebte dort mehr als zwanzig Jahre. Er war von 1984 bis 2002 verantwortlicher Herausgeber für die Buddhist Publication Society in Kandy und hat zahlreiche Texte aus dem Pali-Kanon ins Englische übersetzt. Derzeit lebt er im Chuang-Yen-Kloster im US-Bundesstaat New York. 2008 gründete er zusammen mit einigen seiner Schüler die "Buddhist Global Relief", eine gemeinnützige Wohltätigkeitsorganisation, die sich dem Kampf gegen den Hunger in der Welt verschrieben hat. Die Organisation unterstützt Nahrungsmittelhilfe und Bildungsarbeit in Südasien und Afrika.


Hinweis: Buddhismus aktuell möchte das Hilfsprojekt von Bhikkhu Bodhi unterstützen. Wenn Sie mehr über die Globale Buddhistische Hilfe erfahren oder spenden wollen, besuchen Sie www.buddhistglobalrelief.org oder schreiben Sie an Buddhist Global Relief, P.O. Box 1611, Sparta, NJ 07871, USA.

Weitere Infos: www.buddhistglobalrelief.org


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Quelle:
Buddhismus aktuell, Ausgabe 1/2010, S. 48-50
Herausgeberin: Deutsche Buddhistische Union (DBU)
Buddhistische Religionsgemeinschaft e.V.
www.dharma.de
www.buddhismus-deutschland.de

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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. März 2010