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PRESSE/849: Ich oder Nicht-Ich? Das ist die Frage! (Buddhistische Monatsblätter)


Buddhistische Monatsblätter Nr. 2/2010, Mai - August
Vierteljahreszeitschrift der Buddhistischen Gesellschaft Hamburg e.V.

Ich oder Nicht-Ich? Das ist die Frage!

Von Günter Neumeyer und Ursula Kanzler-Stieler
(Dez./Jan. 2009 /2010)


Buddha ist der Verkünder der Nicht-Ich-Lehre und wird deswegen als anatta-vadi verehrt. In keiner Religion oder Morallehre ist dieser Begriff sonst noch wiederzufinden. Dass diese Erkenntnis so sehr im Mittelpunkt seiner Lehre steht, muss einen Grund haben. Viele seiner Aussagen sind ja auch ähnlich im Hinduismus seiner Zeit zu finden - mit Ausnahme des Nicht-Ich-Gedankens. Also muss dieser wesentlich sein. Seit der Antike haben Philosophen und Theologen am Phänomen des Ich herumgerätselt. Seit der Zeit der Aufklärung haben die Zweifel an einem erkennbaren Sitz des Ich-Empfindens in der "Persönlichkeit" zugenommen. Statt des Ich wurde der Begriff des Selbst bevorzugt. Aber auch dieses Selbst-Konglomerat aus Empfindungen, Wünschen, Ablehnungen, Willensäußerungen und vielen anderen psychologischen Qualitäten konnte bisher niemanden zufrieden stellen. Die neuzeitliche Hirnforschung und ebenso die Atomphysik greifen jetzt seine Gedanken wieder auf und können diese bestätigen. Hirnforscher fanden im Magnet-Resonanz-Tomographen nun aber heraus, dass jeweils die unterschiedlichsten Hirnareale bei den verschiedensten Ich-Zuständen aufleuchten.

Psychologen unterscheiden deswegen auch unterschiedliche Ich-Zustände, so z.B. das

"Körper-Ich" erkennt Bereiche der Körperlichkeit,
"Hunger-Ich" kreist um Nahrungsmittel,
"Sexual-Ich" um den Vermehrungstrieb,
"egoistische Ich" beschäftigt sich mit dem Habenwollen,
"Macht-Ich" berauscht sich am Erfolg,
"Ego-Ich" an seiner Selbstgefälligkeit,
"Bedenken-Ich" fürchtet sich vor Misserfolgen,
"Angst-Ich" vor lauernden Gefahren,
"altruistische Ich" verbindet sich mit dem Helfenwollen,
"moralische Ich" mit Gedanken an Pflicht und Vermeidung des Bösen,
"Bewunderungs-Ich" strebt zur Anerkennung, z.B. der Obrigkeit,
"Neid-Ich", verschwistert mit dem "Eifersuchts-Ich", verliert die Übersicht über sich selbst und die beneidet-beeiferten Objekte,
"religiöse Vergötterungs-Ich" sehnt sich nach ewigem Dasein in Paradiesen und zu Füßen Gottes",
"Depressions-Ich" sieht die Welt nur grau in grau, und so fort.

Diese Beispiele zeigen: es bestehen Hunderte von Ich-Qualitäten, aber keine festgefügte Ich-Einheit. Das Ich-Gefühl ist im Gehirn eines Menschen mit klarem Bewusstsein unbestreitbar vorhanden, solange Körper und Geist intakt sind.

Der Mensch fühlt sich als einmalig und er denkt sich sein Ich so zusammen, wie es seinem Charakter und seiner gedachten Individualität entspricht. Diese persönliche Individualität gilt es während des Lebens zu erhalten und zu verteidigen - und es entsteht zwangsläufig der Wunsch nach Beständigkeit des Ich-Empfindens.

Doch auch diese Beständigkeit gibt es schon zu Lebzeiten nicht, denn das Ich-Empfinden des Kleinkindes unterscheidet sich von dem des Schulkindes, von dem des im Gehirn-Umbruch Pubertierenden, von dem des Berufstätigen, von dem des kranken oder alten Menschen und schließlich von dem des Hirntoten oder des Alzheimer-Kranken. 100 Millionen Nervenzellen im Hirn sind trilliardenfach derart miteinander verknüpft, dass daraus ein Ich-Bewusstsein entstehen kann.

Aha, dann ist also das ICH nicht ein ICH sondern BEWUSSTSEIN? Aber wie entsteht denn überhaupt unser Bewusstsein? Der Buddha zeigt auf, aus Bedingungen:

Auge und Formen
Ohr und Töne
Nase und Geruch
Zunge und Chemie
Tastung und Gegenstände
Denken und Denkobjekt
ergeben
ergeben
ergeben
ergeben
ergeben
ergeben
Sehbewusstsein
Hörbewusstsein
Riechbewusstsein
Schmeckbewusstsein
Tastbewusstsein
Denkbewusstsein.

"Bewusst" kann eine Situation allerdings jeweils nur einen "Augenblick" (also etwa 3 Sekunden) deutlich empfunden oder gedacht werden, und dabei merkt der Denkende nicht, dass dieser Augenblick ein ständig gleitender Prozess ist, ein bedingter Ablauf, nichts, was auch nur einen Augenblick lang einen festen Bestand hätte.

Im Schlaf geht das "Ich" weitgehend zur unbewussten Ruhe oder verwandelt sich sogar traumhaft in andere Ich-Daseins-Zustände. Wie lautet hierzu die Kernaussage des Buddha?

Alles ist vergänglich,
Alles ist leidvoll,
Alles ist Nicht-Ich,
a l l e s,
a l l e s,
a l l e s,
nichts bleibt wie es ist
weil es eben vergänglich ist,
weil es keinen festen, bleibenden Kern gibt.

Wir haben das gehört, gelesen und auswendig gelernt. Aber ist dieses Buddha-Wissen in unsere eigene Erkenntnis eingedrungen? Ist uns klar, was das bedeutet? Alles ist Bewegung, nichts ist bestehend, ausschließlich Abläufe finden statt, nichts, was stabil wäre, keine bleibend feste Materie! Es ist sehr wichtig, dass wir dies verstehen!

Der Physiker Ernst Mach äußerte schon vor 150 Jahren, dass "im Universum alles mit allem zusammenhängt" und heutige Physiker postulieren die "String-Theorie", nach der weit unterhalb jeder vorstellbaren Energie die Bedingungen und Wirkungen mit unvorstellbar kleinsten "Fädchen" (strings) miteinander in Verbindung stehen. Dafür steht die Zahl: 10 hoch minus 131, die man sich nicht vorstellen kann. Bei dem Atom-Physiker Capra finden wir, dass auch "Materie" aus energetischer Bewegung besteht. "Teilchen" und "Wellen" sind dasselbe, je nach dem Blickwinkel des Betrachters. Materie und Bewegung sind also nichts Verschiedenes!

Bei dem Biologen Alexis Carrel wird ausführlich aufgezeigt, dass beim Kleinkind die Zellteilung sehr schnell vor sich geht, die erlebte Zeit aber sehr lang ist. Umgekehrt ist beim alten Menschen die Zellteilung extrem langsam, aber die Tage vergehen ihm immer schneller. Daraus ist der Schluss zu ziehen, dass Zeit ein sehr relativer Begriff ist.

Infolge von neuronalen Hirnschädigungen (Demenz, Alzheimer-Krankheit, Seelenblindheit, Schizophrenie etc.) geht zumeist auch das typische klare "Ich-Bewusstsein" verloren. Die Ich-Persönlichkeit ist im Hypnosezustand oder im Drogenrausch zu unsinnigen und unglaublichen Handlungen zu bewegen. Das bedeutet, der Prozess des Ergreifens läuft automatisch weiter, aber die Einsicht zur Steuerung ist verlorengegangen. Das Ich-Nervensystem kann allerdings auch auf bisher unerklärliche "String-Weise" mit anderen Ich-Nervensystemen telepathisch über weite Distanzen hinweg kommunizieren. Es kann sich auf ebenso unerklärliche Weise an Jahrhunderte zurückliegende Zustände erinnern oder in die Zukunft vorausschauen. In derartigen Zuständen sind Vergangenheit und Zukunft identisch, Zeit fällt in einen einzigen Punkt zusammen: Jetzt! Der Physiker Mach postulierte in seinen späteren Lebensjahren: "Alles in der Welt besteht aus gleichen Elementen. Fügen sie sich im Gehirn zusammen, dann werden sie zu Wahrnehmungen, Empfindungen, Gedanken und es entsteht das Bewusstsein des Ich, das definitiv mit dem Verlust des Gehirns im Tode vergeht".

Nach dem Zerfall des Körpers im Tod lösen sich die 100 Millionen Nervenzellen samt ihren individuellen Ich-Vorstellungen in Trilliarden Moleküle, Elektronen und Photonen auf. Wahrscheinlich ist dieser Zustand mit der absoluten Loslösung vom erlebten Ich verbunden. Da gibt es aber Fragen:

Der Körper geht unter und mit ihm das Ich. Wo bleibt die fließende Energie der vormaligen Prozessabläufe? Oder ist mit dem Lebensendpunkt für alle Kreatur bereits das Nirvana erreicht? Wozu dann die Mühen des achtfachen Pfades?


Ein Versuch des Verstehens:

Nach des Buddhas Worten ist der Kreislauf des Unwissens und damit des Leidens unendlich, Raum und Zeit sind nicht existent sondern Fiktionen dieses Unwissens. Wir nehmen Raum als so selbstverständlich an, aber was ist hinter dem Raum? Und dann dahinter? So kann man endlos weiterfragen, eine Antwort ist nicht zu finden.

Und was ist Zeit? Was war davor? Und davor? Auch hier ist genauso keine Antwort zu finden. Wirklich erlebt wird nur JETZT. Da ist kein Topf "Vergangenheit" mit angesammeltem Karma! Aber: Karma, dieses Gute oder Böse des "Vergangenen", ist dennoch enthalten in jedem Augenblicksprozess.

Alles, was ehemals war, ist in diesem Jetzt enthalten. Einzig zu finden sind nur Abläufe und Impulse, Durst und Ergreifen, ohne bleibenden Kern, ob mit oder ohne Körper. So wie bei Elektrizität ist da Spannung in einer bestimmten "Impuls-Qualität", ein Drang zum Fließen, kein Etwas, sondern nur Abläufe. Durst und Ergreifen bauen weiter Geist, Körper und Welt, eben den Prozess des sechsfachen Reiches, zeitlos, endlos, Geburt und Tod im Wechsel....


Die anatta-Verkündung des Buddha:

Dass eine von der Vergänglichkeit ausgenommene feste Wesenheit geben könnte, wurde vor 2600 Jahren vom Buddha als Irrtum erkannt. Als Verursacher des Ich-Persönlichkeits-Selbst-Empfindens zeigte er in vielen seiner Reden die vergänglichen Daseinsgruppen = die khandha:

rupa-khandha
vedana-khandha
sañña-khandha
sankhara-khandha
viññana-khandha
=
=
=
=
=
Körperlichkeits-Bereich,
Gefühls-Bereich,
Wahrnehmungs-Bereich der Sinnesorgane, ("sechsfaches Reich")
Gestaltetes, Geschaffenes
Bewusstseins-Bereich.

"Gleich wie man beim Zusammensetzen der Teile da von einem Wagen spricht, benutzt man, sobald die Gruppen vorhanden sind, den allgemein verwendeten Begriff "Persönlichkeit". Aber sie ist eben zusammengesetzt und hat keinen festen Bestand.

Dass der Glaube an eine spirituell überdauernde Ich-Identität in Form des Karma-Begriffes und der Wiedergeburtslehre auch im Bereich des Buddhismus wieder entstanden ist, ist wohl der unmerklichen Assimilierung der Buddhalehre an die Gottes-Vorstellungs-Bedürfnisse der Menschen in den jeweiligen Kulturkreisen zu verdanken. Denn jeder Ich-Gedanke braucht auch sein Korrelat außen.

Als der Buddha vor 2600 Jahren seine Lehre verkündete, lebte er im Kulturkreis des Hinduismus. Es ist nur zu verständlich, dass so mancher seiner Hörer oder späteren Aufschreiber der Reden - zumal bei der ein paar Jahrhunderte dauernden mündlichen Überlieferung - wieder bei dem vorhandenen alten Verständnis von "Karma und Wiedergeburt" landete. Das würde aber notwendig heißen, dass es ein festes Ich gäbe, welches weiterwandert, und das ist nicht zu finden.

Im Hinduismus ist das Ziel, den Kreislauf von Karma und Wiedergeburt durch das Aufgehen im Maha-Atman zu enden.. Das wäre ja aber ein existierendes Sein. Und so kann der Kreislauf des Leidens neu aufbrechen, denn alles Sein ist vergänglich - nichts bleibt wie es ist!

Gibt es einen Befreiungsweg aus dieser "Ich-Falle"?

Mit dem "Wanderstab" sati, der klaren inneren Aufmerksamkeit, kommt rechte Erkenntnis zustande, die dann das Verhalten prägt und zu rechter Einsicht und damit auch zu rechter Vertiefung führt.

Aus dieser Weisheits-Sicht ergibt sich Loslassen als notwendige Folge. Hieraus können wir erkennen, dass Loslassen keine Handlung ist. "Ich" kann nicht willentlich loslassen. Aber aus klarer Einsicht in das Jetzt, einem Erkennen des Augenblicks, vollzieht sich eine Auflösung und Loslassen findet statt.

Während einer tiefen Meditation kann es gelegentlich zu einem Bewusstsein kommen ohne ICH, ohne WELT, ohne Inhalt, einfach nur "Alles ist eins"! (bei christlichen Mystikern die "Unio mystica"). Im Nachhinein wird dies als ein im Vergleich zum Tagesbewusstsein wacherer Zustand beschrieben.

Wenn es in den Religionen nicht Vorstellungen himmlischer Welten als Glück gäbe, würden sich die Menschen den Zustand der Ich-Losigkeit als großes Glück wünschen. Das Nirvana (nibbana), dieser Bereich der absoluten Leere von Ich oder Etwas, wird in den ursprünglichen Texten der Buddhalehre als leidlos und damit als höchstes Glück bezeichnet. Dabei kann Nirvana - irrtümlich - mit der Vorstellung von einem "Ort" verbunden sein. Er heißt aber wörtlich "Verwehen". Das flackernde Licht "Ich" - und damit auch "Welt" - ist verweht. Kein Ort, kein Sein.

Kehren wir nun zu der Frage zurück, warum die anatta-Lehre, die Lehre vom NICHT-ICH, in der Lehre des Buddha so wichtig und von zentraler Bedeutung ist.

Gäbe es ein substanzielles Ich, also ein irgendwie geartetes Etwas, so könnte es keine Befreiung vom Leiden geben. Denn: Alles ist vergänglich, alles ist leidvoll und kein Etwas kann sich restlos auflösen und aus dem Kreislauf ausscheiden. Aber die Erkenntnis, dass die Substanz ICH ein Irrtum ist, dass da nur Bewegung zu finden ist, sich bewegende Prozesse, darum kann diese Einsicht zur Auflösung des Leidens führen, Prozesse können in sich zusammenfallen.

Also: Es gibt "Karma und Wiedergeburt", aber es muss wohl sehr anders verstanden werden: Weder "Ich" werde wiedergeboren, noch ein "Anderer": Prozesse treten wieder in Erscheinung, d.h. laufen einfach weiter und sagen zu sich selbst dann wieder "ICH", sozusagen als "Rechtsnachfolger".

Möge eine so schwierige Erkenntnis uns nun auch zur EINSICHT werden, die uns hilft, das Leid an der Vergänglichkeit zu überwinden.


Literatur:
Precht: "WER BIN ICH "und wenn ja, wie viele?
Nyanatiloka: "Buddhistisches Wörterbuch"
Fritjof Capra: "Das Tao der Physik"
Alexis Carrel: "Der Mensch, das unbekannte Wesen"
J.F. Charon: "Der Geist der Materie"
Bryan Greene: "Der Stoff, aus dem der Kosmos ist - Raum, Zeit und die Beschaffenheit der Welt"
Lisa Randall: "Verborgene Universen - eine Reise in den extradimensionalen Raum"

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Quelle:
Buddhistische Monatsblätter Nr. 2/2010, Mai - August, Seite 13-19
Vierteljahreszeitschrift der Buddhistischen Gesellschaft Hamburg e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Juni 2010