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PRESSE/868: Treffen mit den göttlichen Boten (Buddhismus aktuell)


Buddhismus aktuell, Ausgabe 3/2010
Zeitschrift der Deutschen Buddhistischen Union

Treffen mit den göttlichen Boten

Von Bhikku Bodhi


So wie Prinz Siddhartha seinen Palast verlassen musste, um durch die Konfrontation mit Alter, Krankheit und Tod den Weg zur Erleuchtung zu finden, so müssen auch wir die Begegnung mit diesen göttlichen Boten suchen, um den buddhistischen Pfad bis zum Ende beschreiten zu können.


Die Legende über Buddhas Leben berichtet, dass Prinz Siddhartha, der Bodhisattva, in seiner Jugend und seinen frühen Mannesjahren ohne jegliches Bewusstsein von der menschlichen Sterblichkeit lebte. Sein Vater, der ängstlich darauf bedacht war, seinen empfindsamen Sohn keinem Leiden auszusetzen, hielt ihn in seiner Unwissenheit gefangen. Eingeschlossen im Prunk des Palastes, hervorragend versorgt mit sinnlichen Vergnügungen und umgeben von fröhlichen Freunden, hatte der Prinz nicht die leiseste Ahnung, dass das Leben irgendetwas anderes als eine endlose Folge von Vergnügungen und Festlichkeiten bereithalten könnte. Erst an dem schicksalhaften Tag in seinem 29. Lebensjahr, als ihn die Neugierde aus den Mauern des Palastes hinausführte, traf er die vier "göttlichen Boten", die sein Schicksal verändern sollten. Die ersten drei dieser Boten, der Alte, der Kranke und der Tote, belehrten ihn über die schockierenden Wahrheiten von Alter, Krankheit und Tod; der vierte war ein wandernder Asket, der ihm die Möglichkeit eines Pfades eröffnete, auf dem alles Leiden vollkommen überwunden werden kann.

Diese bezaubernde Geschichte, die den Glauben von Buddhisten über Jahrhunderte genährt hat, enthält in ihrem Kern eine tiefgehende psychologische Wahrheit. Sie erzählt uns nicht nur von Ereignissen, die sich vor Jahrhunderten so zugetragen haben mögen, sondern auch von einem Erwachensprozess, den jeder von uns durchlaufen muss, wenn die Wahrheit des Dharma in uns zum Leben erweckt werden soll. Hinter der Symbolik der alten Legende können wir erkennen, dass sich das Leben des jugendlichen Prinzen Siddhartha im Palast gar nicht so sehr von der Art und Weise unterscheidet, wie die meisten von uns ihr ganzes Leben verbringen - leider oft, bis es zu spät ist, um eine neue Richtung einzuschlagen. Unsere Heime mögen keine königlichen Paläste sein und der Reichtum, der uns zur Verfügung steht, mag weit geringer sein als der eines nordindischen Raja, aber wir teilen mit dem Prinzen Siddhartha ein seliges und oft absichtliches Verdrängen von krassen Realitäten, die sich ständig unserer Wahrnehmung aufdrängen.


Begegnung mit Alter, Krankheit und Tod

Wenn die Lehre mehr sein soll als ein vager, blasser Begleitaspekt unseres komfortablen Lebens, wenn sie die inspirierende und manchmal aufrüttelnde Stimme werden soll, die uns auf den Weg zur Erleuchtung führt, dann brauchen wir nur dem Buddha in seinem Prozess des Erwachens nachzueifern. Indem wir ihn auf seine Reise in die Welt jenseits der Palastmauern begleiten - den Mauern unserer eigenen selbstbestätigenden Wahrnehmungen - müssen wir die göttlichen Boten erkennen, die wir so oft nicht sehen, weil unsere Augen auf angeblich "wichtigere Dinge" gerichtet sind, nämlich auf unsere weltlichen Beschäftigungen und Ziele.

Der Buddha sagt, dass es relativ wenige Menschen gibt, die von aufwühlenden Dingen wirklich erweckt werden, verglichen mit der großen Anzahl derjenigen, die sich dadurch nicht berühren lassen.

Die Stacheln des Erwachens bedrängen uns von allen Seiten, aber allzu oft reagieren wir darauf, indem wir uns einfach eine weitere Schutzschicht gegen diese Stacheln zulegen, anstatt sie wahrzunehmen. Diese Feststellung wird auch nicht von der aktuellen Flut an Diskussionen und Texten über die Themen Alter und lebensbedrohliche Krankheiten oder den alternativen Umgang mit Tod und Sterben widerlegt. Denn ein offenes und ehrliches Gewahrsein reicht noch nicht aus, damit die göttlichen Boten ihre Botschaft überbringen können. Um die Botschaft zu vermitteln, die uns auf den Pfad der Befreiung bringt, ist noch mehr erforderlich. Wir müssen uns mit Alter, Krankheit und Tod nicht nur als unausweichlichen Realitäten auseinandersetzen, mit denen wir auf der praktischen Ebene umzugehen haben, sondern wir müssen sie als Boten des entfernten Ufers sehen, die uns ganz neue Bedeutungsdimensionen erschließen können.

Diese Enthüllung findet auf zwei Ebenen statt. Um göttliche Boten sein zu können, müssen uns zunächst die Tatsachen von Alter, Krankheit und Tod aufrütteln und uns das zerbrechliche, instabile Wesen unseres normalen, alltäglichen Lebens bewusst machen. Durch die ersten drei Boten muss unser Geist den radikalen Mangel erkennen, der all unsere weltlichen Belange durchzieht und sich bis in unsere bedingte Existenz in ihrer Gesamtheit erstreckt. Dadurch öffnen sich die Fenster zur ersten Edlen Wahrheit, der Edlen Wahrheit vom Leiden, die, wie Buddha sagt, nicht nur Geburt, Alter, Krankheit und Tod umfasst, nicht nur Sorge, Trauer, Schmerz und Elend, sondern alle körperlichen und geistigen Faktoren - nämlich die fünf Gruppen des menschlichen Daseins1, die alle Gebiete unseres Seins in der Welt umfassen. Der heimatlose Asket muss uns daran erinnern, dass der Weg zur Befreiung durch eine karge Landschaft des Verzichts und der inneren Selbstdisziplin führt. Gekleidet in seine ockerfarbene Robe, dient diese ruhige und ehrwürdige Figur als ein Hinweis auf die vierte Edle Wahrheit, die Wahrheit vom Pfad und seinem Höhepunkt, dem Ende allen Leids.


Was wirklich zählt: Bewusstsein der Dringlichkeit

Wenn wir die göttlichen Boten auf dieser Ebene treffen, dann werden sie Katalysatoren, die einen tief gehenden, inneren Transformationsprozess in uns anstoßen können. Wir merken, dass wir drastische Veränderungen in unseren existenziellen Prioritäten und unserem persönlichen Wertesystem vornehmen müssen, weil wir zerbrechlich und unausweichlich menschlich sind. Anstatt unser Leben mit vergänglichen Trivialitäten zu vergeuden, mit Dingen, die heute vorhanden und morgen schon vergangen sind, müssen wir dem Gewicht beimessen, was "wirklich zählt", nämlich den Zielen und Handlungen, die einen bleibenden Einfluss auf unser langfristiges Schicksal und unser oberstes Ziel haben, während wir durch den sich wiederholenden Kreislauf von Leben und Tod mäandern.

Bevor solch eine Neubewertung stattfindet, leben wir im Allgemeinen in einem Zustand, den Buddha mit "Pamada" bezeichnet hat, einem Zustand der Vernachlässigung oder Achtlosigkeit. Wenn wir uns als unsterblich verstehen und die Welt als unseren persönlichen Spielplatz betrachten, dann widmen wir unsere Zeit solch "weltlichen Lehren" wie der Anhäufung von Besitz, dem Genuss sinnlicher Vergnügungen, dem Erreichen eines Status, dem Erlangen von Anerkennung und Ruhm. Das Heilmittel gegen diese Achtlosigkeit hat genau dieselbe Qualität, die im Bodhisattva hervorgerufen wurde, als er die göttlichen Boten in den Straßen von Kapilavastu traf.

Diese Qualität, auf Pali "Samvega", ist ein "Bewusstsein der Dringlichkeit", eine innere Bewegung oder ein Schock, die uns nicht mehr erlauben, mit unserer gewohnheitsmäßigen Anpassung an die Welt zufrieden zu sein. Stattdessen bringt dieses Bewusstsein uns dazu, uns auf unsere eigene Reise in die Heimatlosigkeit aufzumachen, ob diese nun wörtlich oder metaphorisch verstanden wird. So, wie es Prinz Siddhartha tat, nachdem er den heimatlosen Asketen getroffen hatte, so müssen wir unsere bequemen Paläste hinter uns lassen und uns in unbekannte Dschungel begeben, um mit Sorgfalt eine authentische Lösung für unsere existenzielle Suche zu erarbeiten.


Endstation Nirwana

Genau an diesem Punkt zeigt sich die zweite Funktion der göttlichen Boten. Denn Alter, Krankheit und Tod sind nicht nur Merkmale der unbefriedigenden Natur unserer menschlichen Existenz, sondern auch ein Hinweis auf eine tiefere jenseitige Realität. In der traditionellen Legende sind die vier göttlichen Boten verkleidete Götter. Sie wurden vom höchsten Himmel auf die Erde gesandt, um den Bodhisattva zu seiner enormen Aufgabe zu erwecken, und nachdem sie ihre Botschaft weitergegeben hatten, nahmen sie wieder ihre himmlische Form an. Dies lehrt uns, dass das letzte Wort des Dharma nicht die Kapitulation ist, nicht eine Ermahnung, uns selbst den grausamen Tatsachen unserer menschlichen Existenz zu ergeben, und auch nicht, unsere Endlichkeit in einer freudigen Feststimmung zu akzeptieren. Die Unausweichlichkeit von Alter, Krankheit und Tod ist die einleitende Botschaft des Dharma, die Ankündigung, dass unser Haus brennt. Die endgültige Botschaft, die durch den vierten göttlichen Boten anklingt ist eine andere: ein überschwänglicher Aufruf, dass es einen Ort der Sicherheit gibt, einen offenen Raum der Flammen und einen klaren Wegweiser, der uns den Fluchtweg anzeigt.

Dass wir in diesem Erwachensprozess Alter, Krankheit und Tod von Angesicht zu Angesicht treffen müssen, liegt daran, dass dieser Ort der Sicherheit nur durch eine aufrichtige Konfrontation mit den harten Wahrheiten unserer menschlichen Existenz erreicht werden kann. Wir müssen uns bewusst machen, dass es echte Flammen sind, die unser Haus umzingeln. Wenn wir den göttlichen Boten jedoch gerade in die Augen blicken, ohne Verlegenheit oder Furcht, dann können wir herausfinden, dass sich ihre Gesichter auf unerwartete Weise verwandeln. Vor unseren Augen verändern sie sich, werden ganz subtil zu einem anderen Gesicht - dem Gesicht des Buddha mit seinem heiteren Lächeln des Triumphs über die Armee des "Mara", über die Dämonen des Verlangens und des Todes. Dies ist das Ziel und die Endstation des buddhistischen Pfades - nämlich "Nibbana" (Pali für Nirwana), frei von Alter, frei von Krankheit, frei von Tod. Um uns dahin zu lenken, sind die göttlichen Boten in unserer Mitte erschienen, und ihre Botschaft ist die gute Nachricht, dass dieses Ziel für uns erreichbar ist.


Anmerkung:
(1) Die fünf Gruppen des menschlichen Daseins: 1. materielle Form, 2. Gefühle, 3. Wahrnehmungen, 4. geistige Formationen/ Gedanken, 5. Bewusstsein


Übersetzung aus dem Englischen:
Romy Schlichting (HP, Gymnasiallehrerin und buddhistische Meditationslehrerin)


Bhikku Bodhi ist ein amerikanischer buddhistischer Mönch, der 1972 in Sri Lanka ordiniert wurde. Er war von 1984 bis 2002 der Herausgeber der Buddhist Publication Society in Kandy und hat viele wichtige Texte aus dem Palikanon übersetzt. Zurzeit lebt er im Chuang Yen Monastery, einem Kloster in der Nähe von Carmel, New York. 2008 gründete er zusammen mit einigen seiner Schüler die "Buddhist Global Relief", eine gemeinnützige Wohltätigkeitsorganisation, die sich dem Kampf gegen den Hunger in der Welt verschrieben hat. Die Organisation unterstützt Nahrungsmittelhilfe und Bildungsarbeit in Südasien und Afrika (siehe auch Ba 1/10).

Weitere Infos: www.buddhistglobalrelief.org


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Quelle:
Buddhismus aktuell, Ausgabe 3/2010, S. 42-44
Herausgeberin: Deutsche Buddhistische Union (DBU)
Buddhistische Religionsgemeinschaft e.V.
www.dharma.de
www.buddhismus-deutschland.de

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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. September 2010