Schattenblick →INFOPOOL →RELIGION → BUDDHISMUS

PRESSE/940: Buddhismus und Vegetariertum (DMW)


Der Mittlere Weg - Nr. 2, Mai - August 2012
Zeitschrift des Buddhistischen Bundes Hannover e.V.

Die Ethik des Buddhismus
Buddhismus und Vegetariertum

von Myoshin-Friedrich Fenzl



Wenn sich Buddhisten auf einem Kongress oder einer religiösen Veranstaltung treffen, so ist oft die erste Frage: "Sind Sie Vegetarier?" In vielen buddhistischen Zeitschriften erscheinen in schöner Regelmäßigkeit Beiträge über vegetarische Ernährung und die Leiden der Schlachttiere. Diskussionen und Roundtablegespräche werden abgehalten und nehmen breiten Raum ein, wo anderen ethischen Fragen, wie der Verfolgung buddhistischer Gesinnungsfreunde oder so gefährlichen Zukunftsperspektiven wie der Genmanipulation oder der Zerstörung unserer Umwelt nur bescheidene, eher marginale Bedeutung zugeordnet wird. Es ist daher hoch an der Zeit, einmal die Frage nach der Ernährung der Buddhisten, die hier vornehmlich eine Frage nach der Bedeutung des Vegetarismus in der buddhistischen Religion ist, aufzuwerfen.

Im Gegensatz zu dem Verzicht auf berauschende und betäubende Mittel (5.‍ ‍Sila) hat der Fleischverzehr keinen direkten Eingang in den buddhistischen Sittenkanon, die sog. "Silas" gefunden. Hinweise auf ihn sind im Pali-Kanon, der ältesten buddhistischen, vollkommen erhaltenen Sutrensammlung eher dürftig und mehr indirekter Natur, so wenn Berufe wie Metzger oder der Handel mit Fleisch in die Liste der "unheilsamen Berufe" aufgenommen werden.

In der 55. Lehrrede der Mittleren Sammlung (Majjima Nikaya) kommt der Kinderarzt Jivako in den Mangohain bei der Rajagriha, wo sich der Erleuchtete mit seinen Jüngern aufhält und es entspinnt sich folgender Dialog:

"Ich habe gehört, für den Samanera Gotama töte man lebende Wesen und er nehme wissentlich das für ihn bereitete Fleisch an. Ist das wahr, was jene sagen oder verleumdet man den Erhabenen? Und wenn das wirklich seiner Lehre entspricht, kommt man dann nicht zu einem bedenklichen Ergebnis?"

Der Erhabene erwiderte:

"Es ist nicht wahr, was jene sagen: man verleumdet mich. Ich sage vielmehr, dass man unter drei Umständen Fleisch nicht essen soll: gesehen, gehört, vermutet. Und ich sage, dass man unter drei Umständen Fleisch essen darf: nicht gesehen, nicht gehört, nicht vermutet." Das ist so zu verstehen, daß entscheidend ist, ob man gesehen, gehört oder vermutet hat, dass das Tier eigens für einen geschlachtet worden ist. Jivako drückt sein Erstaunen, ja seine Freude über die untadelige Nahrung der Mönche aus und gelobt, fortan ein Laienanhänger Shakyamunis zu sein.

In einem tropisch-feuchtheißen Land wie Indien verderben Lebensmittel, die auf Eiweißbasis aufgebaut sind, innerhalb weniger Stunden und ihr Verzehr kann gefährliche, ja tödliche Vergiftungen hervorrufen. Es war daher schon aus medizinisch-hygienischen Gründen ratsam, auf den Verzehr von Fleisch und anderen tierischen Produkten zu verzichten. Wir finden ähnliche weise Überlegungen in den kultischen Vorschriften anderer Religionen, etwa wenn Islam und orthodoxes Judentum den Verzehr von Schweinefleisch ablehnen, da es bei ungenügender hygienischer Haltung der Tiere in heißem Klima zu der gefährlichen Trichinenbildung kommt.

In den theravadinischen Ländern Südasiens wie Thailand, Sri Lanka oder Burma wird die verpönte Schlachtung von Tieren durch die dort lebenden Angehörigen des Islam durchgeführt. Praktizierende Buddhisten machen sich selten die Hände mit dem Blut getöteter Tiere schmutzig, was sie freilich nicht davon abhält, voll Verachtung von ihren Mitbürgern muslimischen, christlichen oder sogar buddhistischen Glaubens zu sprechen, die durch dieses Gewerbe das tägliche Brot oder den täglichen Reis für sich und ihre Familien zu verdienen. Bei einem Aufenthalt in Sri Lanka lebte ich in der Nähe eines kleinen Fischerdorfes an der Südwestküste der Insel. Die Fröhlichkeit, Hilfsbereitschaft und Gastfreundschaft dieser Menschen, die sie trotz ihrer Armut und ihres Kinderreichtums an den Tag legten, verblüffte mich. Für unseren singhalesischen Reiseführer, einen engagierten Konventionsbuddhisten, waren sie "schlechte Menschen", ja potentielle Kriminelle, obwohl mir nie auch nur eine einzige Rupie abhanden gekommen ist.

Die Einstellung gegenüber dem Fleischverzehr musste sich erheblich ändern, sobald der Buddhismus in andere Kulturkreise, Wirtschafts- und geographische Räume vorgestoßen war. Für die nomadischen oder halbnomadischen Völker des tibetischen Hochlandes und der mongolischen Steppen, die sich zum lamaistischen Buddhismus bekennen und von Erträgen ihrer Herden leben, wäre ein konsequent eingehaltener Vegetarismus schon aus wirtschaftlichen Gründen untragbar gewesen. Indessen ist auch dort, wo der Ackerbau spärlich und unrentabel oder der Boden unfruchtbar ist, eine Art "Gewissensnotstand" erhalten und äußert sich in sehr ambivalenter Weise. Alexandra David-Neel, die große französische Buddhologin und Tibetologin, berichtet in einem ihrer Werke über die gelegentlich an die Rabulistik talmudischer Lehrer erinnernden Rechtfertigungsversuche, mit denen in Tibet die Fleischgewinnung gerechtfertigt wurde. Man führte Tiere auf steile Gebirgspfade, wo sie unweigerlich in den Tod stürzen mussten.

Man hatte sie dann nicht selbst getötet, sondern es war eben ihr Karma, das sie in den Tod führte. Tibetische Lamas drückten gelegentlich in Gesprächen mit mir ihr Erstaunen über den strikten Vegetarismus westlicher Buddhisten aus, und es war nicht selten, dass in lamaistischen Klöstern Besuchern aus dem Westen auch Fleischspeisen vorgelegt wurden.

Ganz anders ist die Situation in China. Chinesische Buddhisten sind die entschiedensten Verfechter einer vegetarischen Ernährung in der weiten Welt des Buddhismus. Ein Tempelvorsteher in Taiwan berichtete mir, dass allein der Umstand, dass sich Tage zuvor in einer Eßschale, die er benutzte, Fleisch befunden hatte, körperliche Übelkeit bei ihm hervorrief und eine bekannte buddhistische Nonne bezeichnete die fleischlose Ernährung als wichtigstes Kriterium zur Unterscheidung buddhistischer und nichtbuddhistischer Chinesen. Vegetarische Restaurants auf Taiwan werden zumeist von praktizierenden Buddhisten betrieben und sind häufig mit Devotionalien- und Traktätchenhandel verbunden.


Shinran Shonins "sozialrevolutionäre" Emanzipation

Die Japaner sind ein Volk von seltener rassischer Homogenität. Bedingt durch die insulare Lage hat es in Japan niemals ethnische Minoritäten von nennenswerter Bedeutung gegeben, die wie in den südostasiatischen Ländern die Schlachtung von Tieren übernommen hätten. Diese Tätigkeit musste vielmehr durch eigene Volksgenossen ausgeübt werden, die sich in einer überaus bemitleidenswerten Situation befanden. Die "Eta", eine Bezeichnung, die etwa "viel Schmutz" bedeutet, werden von Ryogi Okochi in seinem Buch "Tannisho - Die Gunst des Reinen Landes" folgendermaßen beschrieben:

"Er (Shinran) lebte mit Menschen, die äußerst ungebildet waren und zum Erwerb des täglichen Brotes, unter Umständen wider Willen, "im Meer und in den Flüssen mit Netz und Angel Fischerei betreiben, durch Vogelfang und Wildjagd das Leben fristen, vom Handel und Ackerbau leben müssen (Kapitel XIII). Das ist mit einem Wort die untereste Schicht der Gesellschaft... Damals und teilweise noch bis vor kurzem, war in Japan aufgrund des buddhistischen Einflusses das Schlachten von Tieren, auch die Tötung von Fischen, nur widerwillig geduldet und nur im äußersten Notfall erlaubt. Die Berufe der Fischer und Jäger galten als unerlaubt, zumindest aber als schmutzig... Im Gegensatz zu den Adeligen, Priestern und der herrschenden Klasse, welche überhaupt nicht zu arbeiten brauchte, galt die niedere Schicht als grundsätzlich ungebildet, grausam, sittenlos und dreckig. Sie waren soviel wie "Nicht-Menschen" oder "Untermenschen".

Dieser Untermenschenstatus der Etas äußerte sich in der Tat in vielfach demütigender Weise: Sie mussten in Ghettos leben, durften Ehen nur unter sich schließen, jedermann war berechtigt sie zu erniedrigen, zu schlagen oder selbst zu töten, vor allem aber durften sie keine Tempel oder religiösen Kultstätten betreten. Es war ihnen der für alle Menschen so wesentliche Weg zum Heil verschlossen. Kaum anderswo hat sich die buddhistische Weisung von den "unheilsamen Berufen" in sozial so diskriminierender Weise manifestiert wie in der Behandlung der Etas, der mit Tierschlachtung, Fischfang und Fleischhandel beschäftigten Glieder der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen japanischen Gesellschaft. Im Gegensatz zu dem in westlichen Neubuddhistenkreisen verbreiteten Idealbild einer buddhistischen Gesellschaft, die Duldsamkeit und Friedfertigkeit auf ihr Panier geschrieben hat, waren buddhistische Gesellschaften bisweilen sehr unduldsam, ja grausam zu Menschen, die sich nichtkonformistisch benahmen, die gegen buddhistische Sitten- und Verhaltensweisen verstießen oder stigmatisierte Berufe wie Schlächter oder Fischer ausübten.

Einen traurigen Höhepunkt stellt hier die Person des 5. Shogun aus der Familie Tokugawa, Tsunayoshi (1680-1709) dar. Er regierte in der Genroku-Ära (1688-1705), einer oft als 'goldenes Zeitalter' apostrophierten Periode der japanischen Geschichte. Ein tiefreligiöser, frommer Buddhist und strikter Vegetarier, war er von der Vorstellung besessen, dass seine Kinderlosigkeit eine karmische Strafe für Grausamenkeiten gegenüber Tieren sei, die er in früheren Leben begangen habe. Seine Anordnungen hatten durchaus inquisitorischen Charakter. Der Fleisch- und Fischkonsum wurde völlig untersagt, Zuwiderhandelnde durch Auspeitschen und Brandmarken bestraft. Wer ein Tier tötete, verfiel gnadenlos dem Schwert des Henkers. Furcht und Schrecken wie einst im Spanien der Inquisitionszeit breiteten sich im Lande Nippon aus. Bedauerlicherweise sind solche Exzesse, die ein eher düsteres Licht auf die "Friedfertigkeit" mancher Buddhisten werfen, europäischen Buddhisten kaum bekannt.

Vor diesem historischen Hintergrund muss die mutige Tat Shinran Shonins gesehen werden, allen seinen Anhängern, einschließlich der Priesterschaft, den Verzehr von Fleisch und Fisch zu gestatten. Einige Religionshistoriker neigen der Ansicht zu, dass Shinran durch diesen Schritt die Gleichheit seiner Anhänger und Schüler mit der übrigen Bevölkerung betonen wollte. Ich bin vielmehr der Meinung, dass Shinran durch die Aufhebung des Bannes, der auf einem verpönten Fleisch- und Fischkonsum lag, die kriminelle Stigmatisierung von jenen Menschen nehmen wollte, die ihren Lebensunterhalt durch die Fleisch- und Fischgewinnung bestritten und damit einen bedeutsamen Schritt zu ihrer wenigstens teilweisen religiösen und gesellschaftlichen Emanzipation tat. Ein religiöser Sozialrevolutionär des 13. Jahrhunderts? - Vielleicht, obwohl ich überzeugt bin, dass Shinran, würde man ihm heute diese Bezeichnung unterbreiten, nur ein ungläubiges Lächeln übrig hätte.


Vegetarismus als sozialethische Aufgabe

In unseren Tagen überrollt auch außerhalb prononciert buddhistischer Kreise eine vegetarische Welle, verbunden mit Werbung für "Bio-Vollwertkost", weite Teile der westlichen Welt. Manche Kritiker erblicken darin einen "Modetrend" einer postindustriellen Wohlstandsgesellschaft, die sich glücklich schätzen darf, an jeder Straßenecke über einen Lebensmittelladen und an jeder dritten über ein Reformkostgeschäft zu verfügen. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass wir dieses Zivilisationsphänomen zu einem Zeitpunkt registrieren müssen, da uns der TV-Schirm jeden Tag bedrückende, ja erschütternde Bilder in unsere Heime liefert: bleiche, hohlwangige Kindergesichter, zum Skelett abgemagerte Elendsgestalten, die sich über die staubigen Pisten des Sudans oder der Sahel schleppen, Hungernde oder Verhungernde in den Slums von Rio oder Kalkutta, Rentner oder Arbeitslose in westeuropäischen oder amerikanischen Großstädten, die Abfallhalden und Müllkippen nach Essensabfällen durchsuchen. Es ist wohl müßig hier die Frage aufzuwerfen, ob sich diesen Menschen die Alternative vegetarische oder nicht-vegetarische Ernährung überhaupt stellt oder ob sie auch nur ein Quentchen Zeit dafür erübrigen könnten, stundenlang dialektische Diskussionen über den Vorzug von Vegetarismus oder Vollwerternährung zu führen. Die kreatürliche Notwendigkeit, sich am Leben zu erhalten, genießt hier absoluten Vorrang für viele unserer Mitmenschen in den weniger begüterten, weniger "entwickelten" Regionen unseres Planeten.

Über den einschlägig bekannten Shogun Tsunayoshi haben wir im letzten Kapitel bereits gehört. Über Friedfertigkeit oder Aggressivität breiter Volksmassen entscheidet daher nicht der Verzehr eines Wiener Schnitzels oder eines Bio-Müsli vice versa, sondern nur der gefüllte Magen  j e d e s  unserer Mitmenschen und Mitbürger. Dieser bietet dann auch erst die Voraussetzung, sich mit kulturellen und spirituellen Dingen zu beschäftigen. Mit physischer Schwäche oder gar Hungerödem infolge Nahrungsmangels lässt sich schwer meditieren, studieren, spirituell oder geistig anspruchsvolle Literatur lesen.

Nicht auf das was, sondern auf das wie kommt es beim Verspeisen von Nahrung an. Wer achtsam und bedacht isst und von seiner Nahrung an die Hungernden der Welt, etwa am Horn von Afrika, abgibt, handelt wahrhaft im Geist der Lehre und der buddhistischen Ethik. Damit erübrigt sich auch die Frage "Vegetarismus - ja oder nein".

*

Quelle:
Der Mittlere Weg - majjhima-patipada
44.‍ ‍Jahrgang, Mai - August 2012/2555, Nr. 2, Seite 6-9
Herausgeber: Buddhistischer Bund Hannover e.V.
Drostestr. 8, 30161 Hannover,
Tel. und Fax: 05 11/3 94 17 56
E-mail: info@buddha-hannover.de
Internet: www.buddha-hannover.de
 
"Der Mittlere Weg - majjhima-patipada" erscheint
nach Bedarf und ist für Mitglieder kostenlos.


veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Mai 2012