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PRESSE/963: Eine Übung, um Boden unter die Füße zu bekommen (Buddhistische Monatsblätter)


Buddhistische Monatsblätter Nr. 3/2012, September - Dezember
Vierteljahreszeitschrift der Buddhistischen Gesellschaft Hamburg e.V.

Eine Übung, um Boden unter die Füße zu bekommen
(kayagata-sati)

von Shanti R. Strauch



(1) Spür wie du stehst, spür den Kontakt mit dem Boden, spür die Aufrichtung. Stell dir vor, am Schopf hält dich ein Fädchen mit dem Himmel verbunden und dehnt mit sanftem Zug deinen Nacken. Spür den sanften Zug die Wirbelsäule herab bis ins Kreuzbein. Die Schultern dürfen loslassen, die Achseln sich öffnen, Kehle, Brust und Bauch entspannen. Die Knie ein wenig nach vorn nehmen, nicht durchdrücken. Entspann dich ganz ins Stehen hinein. Stell dir vor, du wolltest eine Stunde lang in dieser Haltung verharren, ohne sie zu verändern. Mach es dir in dieser Haltung so bequem wie möglich. Alle unnütze Anspannung darf sich lösen.

(2) Nun richte die Aufmerksamkeit ganz auf deine Füße. Spür den Druck in den Fußsohlen. Drei Punkte der Fußsohle lassen den Druck besonders gut spüren: die Ferse, die Wurzel des großen Zehs, und die Wurzel des kleinen. Durch spürendes Rollen über die Fußsohlenränder kannst du die sechs Punkte genauer erforschen. Komm dann allmählich zur Ruhe und achte darauf, dass der Druck über die sechs Punkte optimal verteilt ist. Heb noch ein wenig die Zehen an und lass sie behutsam niedersinken. Spür die sanfte Berührung der Zehenbällchen mit dem Boden.

(3) Bleib mit der Aufmerksamkeit in den Fußsohlen. Beide Fußsohlen sind gleichmäßig belastet. Nun verlagere sehr achtsam das Gewicht zur Seite hin auf einen Fuß. Spür den anwachsenden Druck in der Fußsohle und verlagere das Gewicht, so weit es geht, ganz auf diesen Fuß. Seitwärts zur Ruhe gekommen, entspanne dich ganz in diese neue Haltung hinein. Lass alle Bemühung weg schmelzen. Dasselbe dann zur anderen Seite.

(4) Stell dir den Fuß als ein Gefäß vor, das den Bodendruck und die gelösten Körperspannungen auffangen kann. Auch seelische Verspannungen dürfen da hinein schmelzen. Der Leibraum gleicht einem Sammeltrichter. Spür, wie alles Gefühlte, sei es körperlicher oder seelischer Natur, im Fußraum zusammenfließt. Prallvoll darf sich unser Fußgefäß mit Druckgefühlen füllen.

(5) Bleib in dieser Haltung, nimm beide Füße ins Gewahrsein und spür den Unterschied zwischen beiden Füßen. Als Gefäß angeschaut, ist der unbelastete Fuß vergleichsweise leer. Sammle die Aufmerksamkeit im leeren Fußraum und verlagere dann achtsam das Gewicht. Wie fühlt es sich an, wenn sich das Fußgefäß allmählich mit Druckgefühlen füllt? Wir sind mit der Achtsamkeit schon vor der Belastung im Fußraum und laden die Gefühle ein, zu uns zu kommen, wir empfangen sie freundlich und geben ihnen viel Raum in unserem Fuß. Prallvoll darf sich unser Fußgefäß mit Druckgefühlen füllen.

(6) Nun nimm wieder beide Füße zusammen ins Gewahrsein. Verlagere behutsam das Gewicht von dem einen Fuß zum anderen. Spür, wie sich der eine Fuß mit Druckgefühlen füllt, während der andere sich entleert. Komm allmählich in ein Pendeln von der einen zur anderen Seite. Spür in den Füßen das Spiel der wechselnden Belastung. Die Vorstellung, unsere Füße seien Gefäße, hilft, die Aufmerksamkeit in diesen Empfindungsräumen zu sammeln.

(7) Komm auf dem belasteten, vollen Fuß zur Ruhe. Auf der anderen Seite ist der Fuß vergleichsweise leer. Lass die Berührung des leeren Fußes mit dem Boden ganz leicht werden. Spür durch die Fußsohle zum Boden hin. Stell dir vor, die Sohle wird durchlässig. Wenn du nun klarbewusst das Gewicht auf diesen Fuß hin verlagerst, lass die Gefühle gleich durch die Fußsohle hindurch nach unten abfließen. Mit der Belastung wandert die Aufmerksamkeit durch die Fußsohle hindurch nach unten und nimmt die Gefühle mit. Alle Druckgefühle sind eingeladen, sich im Boden zu verteilen. Nichts sammelt sich im Fußraum an. Dasselbe dann zur anderen Seite.

(8) Komm wieder ins Pendeln. Mit jeder Belastung wandert die Aufmerksamkeit sogleich durch den belasteten Fuß hindurch in die Tiefe und in die Breite des Bodens, als wolle sie Wurzeln schlagen. Dann springt sie hinüber zum jeweils entlasteten Fuß. Richte das Pendeln so ein, dass der Körper möglichst frei schwingt und viel Aufmerksamkeit für die wechselnden Gefühle da ist. Lass das Pendeln einfach geschehen.

(9) Bleib im Pendeln und spür jetzt zu den Fußgelenken hin. Kannst du die Bewegung in den Fußgelenken spüren? Stell dir die Fußgelenke als Gefäße vor und sammle die Aufmerksamkeit in einem Gelenk. Wenn die Bewegung dort deutlich zu spüren ist, öffne das Gefäß und lass die Gefühle durch Fußraum und Fußsohle in die Tiefe und in die Weite der Erde fließen, so als wolltest du Wurzeln schlagen. Anschließend wieder der Sprung nach oben zum anderen Fußgelenk, und die gleiche Übung mit diesem. Jeder Übungsteil mit mehrfacher Wiederholung.

(10) Bleib im Pendeln und richte die Aufmerksamkeit auf die Knie. Kannst du die Bewegung dort spüren? Stell dir die Knie als Gefäße vor, die sich füllen und entleeren. Wenn du die Bewegung im Knie deutlich genug spürst, lass mit der Belastung das Gefäß sich öffnen und die Gefühle nach unten fließen, durch Unterschenkel, Fußgelenk, Fußraum in den Boden hinein, in die Tiefe und in die Weite der Erde. Beim Rückpendeln springt die Aufmerksamkeit nach oben zum entlasteten Knie, um mit der Belastung gleich wieder nach unten zu wandern.

(11) Bleib im Pendeln. Nächste Etage: die Hüftgelenke. Das Prinzip bleibt das gleiche. Stell dir die Hüftgelenke als Gefäße vor, die sich mit Druckgefühlen füllen und leeren. Wenn du die Bewegung deutlich genug spürst, lass das Gefäß sich öffnen und die Gefühle nach unten fließen durch Knie, Fußgelenk, Fußraum hindurch in den Boden. Mit der Aufmerksamkeit bahnst du den Weg nach unten, lädst die Gefühle zum Fließen ein, lockst sie nach unten. Vor dem Rückpendeln wieder der Sprung hinauf zum unbelasteten Hüftgelenk.

(12) Bleib im Pendeln. Der nächste Empfindungsraum wäre der Beckengrund, für den wir eine sehr feine Achtsamkeit brauchen. Nimm vielleicht erstmal den ganzen Beckenraum mit den Hüftgelenken ins Gewahrsein, wo die Bewegung deutlich zu spüren ist. Lass die Gefühle quer durch das Becken fluten, quer durch das Kreuzbein, das sich entspannen darf bis herunter zum Steißbein. Das Steißbein-Schwänzchen darf sich öffnen und ein wenig ausstrecken. Dann spür in die hinteren Beckentore hinein, direkt unter den Pobacken. Die Bewegung flutet durch diese Punkte und lässt sie sich öffnen. Bleib im Pendeln und achte dabei auf die Übergänge vom Unterbauch in die Oberschenkel, die Leistentore. Kann die Aufmerksamkeit vom Unterbauch durch die Leistentore in die Oberschenkel hinein gleiten? Kannst du das spüren?

(13) Bleib im Pendeln. Nun sammle die Aufmerksamkeit im Beckengrund, im Schritt. Kannst du hier die Bewegung spüren? Vielleicht als ein feines Fließen im Beckengrund, spür genau hin. Wenn es genügend deutlich geworden ist, öffne auch diesen Empfindungsraum und lass die feinen Gefühle in die Beine hinein fluten. Mit jedem Pendelschlag das belastete Bein herunter durch Leistentor, Oberschenkel, Knie, Unterschenkel, Fußgelenk, Fußraum, Fußsohle in die Tiefe und Weite des Erdraumes, und von dort wieder zurück der Sprung nach oben in den Beckengrund, wo die Bewegung zur anderen Seite hin ihren Anfang nimmt.

(14) Bleib im Pendeln. Nun kannst du über das Becken einen Empfindungsbogen schlagen, dessen Säulen die im Boden verwurzelten Beine sind. Beim Pendeln zur Seite geht es wie bisher das belastete Bein herunter bis in die Wurzeln hinein, dann aber, beim Rückpendeln zur Mitte, dasselbe Bein wieder hoch bis zur Beckenmitte. Ohne dort zu verweilen geht es im Weiterpendeln zügig durch das Becken hindurch hinüber ins andere Bein und weiter abwärts in die Erde. Ein Achtsamkeitsbogen durch Beine und Becken.

(15) Das Pendeln kannst du jetzt sehr schön mit dem Atmen verbinden. Zur Seite das Bein herunter atme aus, atme lang aus bis in die Erde, bis in die Wurzeln hinein. Beim Rückpendeln zur Mitte atme lang ein, durch dasselbe Bein ein bis hoch ins Becken, füll den ganzen Beckenraum mit Atemenergie. Dann wieder ausatmend durch das andere Bein herunter in die Erde, bis in die Wurzeln und Wurzelspitzen hinein. Die Atemdusche durch Becken und Beine verwurzelt dich tief mit der Erde, gibt Kraft, reinigt, heilt und erfrischt.

(16) Überlass die Pendelbewegung allmählich ganz dem Atem, lass dich vom Atem bewegen. Genieße die Atemdusche durch Beine und Becken. Komm dann im Auspendeln allmählich zur Ruhe. Lass den Atem frei fließen. Lass dir Zeit, ganz in die Ruhe hineinzufinden.


Erläuterungen:

Ich habe diese Übung Wurzelatem genannt. Mach diese Übung, wenn du wütend, beleidigt, verletzt, ungeduldig, traurig oder mutlos bist. Dabei sollte es dir nicht vordergründig darum gehen, die unangenehmen Gefühle loszuwerden. Wir üben mit den Gefühlen! Die Beschreibung der Übung ist umständlich, ihre Durchführung einfach. Eingeübt vollzieht sie sich fast von selbst. Du kannst den Wurzelatem recht gut auch in der Öffentlichkeit üben, z.B. beim Warten auf den Bus. Das Pendeln kann minimal sein und ist dann von außen kaum sichtbar.

In meinen Seminaren ist der Wurzelatem eine der Standardübungen, mit denen ich die Sitzübung vorbereite. Wir üben mit pulsierender Aufmerksamkeit, unter besonderer Beachtung der Übergänge. In der aktiven Phase konzentrieren wir die Aufmerksamkeit in vergleichsweise kleinen Räumen, wobei wir Energie investieren, bis wir dort deutlich etwas spüren. In der anschließenden Phase nehmen wir die Bemühung zurück, kommen ins Nachspüren und Betrachten. Dabei öffnet sich das Gewahrsein, gibt den Gefühlen Raum, lässt sie weit bis grenzenlos werden und womöglich sich auflösen. Dann der behutsame, klar bewusste Übergang vom Stehen in den Meditationssitz hinein. Im stillen Sitzen setzen wir die Betrachtung der Bewegung mit der Atemschwingung fort, die sich ja ohne alle Bemühung in uns vollzieht. Auch hier achten wir darauf, wie sich die Gefühle immer wieder auflösen. Alle unsere Übungen münden in die Betrachtung des Hinschwindens und der Auflösung. Ein Geist, der sein Objekt bis in die Auflösung hinein verfolgt, wird zunehmend wacher. Aufmerksamkeit ohne jedes Objekt ist pure Wachheit. Ohne tiefe Einspürung in den Körper kann das Erwachen nicht stattfinden.

Wer nicht den Einblick in den Körper übt,
übt nicht für das Unvergängliche.
Nur wer den Einblick in den Körper übt,
übt für das Unvergängliche.
(Anguttara-Nikaya I, 37 II)

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Quelle:
Buddhistische Monatsblätter Nr. 3/2012, September - Dezember, Seite 24-28
Vierteljahreszeitschrift der Buddhistischen Gesellschaft Hamburg e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Februar 2013