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PRESSE/965: Buddhas Heilungs-Weg sehen, verstehen, gehen (Buddhistische Monatsblätter)


Buddhistische Monatsblätter Nr. 1/2013, Januar - April
Vierteljahreszeitschrift der Buddhistischen Gesellschaft Hamburg e.V.

Buddhas Heilungs-Weg sehen, verstehen, gehen
Vorbereitende und grundlegende Schritte

von ArminDao Ketterer



A. Ausgangslage

Leben ist ein fortlaufender Prozess von Entstehen, Bestehen und Vergehen unter bestimmten Voraussetzungen, Bedingungen. Unser Er-Leben ist weder ein absolut vorher festgelegter Ablauf, noch das völlige Gegenteil. Das Was, also dieser Prozess selbst, besteht naturgesetzlich, d.h. läuft unter den Natur-Bedingungen regelhaft ab. Das Wie, also Art und Qualität der bedingten Ablauf-Vorgänge, gestalten sich innerhalb der Naturgesetzlichkeit variabel, d.h. spezifisch je nach inneren und äußeren Voraussetzungen in Ort, Zeitpunkt und Spezies mit den jeweiligen Erlebens- und Verhaltensmöglichkeiten und dadurch Einflüssen auf das Wie.

Jeder Augenblick setzt sich zusammen aus den beiden Komponenten Ergebnis früheren Wirkens (in Gedanken, Worten und Taten) und zugleich neues Wirken mit daraus folgenden Ergebnissen (Gesetz von Ursache und Wirkung). Dabei werden wir Menschen, weil das zu unserem dualistisch-dialektischen Wahrnehmungs-, Lern- und Verhaltens-Repertoire gehört, von Ereignissen meist angenehm oder unangenehm berührt und wir reagieren darauf grundsätzlich nach einem Beurteilungs-Muster mit der Absicht, Angenehmes zu fördern/stärken/suchen und Unangenehmes zu verhindern/minimieren/vermeiden.

Mit der Absicht verbunden ist bereits die Erwartung, dass das Gewollte so dann auch eintritt. Dadurch und aufgrund beschränkter nicht wirklichkeitsgemäßer Wahrnehmung/Verarbeitung/Beurteilung mit der Folge von Blindheit für die rechten Vorbilder und ihre Erkenntnisse über die Daseinszusammenhänge und -mechanismen und dadurch aus Unwissenheit über die heilsamen und unheilsamen Verhaltensweisen und ihre entsprechenden Wirkungen vermehren wir letztlich Unerwünschtes und Leidvolles. Weil wir die Zusammenhänge in der Regel nicht (klar) erkennen bzw. nicht (richtig) verstehen, sehen wir die Verantwortung dafür auch nicht bei uns und sind nicht bereit, diese zu übernehmen, sondern schieben sie weg von uns. Dadurch entsteht und wird in Gang gehalten eine unheilsame Kettenreaktion von immer mehr Unwissenheit, Scheinlösungen, Belastungen, Leiden in einem fortgesetzten Daseins-Kreislauf.

Buddha hat kein philosophisches Welt-Erklärungsmodell errichtet, er hat sich aller Spekulationen enthalten, sondern hat dargelegt, wie das Leiden als Grundtatsache des Daseins gemäß seiner Erfahrung erkannt, verstanden und überwunden werden kann. Die angemessene Beschäftigung mit Buddhas Lehre ist daher keine beliebige zum Selbstzweck, sondern praxisbezogen und zielgerichtet auf das Erkennen und Beenden des Leidens.

Zum rechten Verständnis und Nutzen sei auf zwei grundlegende Aspekte der inneren Logik der Lehre hingewiesen: zum einen, dass sie sich nicht durch alleiniges intellektuelles Interesse, sondern nur und immer wieder neu über die und mit der praktischen Erfahrung qualitativ völlig erschließt; zum anderen, dass der Weg zwar vom Anfang her mit dem ersten bis zum letzten Schritt beschrieben und zu gehen ist, er aber vom Endziel (Erwachtsein mit Leidensende) aus entwickelt wird. Buddhas Lehre ist also vereinfacht und präzise zugleich ausgedrückt mit einem Schulungsprogramm oder einer Bau-Anleitung zum Nachbauen vergleichbar: Für das von ihm bereits verwirklichte ("gebaute") Erkennen und Beenden des Leidens gibt er Stufen-Anleitungen der Vorgehensweise zur eigenen Rekonstruktion des Weges dahin. Buddha ist der geeignete Wegweiser, den Weg müssen wir aber selbst gehen. Denn Worte sind begrenzt, das Endziel kann nicht stellvertretend, sondern nur durch eigene praktische Erfahrung erreicht werden. Hierzu ist es erforderlich, mit Geist und Gemüt zu sehen und zu verstehen, worum und wohin es geht.

Wichtig ist dabei auch, die ganze und wirkliche Lehre sehen und lernen zu wollen, nicht willkürlich bestimmte Aspekte und Teile unpassend in Art und Zeitpunkt anwenden bzw. bevorzugen oder vernachlässigen oder gar weglassen zu wollen - und erkennen zu lernen, wo und warum dies (nicht) gelingt, um hilfreiche weiter führende Strategien zu entwickeln.


B. Erste grundlegende Schritte mit stufenweise sich bedingenden vorbereitenden Übungen

Obwohl im Zentrum von Buddhas Lehre und als deren Endziel das Erkennen und die Aufhebung des Belastenden, des Leidens (dukkham) steht, ist dies nur bei immer wieder vorhandenen Bedingungen systematisch stufenweise und schrittweise zu erreichen. Über die sich fortschreitend bedingenden Vorgehensweisen hat er ebenfalls gelehrt.

Der entscheidende "Wendepunkt" und Beginn der Dynamik hin zur völligen Heilung ist dabei die sogenannte Rechte Anschauung (sammaditthi) der Gesetzmäßigkeit von Entstehen und Vergehen und damit der vierfachen Edlen Wahrheit (catunnam ariya-saccanam). Dazu sind entsprechende Bedingungen erforderlich. Das Entstehen dieser Bedingungen wiederum hängt von sich bedingenden Vor-Bedingungen ab. - Also ein fortschreitend systemisches und systematisches Bedingungs-System, in das wir uns unter bestimmten Voraussetzungen (Bedingungen) "einklinken". Hierzu erforderlich und geeignet ist das Zusammenwirken passender Geistes- und Gemüts-Qualitäten, die wir teilweise als Ergebnis heilsamen früheren Wirkens (kusalo kamma-vipako) in uns vorfinden, teilweise entwickeln müssen.

Entwickeln bedeutet erlernen durch einüben mit Hilfe eines geeigneten Schulungsprogramms. Das beste Schulungsprogramm ist Buddhas Lehre mit Anleitungen vom ersten bis zum letzten Schritt. Schon die ersten Schritte bestehen aus zunehmend nicht-egozentrisch-egoistisch sich immer weiter bedingenden Einstellungen, Eigenschaften und Umgangsweisen als im Sinne des Wortes grundlegende heilsame Übungen. Diese hören dann aber mit dem Verstehen, Annehmen und Anwenden der Kern-Lehre, d.h. mit dem Gehen des Edlen achtfältigen Weges (ariyo atthangiko maggo), nicht auf, sondern unter veränderten Bedingungen einer Dynamik hin zur völligen Heilung werden sie weiter vertieft und entfaltet. Dabei gibt es wieder Etappen und Schritte, je nach Voraussetzungen, Anstrengungen und Ergebnissen. Diese Stufen sind zwar konzeptionell in der Darstellung, nicht aber in der Praxis strikt voneinander unterschieden und getrennt, denn sie sind, da systemisch-dialektisch aufeinander bezogen, voneinander abhängig. Auf dem Weg wächst das Verständnis, aber es erfordert auch immer wieder Geduld und Vertrauen (saddha).

Schon der erste Schritt ist so wichtig wie die nachfolgenden bis zum letzten und soll in die richtige Richtung gehen. Dazu finden wir beim Buddha die geeigneten grundsätzlichen und spezifischen Anleitungen. Der Einstieg erscheint dabei nur vermeintlich als einfach, ist aber oft schwieriger als gedacht und bedarf deshalb großer Achtsamkeit und Wachsamkeit: Im Unwissen begründet wird oft Falsches für richtig und Richtiges für falsch angesehen. So können scheinbar gut gemeinte Motivationen wie Interesse, Offenheit und Strebsamkeit bei näherer und selbstkritisch-ehrlicher Betrachtung in Wirklichkeit ungeeignete Motivationen wie Ungeduld, Eitelkeit, Ehrgeiz oder auch Bequemlichkeit sein. Sie be- oder gar verhindern eher das rechte Vertrauen, damit die richtige Herangehensweise und in der Folge wirkliche Fortschritte auf dem Weg.

Die sofortige Fokussierung auf und Beschäftigung mit der Kern-Lehre kann zwar auch positive Impulse bringen, aber das Risiko, dass wir sie, da BM 1/2013 Seite 8 unvorbereitet, (noch) nicht richtig verstehen und praktizieren und dass dabei sogar Unheilsames entsteht, ist erheblich größer. Der Erwachung ist es zwar egal, wie man sie erlangt, uns aber nicht, denn ob und wie wir fortschreiten und dabei möglichst wenig dukkham schaffen und erleben, hängt von den aus dem Wirken (kammam) entstandenen Bedingungen ab, die wir mit beeinflussen. Deshalb hilft wohl nichts anderes: Wir sollten in unserem eigenen Interesse auf den Buddha hören und mit den ersten Schritten beginnend wirklich und richtig anfangen!

Dazu gehören die vier vorbereitenden Übungen, auch "Vorschaltlehren" genannt:

  1. heilsames Geben (danam),
  2. tugendhaftes Verhalten (silam),
  3. Beschäftigung mit Himmlischem (saggo),
  4. Klarwerden über den Abgrund des Sinnesbegehrens und die Vorzüglichkeit der Entsagung (nekkhammam).

Diesen als Voraussetzungen noch vorgelagert, jedoch kaum beachtet, sind die ersten drei Teile der folgenden stufenweise bedingten Fortschrittsfolge:

  1. Respektvoll-rücksichtsvoll-einträchtig zu leben (sagarava sappatissa sabhagavuttika) ermöglicht es,
  2. Anstands-Verhalten (abhisamacarikam dhamma) zu vollbringen, damit dann
  3. Schulungsbereitschaft (sekham dhammam), dadurch
  4. die Tugenden (silani) einzuhalten, daraufhin
  5. Rechte Anschauung (sammaditthi), und damit
  6. Rechte Gemüts-Einigung (sammasamadhi) zu erlangen.

C. Art und Bedeutung der Übungsschritte

Erste Grundvoraussetzung, um der Lehre des Buddha folgen und sich darin schulen zu können, besteht darin, sich davon angesprochen zu fühlen. Dies erfordert wiederum, ein belehr- und erziehbarer Mensch (purisadamma) zu sein. Und dazu müssen passende Geistes-, Gemüts- und Verhaltens-Qualitäten in geeigneter Weise zusammenwirken.

Diese werden in der stufenweise bedingten Fortschrittsfolge genannt:

1. Respektvoll-rücksichtsvoll-einträchtiges Leben (sagarava sappatissa sabhagavuttika) nimmt die Mitmenschen oder sogar weitergehend die Mitwesen mit ihren Interessen mindestens genau so wichtig wie das als Eigenes Angesehene. Dies hebt das Miteinander und Verbindende hervor, welches kammisch heilsam das Wohlbefinden aller fördert, und stellt das Abgrenzende und Konkurrierende, das kammisch unheilsam allen schadet, zurück. Damit wird mit dem äußeren auch das innere Leben befriedeter und zufriedener, eine Bedingung, welche

2. die Entwicklung der zum Anstands-Verhalten gehörigen Eigenschaft (abhisamacarikam dhammam) möglich macht. Anderen nicht anzutun, was man für sich nicht wünscht, beruhigt weiter den Lebensablauf mit gleichmäßiger werdendem Geistes- und Gemüts-Zustand und umgekehrt, und damit wird

3. die Eigenschaft der Schulungsbereitschaft (sekham dhammam) ausgebildet. Bereitschaft heißt, sowohl bedürftig, als auch fähig zu sein (gilt nicht mehr für den heilen ausgelernten Meister, asekho). Mit dieser Belehr- und Erziehbarkeit ist die unabdingbare Grundlage für weitergehend heilsame Eigenschaften und Verhaltensweisen gelegt. Je nach Art und Qualität der bislang entwickelten Eigenschaften folgen zwei ebenso in Art und Qualität unterschiedlich gelagerte Fortschrittsmöglichkeiten:

I. Ist die Eigenschaft der Schulungsbereitschaft noch ohne den "Wendepunkt" der Rechten Anschauung ausgestattet, wird auf dieser Grundlage möglich,

4. die Tugenden (silani) einhalten zu können. Die nicht Lohn erwartende Pflege der Grund-Tugenden der Zügelung (samvaro) ist heilsames Wirken mit ebensolchen Folgen in diesem oder künftigem Dasein. Mit dieser Grund-Übung wird die Schulungsspur (sikkhapadam) des eigentlichen Heilungs-Weges bejaht und aufgenommen (samadiyati), aber noch nicht beendend entfaltet und als nächste Stufe

5. Rechte Anschauung (sammaditthi) ermöglicht. Hier wird Falsches als falsch bewertet und als nicht erstrebenswert verworfen und Rechtes als recht bewertet und angestrebt. Erst mit diesem wirklichkeitsgemäßen Sehen und Verstehen von Entstehen und Vergehen und damit der Kern-Lehre der vierfachen Edlen Wahrheit wird der Edle achtfältige Weg betreten. Nun wird die dynamische Bedingungsfolge zur Heilung in Gang gesetzt, die dazu führt, dass

6. Rechte Gemüts-Einigung (sammasamadhi) erlangt werden kann. Damit wird die letzte Stufe der Schulungsspur auf dem Edlen achtfältigen Weg betreten, aber noch nicht beendet. Dies wird als dynamische Bedingungsfolge zur Heilung erst wie folgt erreicht:

II. Ist die Eigenschaft der Schulungsbereitschaft mit der Rechten Anschauung ausgestattet, folgen den drei ersten Stufen die drei nach und nach sich entfaltenden und zur Befreiung führenden Teil-Bereiche des Edlen achtfältigen Weges, nämlich

4. der Tugend-Bereich (silakkhandham). Dieser Bereich umfasst die sogenannte kleine Tugend (culla-silam), mittlere Tugend (majjhima-silam) und große Tugend (maha-silam). Hier werden die Tugenden vollständig entfaltet, was ermöglicht,

5. den Gemüts-Einigungs-Bereich (samadhikkhandham) zur Vollendung zu bringen, und dieser wiederum

6. den weisheitlichen Erkenntnis-Bereich (paññakkhandham). Eine weitere Bedingungsfolge zur Entwicklung der Rechten Anschauung sind die bereits genannten vier vorbereitenden Übungen:

a) Das Üben heilsamen Gebens (danam) ist die erste Stufe und Grundlage. Damit, auf der Bedürfnis-Ebene, beginnt der Weg zu neuen Sicht- und Verhaltensweisen, zu neuen Dynamiken. Angemessene Großzügigkeit und Freigebigkeit, Teilen und Teilhabe, Loslassen aus Mitgefühl und zur Erleichterung, welche zu neuen Einsichten führen, beginnt man zu trainieren und sie erhalten einen anderen Geschmack: Mitwesen werden in ihrer Gleichartigkeit und Gleichwertigkeit erkannt und ernst genommen, das verbindende Miteinander wird mit zunehmender Übung wichtiger und zufriedenstellender als das abgrenzende Eigene.

Dabei meint heilsames Geben eines aus und mit ebensolcher Absicht, nicht gedanken- und wahlloses Handeln und es beschränkt sich nicht auf materielle Dinge. Im Gegenteil: Der dhammo ist ein Geschenk, das nicht an Wert verliert. Er kann an beliebig viele weiter gegeben werden und wird doch nie weniger werden. Das ist das Wesen der Wahrheits-Lehre, der umfassendsten und besten Gabe. Der dhammo selbst ist ein vollkommenes Geschenk, der menschliche Umgang damit aber ist unvollkommen, erfordert eine angemessene Annäherung auf dem mittleren Weg, was wiederum mit Hilfe des dhammo-Geschenks gelingt. Ergebnis und Lerneffekt gemäß dem Gesetz von Ursache und Wirkung: Heilsames Geben bewirkt, Passendes zu bekommen, nicht, weniger zu haben. Dabei ist Passendes nicht unbedingt ein sofortiges und direktes Ergebnis aus dem Verhalten oder die Erfüllung eines persönlichen Wunsches, das Gemüt erhellt sich aber bereits jetzt und in künftigem Dasein.

Dies ist anfänglich oft schwer zu verstehen, löst Unsicherheit, manchmal auch Ängste und Irritationen aus. Es regt sich ein innerer Widerwille und die Übung wird in ihrer Bedeutung auch unterschätzt. Dagegen hilft nur: vertrauen-tun-überprüfen-erkennen-vertrauen-tun-überprüfen-erkennen usw. - Ein heilsamer Kreislauf wird in Gang gesetzt.

b) Auf der Grundlage des Gebens werden mit tugendhaftem Verhalten (silam) als zweiter Übung tragende Wände errichtet, mit deren Orientierung und Stütze dabei wir lernen, Heilsames von Unheilsamem zu unterscheiden und Gutes zu denken, zu reden und zu tun. Egozentrik und Egoismus werden weiter abgemildert. Dadurch nehmen das abgrenzende Eigene und dessen Risikopotenzial weiter ab, Zu-Friedenheit und Verantwortung werden gestärkt, zum eigenen Wohl und dem aller anderen. Die abwärts ziehenden Fesseln (samyojanani) sind dadurch weniger fest, wir werden für den Weg tauglicher gemacht und weiter günstiges kammam wird bewirkt. Die Übungen bis auf dieser zweiten Stufe sind dhammo-gemäß mit entsprechender innerer Haltung und allgemeinmenschlich zugleich.

c) Die dritte Stufe ist die Beschäftigung mit Himmlischem (saggo), also seligem Dasein als Ergebnis heilsamen Verhaltens (kusalo kamma-vipako). Einsichten über die "jenseitige" nach-todliche bzw. außermenschliche Realität, d.h. über sinnliche und nichtsinnliche Welt, Raum, Zeit und Kausalität werden sensibilisiert und geschult. Die Problematik einer aufs "Diesseits" fixierten Weltsicht, die nichts gelten lässt, was außerhalb ihres eigenen beschränkten Blickfelds liegt, wird gesehen und verstanden. Dadurch weitet sich unser Wahrnehmen noch mehr und wird klarer, denn die üblichen Kategorien und Erfassungs-Möglichkeiten unserer Sinnesaspekte und -ebenen sind zu undeutlich und zu eng.

d) Auf der vierten Stufe werden die Nachteile von sinnlichem Begehren und Genießen, wie begrenzt und unbefriedigend es wirklich ist, und dass die Lüste letztlich Elend (dukkham) aus Bedürftigkeit und nicht Zufriedenheit durch Fülle bedeuten, ebenso erkannt wie die Vorzüge des Wachsens durch dessen aufgebend-loslassende Entsagung (nekkhammam) mit dem daraus resultierenden Abnehmen und Leichterwerden des Belastenden. Ein(fach)heit statt Viel(fach)heit beginnt zum Maßstab zu werden. Dabei wird das auf Sinnestätigkeit beruhende und bejahte abgrenzende Eigene noch weiter zurückgedrängt, es entsteht eine Ahnung von den nicht-sinnlichen Glückserlebnissen wie Stille, Zufriedenheit, Freiheit, Einheitsgefühl. - Hier wird helles, überweltliches Wohlerleben begreifbar.

Mit der Praxis dieser sich ergänzenden und wechselwirkenden grundlegenden und vorbereitenden Übungen verändern sich Geist und Gemüt, sie werden aufgeschlossener, zugleich geschmeidiger und fester, milder, unbehinderter, aufgerichteter, heiterer, stiller - bereit für die eigentliche Lehre der Erwachten: das Leiden, dessen Ursprung, dessen Beendigung und den Weg dahin.


Lehrreden-Auszüge (in einer Pali-Übersetzung von ArminDao Ketterer):

M 46 Die große Lehrrede über das Verrichten der Dinge/ Mulapannasapali 5.6. Mahadhammasamadanasuttam

Ihr Mönche, in den meisten Fällen haben Lebewesen dieses Begehren, diesen Willen, diesen Wunsch: 'Mögen unwillkommene, unerfreuliche, unangenehme Dinge abnehmen, und willkommene, erfreuliche, angenehme Dinge zunehmen!' Obwohl Lebewesen dieses Begehren, diesen Willen, diesen Wunsch haben, nehmen unwillkommene, unerfreuliche, unangenehme Dinge für sie zu, und willkommene, erfreuliche, angenehme Dinge nehmen ab. Was, ihr Mönche, denkt ihr, ist der Grund dafür? (...) Ihr Mönche, ein nicht belehrter (assutava) vielmals wiedergeborener Weltling (puthujjano) der die Edlen nicht beachtet und in ihrer Lehre (dhammo) nicht bewandert (akovida) und angeleitet (avinita) ist, der aufrechte Menschen nicht beachtet und in ihrem dhammo nicht bewandert und angeleitet ist, erkennt nicht, welche Dinge betrieben und welche Dinge nicht betrieben werden sollten. Er erkennt nicht, welche Dinge wertgeschätzt und welche Dinge nicht wertgeschätzt werden sollten. Weil er dies nicht weiß, betreibt er Dinge, die nicht betrieben werden sollten, und betreibt Dinge nicht, die betrieben werden sollten. Er wertschätzt Dinge, die nicht wertgeschätzt werden sollten, und wertschätzt Dinge nicht, die wertgeschätzt werden sollten. Weil er dies tut, nehmen unwillkommene, unerfreuliche, unangenehme Dinge für ihn zu, und willkommene, erfreuliche, angenehme Dinge nehmen ab. Warum ist das so? So etwas, ihr Mönche, geschieht einem Unerfahrenen (aviddasuno).

Der belehrte Edle Hörer (ariyasavako), der die Edlen beachtet und in ihrem dhammo bewandert und angeleitet ist, der aufrechte Menschen beachtet und in ihrem dhammo bewandert und angeleitet ist, erkennt, welche Dinge betrieben und welche Dinge nicht betrieben werden sollten. (...) Weil er dies weiß, betreibt er Dinge, die betrieben werden sollten, und betreibt Dinge nicht, die nicht betrieben werden sollten. (...) Weil er dies tut, nehmen unwillkommene, unerfreuliche, unangenehme Dinge für ihn ab, und willkommene, erfreuliche, angenehme Dinge nehmen zu. Warum ist das so? So etwas, ihr Mönche, geschieht einem Erfahrenen (viddasuno).


S 22.55. Ein feierlicher Ausspruch/Khandhavaggo 1.6.3. Udanasuttam

Ein unerfahrener Weltling betrachtet Gestalthaftes (rupam, meint die Welt der Sinnesbereiche und Artungen), Beeindrucktsein (vedana, oft Gefühl genannt), Identifizierung (sañña, Wahrnehmung), Zusammensetzungsaktivitäten (sankhara, Geist-Gestaltungen), Unterscheidungsdrang (viññanam, Bewusstsein) als das eigene Selbst (attam), oder das eigene Selbst als Gestalthaftes...Beeindrucktsein...Identifizierung...Zusammensetzungsaktivitäten...Unterscheidungsdrang besitzend, oder das Gestalthafte (usw.) als im eigenen Selbst, oder das eigene Selbst als im Gestalthaften (usw.) (...) Er weiß nicht der Wirklichkeit gemäß vom Nicht-Ewigen (aniccam, oft Vergänglichkeit genannt) des Gestalthaften (usw.), vom Leidvollen (dukkham) des Gestalthaften (usw.), vom nichteigenen Nichtselbst (anattam) des Gestalthaften (usw.), vom Zusammengesetztsein des Gestalthaften (usw.), vom Schwindenwerden des Gestalthaften (usw.). Ein erfahrener edler Jünger betrachtet Gestalthaftes, Beeindrucktsein, Identifizierung, Zusammensetzungsaktivitäten, Unterscheidungsdrang nicht als das eigene Selbst oder das eigene Selbst als Gestalthaftes (usw.) besitzend oder das Gestalthafte (usw.) als im eigenen Selbst oder das eigene Selbst als im Gestalthaften (usw.), weiß vom Nicht-Ewigen, vom Leidvollen, vom nichteigenen Nichtselbst, vom Zusammengesetztsein, vom Schwinden des Gestalthaften (usw.). Ein so entschlossener Mönch mag die niederen Fesseln (orambhagiyani samyojanani) durchschneiden.


M 80 An Vekhanaso/Majjhimapannasapali 3.10. Vekhanasasuttam

Wohl verkündet ist vom Erhabenen die Lehre, die klar sichtbare, zeitlose, selbst überprüfbare (komm, sieh!), zum Ziele führende, den Verständigen, jedem für sich, erfahrbar (svakkhato bhagavata dhammo sanditthiko akaliko ehipassiko opaneyyiko paccattam veditabbo viññuhi'ti).


A III.71 Der Fastentag/10. Uposathasuttam

Lass einen verständigen Mann (viññu puriso) kommen, nicht arglistig, nicht irreführend, von aufrechter Art. Ich belehre ihn, ich zeige ihm die Lehre (dhammo) auf eine Art, dass er, wenn er lehrgemäß (yathanusittha) vorgeht, bald schon nur selbst (samaññeva) (er)kennen wird (ñassati) und selbst sieht (dakkhiti): 'So ist das völlige Freiwerden (vippamokkham) von der Gebundenheit (bandhana) gewiss, nämlich von der Gebundenheit durch Unwissen (avijja).


A VIII.19 An Paharado/Atthakanipatapali 2.9. Paharadasuttam, auch: Khuddakanikaya Ud. V.5. Uposathasuttam

Gleichwie, Paharado, das große Weltmeer (mahasamuddo) stufenweise tiefer wird (anupubba-ninno), sich stufenweise senkt, stufenweise neigt und keinen abrupten Abgrund (ayatakeneva papato) bildet; ebenso auch, Paharado, gibt es in dieser Lehre und Unterweisung (dhammavinayo) eine stufenweise Schulung (anupubba-sikkha), eine stufenweise Ausübung (anupubba-kiriya), ein stufenweises Vorgehen (anupubba-patipada) und nicht etwa eine abrupte (ayatakeneva) höchste durchdringende Gewissheit (aññapativedho). Das, Paharado, ist die erste erstaunliche und wunderbare Eigenschaft (dhammo) dieser Lehre und Unterweisung, angesichts welcher die Mönche an dieser Lehre und Unterweisung Gefallen finden.


M 70 Bei Kitagiri/Majjhimapannasapali 2.10. Kitagirisuttam

Ihr Mönche, ich sage nicht, dass Erlangung höchster Gewissheit (aññaradhanam) sogleich auf einmal geschieht. Erlangung höchster Gewissheit erfolgt durch stufenweise Schulung (anupubba-sikkha), durch stufenweise Ausübung (anupubba-kiriya), durch stufenweisen Fortgang (anupubba-patipada).

Wie kommt stufenweise Schulung, stufenweise Ausübung, stufenweises Vorgehen zustande? Falls einer Vertrauen hat, geht er hin (zum Lehrer); wenn er hingeht, erweist er ihm Respekt; wenn er ihm Respekt erweist, hört er genau zu; einer, der genau zuhört, hört die Lehre (dhammo); wenn er die Lehre gehört hat, behält er sie im Gedächtnis (dhareti); er erforscht die Bedeutung (attho) der Lehren, die er im Gedächtnis behalten hat; wenn er die Bedeutung erforscht, findet er Gefallen (nijjhanam khamanti) an den Lehren; wenn er Gefallen an den Lehren gefunden hat, wird Wille (chando) hervorgebracht; wenn Wille hervorgebracht worden ist, kann er sie anwenden (ussahati); nachdem es sie anwenden kann, wählt er (das Passende) aus (tuleti); ausgewählt habend, strengt er sich an (padahati); wenn er sich anstrengt, verwirklicht der Asket eigenständig (sacchikaroti) körperlich die höchste Wahrheit (paramasaccam) und daraufhin sieht er sie mit ganz umfassend durchdringender weisheitlicher Erkenntnis (paññaya ativijjha passati).


A.V.21 Respektlos zum ersten - Stufenweise bedingter Fortschritt I/3.1. Pathama-agarava-suttam

Dass aber, ihr Mönche,

  • ein Mönch, der respektvoll (sagaravo) und rücksichtsvoll (sappatisso) ist und in Eintracht lebt (sabhagavuttiko) mit seinen Ordensbrüdern (sabrahmacarisu), die zum Anstandsverhalten gehörige Eigenschaft (abhisamacarikam dhammam) vollbringen wird (paripuressati), das ist möglich (heraus) zu finden (thanametam vijjati).
  • Und dass er, die zum Anstandsverhalten gehörige Eigenschaft vollbracht habend, die Eigenschaft der Schulungsbereitschaft (sekham dhammam) vollbringen wird, das ist möglich.
  • Und dass er, die Eigenschaft der Schulungsbereitschaft vollbracht habend, die Tugenden (silani) einzuhalten vollbringen wird, das ist möglich.
  • Und dass er, die Tugenden einzuhalten vollbracht habend, Rechte Anschauung (sammaditthi) erlangen wird, das ist möglich.
  • Und dass er, Rechte Anschauung erlangt habend, Rechte Gemüts-Einigung (sammasamadhi) erlangen wird, das ist möglich.

Zum ersten (pathamam).


A.V.22 Respektlos zum zweiten - Stufenweise bedingter Fortschritt II / 3.2. Dutiya-agarava-suttam

Dass aber, ihr Mönche,

  • ein Mönch, (...) respekt- und rücksichtsvoll und in Eintracht (...) die zum Anstandsverhalten gehörige Eigenschaft (...) die Eigenschaft der Schulungsbereitschaft vollbringen wird, das ist möglich.
  • Und dass er, die Eigenschaft der Schulungsbereitschaft vollbracht habend, den Tugend-Bereich (silakkhandham) vollständig entfalten wird, das ist möglich.
  • Und dass er, den Tugend-Bereich vollständig entfaltet habend, den Gemüts-Einigungs-Bereich (samadhikkhandham) zur Vollendung bringen wird, das ist möglich.
  • Und dass er, den Gemüts-Einigungs-Bereich zur Vollendung gebracht habend, den weisheitlichen Erkenntnis-Bereich (paññakkhandham) zur Vollendung bringen wird, das ist möglich.

Zum zweiten (dutiyam).


M 56 An Upali/Majjhimapannasapali 1.6. Upalisuttam

Dann gab der Erhabene dem Haushälter Upali stufenweise fortschreitende (anupubbim) Unterweisung (katham), das heißt, einen Vortrag vom Geben (danakatham), einen Vortrag über tugendhaftes Verhalten (silakatham), einen Vortrag über himmlisches Dasein (saggakatham); er erklärte die Gefahr (adinavam), Erniedrigung (okaram) und Befleckung (samkilesam) im Sinnesbegehren (kamanam) und den segensreichen Nutzen (anisamso) der Entsagung (nekkhammam). Als er erkannte, dass die Gemütsgestimmtheit (cittam) des Haushälters Upali bereit (kalla), ausgeglichen (mudu), ungehemmt (vinivara/a), freudig hochgestimmt (udagga) und zuversichtlich (pasanna) war, erläuterte er ihm die Lehre, die die Besonderheit der Buddhas ist: das Belastende (dukkham), sein Entstehen (samudayam), sein Vergehen (nirodho) und der Weg (maggo) dahin.

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Quelle:
Buddhistische Monatsblätter Nr. 1/2013, Januar - April
, Seite 6-17
Vierteljahreszeitschrift der Buddhistischen Gesellschaft Hamburg e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. März 2013