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PRESSE/968: Gedanken über Samsara und die Befreiung durch Achtsamkeit (Buddhistische Monatsblätter)


Buddhistische Monatsblätter Nr. 2/2013, Mai - August
Vierteljahreszeitschrift der Buddhistischen Gesellschaft Hamburg e.V.

Gedanken über Samsara und die Befreiung durch Achtsamkeit

von Ulrich Beck



Bei der Lektüre von Zen Meister Toreis "Die unauslöschliche Lampe" (englischer Titel: The Inexhaustible Lamp), ist in einem Abschnitt des 9. Kapitels ein Zitat von Meister Engo, dem Herausgeber der berühmten Koan Sammlung BI-YÄN - LU bemerkenswert: "Ein Mönch muss stets über Geburt und Tod meditieren und sie vollständig begreifen." Ein anderer alter Meister gibt seinen Schülern den Rat, sich die beiden Worte "Geburt" und "Tod" an die Stirn zu heften und mit größter Entschlossenheit und Intensität danach zu streben, beiden zu entkommen, derart entschlossen, "als ob das eigene Haupt in Flammen stünde", und es nichts Weiteres zu tun gäbe, als das Feuer zu löschen.

Das Problem von Geburt und Tod oder Samsara wurde nicht allein an dieser Stelle angesprochen. Vielmehr zieht es sich wie ein roter Faden durch das gesamte, hier im Westen noch wenig bekannte Werk der Rinzai Tradition. Immer wieder wird auf "Die Eine Bedeutsame Angelegenheit" Bezug genommen, eben das Problem von Geburt und Tod, welches neben dem Erreichen des "Einblicks in die Wahre Natur" oder Satori ständig hervorgehoben wird.

Es fällt auf, dass die Begriffe "Geburt und Tod" wie ein Gegensatzpaar einander gegenüber gestellt werden. Tatsächlich sind sie das nicht, vielmehr könnte man sie als eine Einheit sehen, so wie die Vorder- oder Rückseite einer Münze oder die Handinnenfläche und den Handrücken. Bei den Worten Geburt und Tod assoziiert ein Buddhist neben Samsara die Zwölfgliedrige Kette der Bedingten Entstehung, die mit Unwissenheit als erstem Glied (avijja) beginnt und in Wiedergeburt (jati) und Altern und Sterben (jara-marana) endet. Dies ist der Kreislauf des Daseins oder der Wiedergeburten, Samsara. Was Samsara bedeutet, ist allgemein bekannt. Dennoch soll hier eine Definition aus Nyanatilokas Buddhistischem Wörterbuch erwähnt werden:

Samsara: Die Bezeichnung des ewig rastlosen, auf- und niederwogenden Meeres des Daseins, des scheinbar unauflöslichen Prozesses des immer und immer wieder Geborenwerdens, Alterns, Leidens und Sterbens.

Woran kann uns westliche Menschen, besonders uns deutschsprachige, diese Formulierung erinnern? Im Gespräch von Faust mit dem Geist im ersten Teil der Tragödie berichtet uns der Geist:

In Lebensfluten, im Tatensturm
Wall' ich auf und ab,
Webe ich hin und her!
Geburt und Grab,
Ein ewiges Meer,
Ein wechselnd Weben,
Ein glühend Leben,
So schaff ich am sausenden Webstuhl der Zeit
Und wirke der Gottheit lebendiges Kleid.

"In Lebensfluten, im Tatensturm, wall ich auf und ab." Ist es nicht erstaunlich, wie sich die Aussagen in dem genannten Wörterbuch und der berühmten Dichtung Goethes ähneln? Es ist unwahrscheinlich, dass Goethe den Begriff "Samsara" kannte, aber er konnte ihn dennoch in einer wunderbaren, poetischen Sprache wiedergeben, die für uns Buddhisten absolut zutreffend erscheint. Geburt und Grab (oder auch Tod), ein ewiges Meer, ein auswegsloses Terrain, das man verlassen möchte, aber nicht weiß , wie man dies anfängt. "Ein wechselnd Weben", also Unbeständigkeit und Vergänglichkeit im Sinne von anicca, ein glühend Leben. Das "Glühende" sticht ins Auge. Es steht für die drei Feuer der Begierde, des Hasses und der Verblendung, die drei unheilsamen Wurzeln (mula), manchmal auch als die drei Gifte bezeichnet. Gier, Hass und Verblendung werden auch als quälende Leidenschaften beschrieben, die uns beständig in Unruhe versetzen, uns hin und her treiben wie den Webstuhl der Zeit. Der Buddha verwendet immer wieder die Bilder von Hitze und Feuer, um auf Unzufriedenheit und Leiden hinzudeuten, welche durch die quälenden Leidenschaften oder die Anhaftungen hervorgerufen werden. Das weltliche Leben wird auch einmal mit einem Aufenthalt in einem brennenden Haus verglichen, welches es schnellstens zu verlassen gilt.

Schwieriger verständlich als das glühende Leben ist die "Zeit", deren Definition sogar den Naturwissenschaftlern schwer fällt. Daher ist es erfreulich, von buddhistischer Seite eine Antwort zu erhalten. So ist bei dem Meister im Shobogenzo zu finden: "Jeder Mensch und jedes Ding in diesem ganzen All sind ja für sich allein stehende Augenblicke der Zeit." Und "so offenbart sich die Wahrheit, dass unser Selbst Zeit ist". Und anderswo sagt der Zen Meister und Philosoph: "Die Bedeutung der Sein-Zeit als wahre Existenz beinhaltet, dass Zeit und Existenz immer und in jedem Falle eine Einheit bilden." Wir erschaffen die Zeit also selbst, poetisch ausgedrückt "an einem sausenden Webstuhl".

Der sausende Webstuhl ist ein Bild unserer Ruhe- und Rastlosigkeit. Häufig ähnelt unser Leben einem Hin und Her, wie wir es an einem Webstuhl in seiner Aktion beobachten können, wobei aber die Bewegung einen bestimmten Zweck erfüllt, was bei unseren oft hektischen Handlungen nicht immer der Fall ist.

Können uns derartige Überlegungen irgendwie nützlich sein und uns helfen, aus dem Daseinskreislauf auszutreten, die Befreiung zu erlangen oder in den Strom einzutreten, wie auch immer man dies nennen mag? Goethes Worte sind allenfalls eine, wenn auch poetisch formulierte, Diagnose, die aber noch keine "Therapiehinweise" gibt. Wo sonst wären diese zu finden, wenn nicht in den buddhistischen Lehren?


Die Verwirklichung des Todlosen

Gemeint ist selbstverständlich Nibbana. Wörtlich bedeutet dies das Auslöschen eines Feuers. Wenn das Feuer brannte, wurde dies so gesehen, als ob es sich gewissermaßen an seinen Brennstoff anklammerte, sich also in einem Zustand des Gefangenseins, der Erregung und Anhaftung befand. Wiederum haben wir es mit dem Feuer zu tun, unseren Anhaftungen, die uns im Samsara gefangen halten. Wie können wir dem entkommen? Im Satipatthana Sutta (1), in der Aufzählung der Grundlagen der Achtsamkeit, steht geschrieben: "... Da weilt, ihr Mönche, der Mönch bei den Gefühlen in Betrachtung der Gefühle... Was da bei ihm, der bei den Gefühlen in Betrachtung der Gefühle weilt, an Willen zu den Gefühlen da ist, das schwindet. Durch Schwinden des Willens ist das Todlose verwirklicht".

Achtsamkeit ist demnach letztlich der einzige Weg, der uns aus Samsara herausführen kann. Wie kann man sie üben? Die Antwort lautet: "immer und überall". Unsere Zen Meisterin wies häufig auf die Bedeutung der Übung im Alltag hin, welche die Funktion eines Beines beim Gehen innehat. Bekanntlich kann man mit einem Bein nicht vorankommen, und so hielt sie die Übung im Alltag neben der Meditation für unerlässlich. Wenn sie Klagen über mangelnden Fortschritt bei der Meditation hörte, pflegte sie zu sagen: "Mit einem Bein kann man nicht gehen, kümmere dich um die Übung im Alltag." Worin besteht sie, und wie kann man ihrer habhaft werden, könnte man fragen? "Sie ist immer für uns zur Stelle.", so lautet die Antwort. Man denke auch an die ungeliebten oder insgeheim verachteten Tätigkeiten wie Geschirrwaschen oder Abtrocknen, Fegen des Raumes, Fensterputzen usw. Hierbei lässt sich vortrefflich Achtsamkeit üben, indem wir eins werden mit dem Tun und uns voll in die jeweilige Tätigkeit hinein geben, ohne über ihren Sinn und Zweck nachzudenken oder Spekulationen darüber anzustellen. "Nicht wählerisch wählen", wie der Dritte Zen Patriarch sagte, "und dann ist der Große Weg gar nicht schwer". Kein ungerichtetes Hin und Her. Einfach nur tun. Karl Immermann formulierte es kurz und knapp: "Lege den Gehalt einer Gesinnung in das kleinste Tun". Dies ist schwieriger, als man denkt, und so heißt es auch, dass nur ein Buddha diese Praxis vollendet ausüben kann. Kein Grund, sich deshalb weniger zu bemühen.

Bei der Übung im Alltag oder der Achtsamkeitsübung geht es jedoch nicht nur um das körperliche Tun oder Handeln. Wir lesen in dem bereits zitierten Werk, dem Satipa[[hana Sutta: "Da hast du denn, Bahiya, dich in solcher Weise zu üben: Das Gesehene soll lediglich ein Gesehenes sein; das Gehörte lediglich ein Gehörtes; das mit den anderen Sinnen Wahrgenommene lediglich ein so Wahrgenommenes; das Erkannte lediglich ein Erkanntes".

Nehmen wir also Abstand von wählerischem Auswählen, nehmen wir einfach wahr und sonst nichts. Trennen wir uns von dem ewigen Wollen im Sinne von noch mehr, größer, schöner und was auch immer. Das Wollen führt zum Anhaften, und die Anhaftungen führen dazu, dass wir Sklaven sind, Unfreie, Gefesselte im Daseinskreislauf. Seien wir achtsam, wenn wir es gut mit uns selbst und anderen meinen.

Abschließend soll noch ein tibetanischer Meditationsmeister das Wort erhalten:

"Unerlässlich ist ein System der Geistesentfaltung, das die Fähigkeit erzeugt, den Geist auf was auch immer es sei zu konzentrieren."
Unerlässlich ist eine Kunst des Lebens, die einen befähigt, jegliche Tätigkeit als eine Hilfe auf dem Pfad zu benutzen.
Es ist eine große Freude zu erkennen, dass der Pfad zur Befreiung, auf dem alle Buddhas gewandelt sind, stets da ist, stets unverändert ist und stets offen ist für diejenigen, die gewillt sind, ihn zu beschreiten.
(2)

Anmerkungen:

(1) Nyanatilo ka: Der Einzige Weg, Kristiani Verlag Konstanz 1980
(2) Aus dem "Kostbaren Rosenkranz"

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Quelle:
Buddhistische Monatsblätter Nr. 2/2013, Mai - August 2013, Seite 14-17
Vierteljahreszeitschrift der Buddhistischen Gesellschaft Hamburg e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Juni 2013