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PRESSE/991: Krieg statt Nächstenliebe? (DMW)


Der Mittlere Weg - Nr. 2, Mai - August 2015
Zeitschrift des Buddhistischen Bundes Hannover e.V.

Krieg statt Nächstenliebe?
Zur Anwendung von Gewalt im realen Leben

von Axel Rodeck


Tötungsverbot für Buddhisten?

Ein Blick in die Zeitungen zeigt uns, wie überall auf der Welt furchtbare Verbrechen an den Mitmenschen geschehen. Hatte man nach Beendigung der Nazi-Barbarei noch auf das Entstehen einer "Menschengesellschaft erhobenen Hauptes" gehofft, so muss man heute eher wahrnehmen, wie einer Vielzahl von Menschen durch Fanatiker die Häupter abgeschlagen werden und unermessliches Leid zugefügt wird. Nicht nur in Afrika und den arabischen Ländern geschehen Grausamkeiten und werfen die Frage nach einem gewaltsamen - also militärischen - Eingreifen auf.

Es darf dabei keine Bevölkerungsgruppe für sich in Anspruch nehmen, aus religiösen Gründen von aktivem Engagement für die Gemeinschaft befreit zu sein. Das haben wir gerade in Israel verfolgen können, wo orthodoxe Juden im wehrfähigen Alter nun nicht mehr den Wehrdienst unter Hinweis auf ihre religiösen Studien verweigern dürfen. Sterben ist dann nicht mehr nur Sache der Altersgenossen.

Wie steht es nun mit dem Engagement der Buddhisten? Im Bekanntenkreis wird oft die grundsätzliche Friedlichkeit der buddhistischen Religion erwähnt und gefragt, ob daraus eine pazifistische Grundhaltung erwächst. Einige Texte verlangen, sich alles gefallen zu lassen (vgl. Dhp 3-5) - eine wohl nur für Wenige geeignete Regel. Der Soldatenberuf wird verpönt und stellt keinen rechten Lebensunterhalt (samma ajiva) dar. Jedenfalls ergibt sich, allen "metta"-Übungen zum Trotz, die Frage der Zulässigkeit von Gewaltanwendung im Notfall und wir wollen folgend erörtern, wie es sich mit dem als "ahimsa" bezeichneten Tötungs- und Gewaltverbot im indischen Kulturkreis verhält.


"Ahimsa" in der indischen Tradition

Das Recht ist in Indien vielfach tradiertes Gewohnheitsrecht und weder findet man ein allgemeines Recht auf Leben noch ein allgemeines Tötungsverbot. Schauen wir in die Tiefen der altindischen Geschichte so stellen wir fest, dass Gewalt (himsa) anerkanntes Weltprinzip war. Denn man ging von dem Grundsatz aus, dass Leben nur durch Gewalt gegen andere Lebewesen möglich ist. Erst in der mittelvedischen Zeit entwickelten die viehnomadischen Kulturen, wohl zum Schutz der Rinder, das Gebot des Nichttötens (ahimsa), welches dann später von den Reformreligionen Buddhismus und Jainismus aufgegriffen wurde.

Es bleibt aber festzuhalten, dass "in Indien das Recht auf Leben zu keiner Zeit eine allgemeine ethische Maxime wurde" (v.Brück). Denn der Tod ist nur das Ende des physischen Lebens, während das "Leben" als solches sich (etwa in den Elementen oder Pflanzen) fortsetzt. Die Inder unterscheiden nicht so sehr, wie die Westler, zwischen physischer und psychischer Welt und die Grenzen sind fließend.

Auch die indischen Vorstellungen der Geltung von ethischen Normen sind flexibel: Das ethische Weltgesetz (dharma) gilt nicht absolut, sondern ist relativ. Jeder Mensch hat einen individuellen Dharma (svadharma), der den Asketen zur Gewaltlosigkeit und den Krieger zum Töten verpflichtet. Ob also ethisch verwerfliches Handeln vorliegt, ist individuell zu entscheiden. So kommt es, dass - unter Berufung auf die heiligen Schriften, insbesondere die Bhagavad Gita - Gewaltbereitschaft (himsa) der Kriegerethik zugerechnet wird, während Gewaltlosigkeit (ahimsa) der Asketenethik entspricht.


Gewalt im Buddhismus

Der Buddhismus wird zu Recht als die friedlichste Religion angesehen. In seinen Texten finden sich keine Stellen, die zu Krieg und Gewalt aufrufen. Darin unterscheiden sich die buddhistischen Schriften von der Bibel und dem Koran mit ihren manchmal blutrünstigen, rachedurstigen und hasserfüllten Ausführungen, die heute erst "zeitgeschichtlich" bereinigt und uminterpretiert werden müssen.

Der Theologe Hans Küng legt dar, im Buddhismus sei kein Raum für religiöse Verfolgungen, Kreuzzüge und Inquisition, er habe sich in ganz Asien humanisierend ausgewirkt. Allerdings sei auch der Buddhismus nicht immer gewaltlos verbreitet worden, und "obwohl der Buddha seiner Tradition und Überzeugung nach eher ein Republikaner war", habe sich in keinem buddhistischen Land eine politisch-parlamentarische Demokratie gebildet. Das sei nicht verwunderlich, denn mit dem Mönch als dem religiösen Ideal sei der "gerechte König" zur Leitfigur für die buddhistische Gesellschaft geworden.

Es wird daher allgemein anerkannt, dass buddhistische Gesellschaften prinzipiell friedlicher sind als andere - aber eben nur prinzipiell. Wir kommen an der Tatsache nicht vorbei, dass auch Buddhisten sich mit der Umwelt arrangieren müssen, in die sie nun einmal hineingeboren wurden, was Gewalt als ultima ratio nicht ausschließt. Auch buddhistische Gesellschaften führen Kriege, freilich nicht im Namen ihrer Religion oder gar des Stifters, und schließen die Anwendung von Gewalt nicht grundsätzlich aus.

So drangsalierten die Thais Jahrhunderte lang ihre buddhistischen Nachbarn in Kambodscha, nahmen ihnen fruchtbare Landstriche gewaltsam ab und zerstörten ihre Hauptstadt Angkor, wobei 90.000 Gefangene verschleppt wurden. Andererseits fielen auch die Burmesen über die Thais her, zerstörten schließlich nach zweijähriger Belagerung im Jahre 1767 deren Hauptstadt Ayutthaya und hinterließen den heutigen Touristen ein sehenswertes Trümmerfeld.

Der buddhistische Kaiser Ashoka schützte sein Reich und die Buddhisten durch ein riesiges Heer. Ashoka scheint aber im Konflikt zwischen Buddhismus und Staatsräson der letzteren den Vorrang gegeben haben. Denn bei aller ehrlichen Betrübnis über die von ihm veranlassten Kriegsgreuel konnte er sich nicht aufraffen, die 150.000 Zwangsvertriebenen der eroberten Gebiete wieder in ihre Heimat zurückzuführen und den von ihm zerschlagenen, strategisch wichtigen Nachbarstaat Kalinga wiederherzustellen.

Auch in Tibet war es keineswegs so konfliktfrei, wie manche glauben. Die Kämpfe zwischen rivalisierenden Mönchsorganisationen um die weltliche und religiöse Macht unter Einbeziehung von Truppen aus den Nachbarländern waren blutig und grausam. Doch anders als bei den Religionskriegen in Europa, wo es um die dogmatische Auseinandersetzung der Kirchen und Sekten (Katharerkriege!) ging, spielte in Tibet die gewaltsame Auseinandersetzung um die Lehre kaum eine Rolle. Denn Lehr- und Kultdifferenzen wurden debattiert und intellektuell ausgetragen, von "Religionskriegen" im abendländischen Sinn zu sprechen, verbietet sich daher. In einer gewalttätigen Welt ist die edle Forderung nach völliger Gewaltlosigkeit so fruchtlos wie das christliche Gebot der Feindesliebe. Alle diesbezüglichen Versuche haben es nicht vermocht, die evolutionsbedingte Veranlagung der Spezies Mensch zu ändern. Das wird auch Buddha Gautama klar gewesen sein. Er war befreundet mit zeitgenössischen Königen, die Kriegsherren ihrer Armeen waren und diese bei Bedarf einsetzten.


Akzeptanz der Realität

Es müssen sich alle Religionen fragen lassen, warum sie nicht zu einer friedlichen Welt geführt haben, in der nicht der Mensch der Wolf des Menschen ist. Dies ist weder dem Buddhismus in 2500 Jahren noch dem Christentum in 2000 Jahren gelungen, weder "Gewaltfreiheit" (ahimsa) noch "Nächstenliebe" sind kennzeichnend für das menschliche Zusammenleben. Vielleicht haben die großen Religionsstifter ja die sittlichen Postulate absichtlich hoch und unerreichbar angesetzt, um sie zu idealisieren und wenigstens einen Teil in Erfüllung gehen zu lassen.

Wenn die Religionen in der langen Zeit ihres Bestehens nicht den Frieden herbeiführen konnten, so liegt das offenbar an menschlicher Eigenschaft. Denn die Friedlichkeit ihrer Stifter und Repräsentanten mag vorbildlich in der jeweiligen Generation sein, wird aber nicht an die Folgegenerationen genetisch vererbt, sondern muss als Kulturleistung in diesen neu erarbeitet werden. Für die prophetischen Religionen bedeutet das ständigen Kampf zwischen Gut und Böse, für den Buddhismus die ständige Überwindung von Gier, Hass und Unwissenheit in jeder Generation. Dazu ist jeder Einzelne aufgefordert - ein Erlöser, der uns das bequem abnimmt, ist nicht vorhanden.

Auch Martin Luther hatte offenbar klar erkannt, dass das Gebot uneingeschränkter Nächstenliebe mit den pragmatischen Anforderungen politischen Handelns nicht vereinbar ist: "Die Bergpredigt gehört nicht ins Rathaus." In diesem Sinn erklärte auch Otto v.Bismarck, mit der Bergpredigt lasse sich kein Land regieren. Tatsächlich muss jede Religion, wenn sie sich ausbreitet und für staatliche Organisationsformen Verantwortung übernimmt, zum Erhalt des Gemeinwesens die Gewaltanwendung gegen innere und äußere Feinde mehr oder weniger ehrlich akzeptieren. Der liebliche Garten des Pazifismus blüht nur im Schutz notfalls gewaltbereiter Wächter.

Kann also Frieden - im engeren oder weiteren Lebenskreis - durch eigene Gewaltlosigkeit erzwungen werden? Schön wäre es. Aber der von Fundamentalpazifisten vertretene moralistische Pazifismus ist oft blind für die Folgen, die sich aus den eigenen guten Absichten ergeben. Die Völkermorde im Kosovo und ihre Beendigung nur durch militärische Gewalt seien als Beispiel erwähnt.

Doch hören wir einmal auf die Ausführungen eines in östlicher Weisheit erfahrenen Mannes, der als derjenige gilt, der Yoga und Meditation in Europa einführte, nämlich der Engländer Paul Brunton (gest. 1981). Die Ethik der Gewaltlosigkeit, der wir uns ja alle gern widmen wollen, macht seinen Ausführungen zufolge die Anwendung von Gewalt keineswegs überflüssig: "Lediglich sentimentale Mystiker befleißigen sich eines geradezu pathetischen Glaubens an die Macht der Gewaltlosigkeit, mit welcher sich aggressive Systeme und brutale Waffengewalt angeblich vernichten lassen."

Brunton führt beispielhaft den Gandhi-Anhänger Shankar Vidyarthi an, der glaubte, einem entfesselten Moslemmob nur mit der Waffe der Gewaltlosigkeit gegenüber treten zu können - und vom Mob sofort erschlagen wurde. Der Weise, so Brunton, akzeptiert die mystische Doktrin der Gewaltlosigkeit aus verschiedenen philosophischen Gründen nicht, hauptsächlich, weil der Aggressor dadurch zu weiteren Taten ermutigt wird. Brunton wird wohl noch unter dem Eindruck der verhängnisvollen westlichen Appeasement-Politik gegenüber Hitler gestanden haben.

Die Doktrin der Gewaltlosigkeit (ahimsa), so führt er aus, leitet sich aus der alten Asketenethik ab und gilt nur für die Weisen uneingeschränkt, nicht aber für den normalen Staatsbürger. Wer sich nicht (als Mönch) vom Existenzkampf zurückgezogen hat, hat "die Pflicht und Schuldigkeit", notfalls Gewalt anzuwenden: "Beim Mystiker ist der Pazifismus bewundernswert, aber völlig fehl am Platz beim Menschen, der in der Welt steht."

Wir wollen schließen mit dem Fazit unseres (im vergangenen Jahr verstorbenen) erfahrenen Freundes Friedrich Fenzl (in Volker Zotz: "Die Suche nach einem sozialen Buddhismus"): "Gewaltfreiheit gegenüber dem Täter wird leicht zur Gewalt gegenüber den Opfern... Indem man sich selbst der Gewalt enthält, delegiert man sie lediglich an andere: Westliche Buddhisten können einen radikalen und konsequenten Pazifismus vertreten, weil sie den Schutz durch staatliche Einrichtungen einer nicht-buddhistischen Gesellschaft genießen."

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Quelle:
Der Mittlere Weg - majjhima-patipada
47. Jahrgang, Mai - August 2015, Nr. 2, Seite 6-9
Herausgeber: Buddhistischer Bund Hannover e.V.
Drostestr. 8, 30161 Hannover,
Tel. und Fax: 05 11/3 94 17 56
E-mail: info@buddha-hannover.de
Internet: www.buddha-hannover.de
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Mai 2015

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