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BERICHT/226: Politik und Kirche in Ungarn (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion 1/2007

Irritierende Verflechtungen
Politik und Kirche in Ungarn

Von János Wildmann


In Ungarn ist das politische Leben extrem polarisiert, zwischen den regierenden Sozialisten und den national-demokratischen Kräften in der Opposition. Die großen Kirchen des Landes haben die jetzige Opposition während ihrer Regierungszeit massiv unterstützt, waren mit dem Staat eng verbunden und haben davon finanziell profitiert. Dementsprechend sind sie jetzt desorientiert.


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Im Sommer 2006 rief der eben wiedergewählte Ministerpräsident Ungarns, Ferenc Gyurcsány, eine Kommission ins Leben, damit sie die Erfahrungen der inzwischen neun Jahre alten Vereinbarung Ungarns mit dem Vatikan auswerte und kirchenpolitische Vorschläge für die Regierung ausarbeite. Zwischen der Ungarischen Republik und dem Heiligen Stuhl wurde am 20. Juni 1997 im Vatikan ein Abkommen über die Finanzierung der kommunalen und religiösen Tätigkeit und einige Vermögensfragen der katholischen Kirche in Ungarn unterzeichnet, das 1999 vom Parlament ratifiziert wurde.

Die Kommission ließ eine repräsentative Umfrage durchführen, um zu erkunden, wie die Bevölkerung die Änderungen in der gesellschaftlichen Positionierung der Kirchen im letzten Jahrzehnt beurteilt und welche kirchenpolitische Strategien und Akzentverschiebungen in der Beziehung von Kirchen und Staat für wünschenswert und akzeptabel hält. Rund 40 Prozent der Befragten gab an, einer Kirche oder religiösen Gemeinschaft anzugehören. Bezüglich der Konfessionszugehörigkeit - als einer Art kulturelle Identität - hingegen bekannten sich 62 Prozent zur katholischen, 18 Prozent zur reformierten und 3,4 Prozent zur lutherisch-evangelischen Kirche. Etwa 12 Prozent sind gemäß der Lehre ihrer Kirche, 55 Prozent auf ihre eigene Art und 29 Prozent überhaupt nicht religiös. Etwa dementsprechend gehen 14 Prozent mindestens einmal im Monat und 26 Prozent überhaupt nicht in die Kirche.


Schatten der Vergangenheit

Erfreuten sich die historischen Kirchen nach der Wende großen Ansehens, büßten sie an Glaubwürdigkeit in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten massiv ein: Zwar bekleidet der Bischof nach dem Minister und Universitätsprofessor an der dritten Stelle der "Prestigeskala" ein angesehenes Amt, aber auf der Glaubwürdigkeitsliste von Institutionen stehen die Kirchen nur an der sechsten Stelle. Vor ihnen rangieren die Ungarische Wissenschaftliche Akademie, die Gerichte, die Polizei, das Parlament und selbst die Regierung. Allem Anschein nach scheint beim Glaubwürdigkeitsverlust der - vor allem katholischen und reformierten - Kirche ihre politische Verflechtung eine herausragende Rolle zu spielen.

Zur Zeit der Wende hatte die katholische Kirche Ungarns ein Janusgesicht: in Kleingruppen gab es seit Jahrzehnten ein reges, weitgehend apolitisches religiöses Leben, das vielerorts zur Erneuerung der Religiosität und Kirchlichkeit führte. Auf der anderen Seite versuchten die meisten Bischöfe, die zu ihrer Ernennung gemäß des Teilabkommens Ungarns mit dem Vatikan von 1964 die vorausgehende Einwilligung der kommunistischen Staatsführung bedurften, auf die staatliche Kirchenpolitik Rücksicht zu nehmen. Diese hat sich in den Jahrzehnten des Sozialismus tatsächlich gewandelt: die brutale Kirchenverfolgung in den fünfziger Jahren wurde von den Instrumentalisierungsbestrebungen abgelöst, die zum Ziel hatten, die Kirche zum Handlanger der kommunistischen Partei zu machen.

Die "heilige Allianz" zwischen Thron und Altar funktionierte bis Ende der achtziger Jahre. Als infolge der politischen Umwälzungen - vor allem in der Sowjetunion - die Parteiführung zu politischen Konzessionen bereit war und auch das Modell der politischen Instrumentalisierung der Kirche über Bord warf, hielt ein Großteil der Hierarchie immer noch daran fest. Nur einige Bischöfe konnten mit der unerwarteten Entwicklung mehr oder weniger Schritt halten und forderten die uneingeschränkte Freiheit für die Kirche (János Wildmann, Recht als Fassade und Grenze. Kirche und Sozialismus in Ungarn, in: Osterkamp, Jana/Schulze, Renate [Hg.], Kirche und Sozialismus in Osteuropa, Facultas Verlag, Wien 2007, 28-44).

Es war der angesehene Rechtsprofessor, der spätere Vorsitzende des Verfassungsgerichtes und gegenwärtige Staatspräsident Ungarns, László Sólyom, der im Sommer 1989 die Kirchenleitung dazu aufforderte, die Gefängnisgitter endlich loszulassen und auf eigenen Beinen gehen zu lernen. Er wies darauf hin, dass innerhalb der katholischen Bischofskonferenz Personenwechsel notwendig wären. In der Hierarchie war es der neue Weihbischof von Esztergom und Sekretär der Bischofskonferenz, der Benediktiner Asztrik Várszegi, der auch die Frage nach der Eigenverantwortung der kirchlichen Würdenträger stellte.

Es wäre falsch, meinte er, für vergangene Fehler nur das sich zu Ende neigende kommunistische Regime verantwortlich zu machen; auch die Kirchenleitung müsse sich für ihr Fehlverhalten in den letzten Jahren entschuldigen. Sie habe ja selbst Priester und Laien, vor allem Mitglieder kirchlicher Basisgemeinden, "unrechtmäßig behandelt" und ihren Kampf um Respektierung der Gewissens- und Religionsfreiheit nicht unterstützt. Várszegi aber musste bald auf Druck seiner Bischofskollegen als Sekretär seinen Hut nehmen, und seine Forderungen wurden "ad acta" gelegt.

Die ungarische Bischofskonferenz wehrte sich immer wieder erfolgreich dagegen, dass das Durchleuchtungsgesetz auch auf Kleriker ausgeweitet werde. Dazu kamen ihr vor allem die bürgerliche Parteien zur Hilfe, aber auch die Sozialisten wollen die Bischöfe nicht im Stich lassen. Einzig der liberale Bund Freier Demokraten (SZDSZ) hielt auch an der Durchleuchtung kirchlicher Würdenträger fest. So blieb die Konfrontation mit der kommunistischen Vergangenheit in der katholischen Kirche Ungarns bis vor einem Jahr aus; dann entschloss sich nämlich ein Historiker zur gesetzwidrigen Handlung: Er veröffentlichte einen Bericht, in dem er mehrere noch amtierende Bischöfe als ehemalige Spitzel des kommunistischen Geheimdienstes entlarvte.

Daraufhin setzte die Bischofskonferenz eine interne Kommission ein, die die Rolle der Kirche im Sozialismus untersuchen soll. Zum Vorsitzenden der Kommission wurde jener Várszegi - inzwischen Benediktiner-Erzabt von Pannonhalma - gewählt, der noch vor 15 Jahren mit seinem Vorschlag scheiterte. Der Bericht der Kommission steht noch aus.


Vorrang hatte die Quantität

Noch das parteistaatliche Parlament verabschiedete Anfang 1990 ein neues Religionsgesetz, das neben der Trennung von Kirche und Staat die Gleichberechtigung der Religionsgemeinschaften sowie die Mitfinanzierung der Tätigkeiten der Kirchen vorsah. Ein weiteres Gesetz aus dem Jahre 1991 regelte die Zurückforderung der früher von den Kommunisten verstaatlichten Immobilien der Kirchen zum Zweck des Glaubenslebens, der Ordensgemeinschaften, des Bildungs-, Gesundheits- und Sozialwesens und zu kulturellen Zwecken. Die Bischöfe sahen den Ausbau und Stabilisierung ihrer Institutionen - vor allem im Bildungsbereich - als ihre erstrangige Aufgabe an.

Über die Restitutionswünsche der Kirche gehen die Meinungen bis heute auseinander. Während die einen überzeugt sind, sie machte von den Zurückforderungen der Immobilien nur mäßig Gebrauch, werfen ihr andere vor, nur auf die Quantität und nicht auf die Qualität geachtet zu haben. In der Öffentlichkeit entstand das Bild einer besitzgierigen Kirche, die ohne Rücksicht auf materielle und humane Kosten möglichst vieles zurückhaben will, es aber weder finanziell noch personell aufrechterhalten kann.

Auf Grund des Gesetzes haben die Kirchen insgesamt etwa 7400 Immobilien zurückgefordert. Mehr als die Hälfte der Gesuche (dem Wert nach 70 Prozent) kam von der katholischen, ein Drittel (dem Werte nach unter 20 Prozent) von der reformierten, etwa 8 Prozent von der lutherischen Kirche, 4 Prozent vom Bund der Jüdischen Glaubensgemeinschaften in Ungarn. Für die Ausführung der Restitution wurde eine Frist bis 2011 gesetzt, sie kann aber zurzeit praktisch als abgeschlossen betrachtet werden. Da die Kirchen ihre Ländereien nicht zurückfordern konnten und dafür auch nicht entschädigt wurden, sah die Gesetzgebung die finanzielle Unterstützung der Kirchen vor.

Fest steht, dass die wichtigste Veränderung des letzten anderthalb Jahrzehntes im Bildungsbereich Ungarns der systematische Ausbau des kirchlichen Schulnetzes ist, das heute vom Kindergarten bis zur Universität alle Stufen umfasst. Von Seiten der Kirche wird mit Recht darauf hingewiesen, dass in der Gesellschaft offensichtlich ein Bedarf an Institutionen in kirchlicher Trägerschaft besteht, sonst könnten diese nicht expandieren.

Dem halten allerdings Kritiker entgegen, dass der Erfolg kirchlicher Einrichtungen nicht zuletzt auf die Tatsache zurückzuführen ist, dass sie eine einzigartige staatliche Sicherheit genießen: ihre Unterhaltskosten werden aus dem zentralen Staatsbudget vollumfänglich finanziert, während bei den Institutionen übriger Träger der Zuschuss aus der Staatskasse nur etwa zwei Drittel der Kosten deckt, für den Rest müssen sie selber aufkommen.

Dies wird damit begründet, dass die Kirchen keine Steuereinnahmen wie zum Beispiel die politischen Gemeinden haben und keine Schulgelder wie verschiedene Privatschulen erheben. Das Ausmaß der staatlichen Subventionen war in jeder Amtsperiode ein Merkmal der Beziehung zwischen Kirche und Regierung.

Dies war wohl auch dem sozialistischen Ministerpräsidenten Gyula Horn bewusst, als er 1997 die erwähnte Vereinbarung mit dem Vatikan unterzeichnete. Sie hatte drei Schwerpunkte. Zum Einen verpflichtete sich der ungarische Staat zur Finanzierung katholischer Institutionen im Bildungs- und sozialen Bereich. Zum Zweiten ermöglichte das Abkommen, dass die Kirche für die vom Staat nicht zurückgeforderten ehemaligen Immobilien eine ewige Rente erhält, und schließlich sah es eine Art freiwillige Kirchensteuer vor. Letzteres bedeutet, dass jeder Steuerzahler ein Prozent aus seiner persönlichen Einkommenssteuer einer Kirche oder Religionsgemeinschaft zuwenden kann. Sollte die so angebotene Gesamtsumme 0,5 Prozent der progressiven Einkommenssteuer des vorigen Jahres nicht erreichen, wird sie vom Staat laut Abkommen mindestens bis 2001 ergänzt.

Die Summe der Ergänzung wird unter den Kirchen und Religionsgemeinschaften gemäß der Relation der Verfügungen der Staatsbürger an die Kirchen verteilt. Ähnliche Vereinbarungen wurden auch mit anderen traditionellen Kirchen getroffen. Die Rechnung von Horn ging aber nicht auf, da die katholischen Bischöfe bei den nächstjährigen Parlamentswahlen nicht ihn, sondern die Rechtspartei von Viktor Orbán unterstützten.


Ein kirchenpolitischer Mix

Während der Regierungszeit von Orbán 1998-2002 kam der Mix der verschiedenen kirchenpolitischen Instrumente richtig auf Hochtouren. Sein Bündnis Junger Demokraten (Fidesz), dessen Vorsitzender er seit beinahe zwanzig Jahren ist, hat sich von einer liberalen und antiklerikalen Bewegung zur nationalistischen Rechtspartei gewandelt. Mit seiner christlich-sozialen Rhetorik überzeugte er nicht nur fast den ganzen Klerus, sondern auch die überwältigende Mehrheit der Gläubigen. Seine Regierung versuchte durch Abänderung des Religionsgesetzes, die Registrierung der kleineren und neueren Kirchen und Religionsgemeinschaften zu erschweren und sie auch bei der Finanzierung zu benachteiligen. Für die dadurch entstandenen Konflikte wurde er durch die Unterstützung der traditionellen Kirchen reichlich belohnt.

Das wichtigste kirchenpolitische Instrument von Orbán war die Einführung von neuen oder wieder eingeführten alten Formen der Kirchenfinanzierung, angefangen von gelegentlichen undurchsichtigen "zweckgebundenen" Beiträgen über Zuschüsse zu Immobilienrekonstruktionen bis zur zusätzlichen staatlichen Finanzierung des Religionsunterrichtes, die mit der Vatikan- Vereinbarung eben aufgehört hatte.

Die traditionellen Kirchen waren über diese Beiträge froh, da die Bereitschaft der Bürger, ein Prozent ihrer Steuer zugunsten einer Kirche zu verfügen, einen äußerst bescheidenen Erfolg hatte: nur etwa 12-15 Prozent der Steuerzahler machten und machen auch heute noch von dieser Möglichkeit Gebrauch, so dass die Finanzierung des Glaubenslebens zum größten Teil durch die staatliche Ergänzung erfolgte und erfolgt.

So entschloss sich Orbán vor den Parlamentswahlen 2002 zu größeren Geschenken an die traditionellen Kirchen. Die vom Staat garantierte Ergänzung der zugunsten der Kirchen verfügten Einkommenssteuer erhöhte er vom 0,5 auf 0,8 Prozent. Ebenfalls veränderte er den Verteilungsschlüssel: die Ergänzung hätte in Zukunft nicht gemäß den Verhältnissen der Bürgerverfügungen, sondern nach der Konfessionszugehörigkeit gemäß der Volkszählung erfolgen sollen, was der katholischen und reformierten Kirche zugute kam. Außerdem führte er eine zusätzliche regelmäßige "Einkommensergänzung für kirchliche Personen" ein.

Orbán hat - im Gegensatz zu Horn - offenbar auch die Bedeutung der ideologischen Nähe von Parteien und Kirche erkannt. Mit dem Sturz des Einparteiensystems wurde zwar die Kirche von der erstickenden Umarmung der Politik befreit, doch bestimmte das Verständnis der Beziehung von Kirche und politischer Macht ihre Identität weiterhin mit. Bereits nach der Wende positionierte sich der ungarische Episkopat verständlicherweise auf der Seite der neuen bürgerlichen Regierung, darüber hinaus aber kam es zur eigenartigen "Verflechtung der Macht und der Kirche", wie dies ein Minister eben dieser ersten freien Regierung - übrigens ein praktizierender Katholik und in kommunistischen Zeiten Vorsitzender eines Pfarreirates - später bemerkte.

In der Fidesz-Ära nahm diese Verflechtung unübersehbare Dimensionen an. Kirchliche Veranstaltungen wurden - mit den Worten eines anderen Mitgliedes der ersten freien Regierung - zu "eindeutigen protokollarischen politischen Demonstrationen", da an ihnen Vertreter der Regierungsparteien immer wieder teilnahmen. Bei staatlichen Feierlichkeiten hingegen dienten die "hohepriesterlichen" Auftritte "der Legitimation und Stärkung gewisser Parteien und staatlicher Institutionen".

Die Bischofskonferenz, die noch 1996 - während der Regierungszeit von Horn - ein umfangreiches und viel beachtetes Rundschreiben über "Eine gerechtere und geschwisterliche Welt!" veröffentlichte, in dem sie die sozialen Probleme des Landes anprangerte, nahm keine Notiz von Maßnahmen der Orbán-Regierung, die zur Verarmung gewisser Volksschichten beitrugen. Umgekehrt eilte die politische Macht - so ein Universitätsprofessor - "den historischen Kirchen zu Hilfe, damit ihre wirtschaftlichen Missbrauchsangelegenheiten nicht ans Tageslicht kommen".

Selbst ein Bischof gab zu, dass es in der Kirche jene "aus dem Kommunismus vererbte Mentalität" vorzufinden ist, "dass alles, was vielleicht nicht ans Tageslicht kommt, erlaubt sei, zum Beispiel aus der Westentasche zu zahlen, Steuer zu hinterziehen usw.". Es herrschte eine byzantinische Harmonie zwischen traditionellen Kirchen und politischer Elite. Umso größer saß der Schock bei ihnen, als 2002 Orbán die Wahlen verlor und wieder die Sozialisten und Liberalen die Regierung bilden konnten.


Mangel an Horizont

Der neue sozialistische Ministerpräsident, Peter Medgyessy, unterschätzte ebenso wie sein Parteifreund Horn die Bedeutung der ideologischen Nähe. Auch er hoffte, durch Entgegenkommen auf finanzieller Ebene die Kirche zwar nicht unbedingt für sich zu gewinnen, mindestens aber politisch zu neutralisieren. Auf breiten gesellschaftlichen Druck musste er zwar das Gesetz über die neue Verteilung der Steuerergänzung gemäß den Daten der Volkszählung außer Kraft setzen, führte aber für die großen Kirchen eine Kompensation ein, die schließlich darin mündete, die garantierte staatliche Ergänzung von 0,8 auf 0,9 Prozent zu erhöhen (in Wirklichkeit erreicht die den Kirchen abgezweigte Steuer bereits ein Prozent, da die Orbán- Regierung nicht mehr die progressive Einkommenssteuer zur Basis nahm, wie es in der Vereinbarung mit dem Vatikan festgelegt wurde, sondern eine breitere Steuerbasis).

Weniger einfühlsam für kirchliche Ansprüche zeigte sich auch in finanziellen Angelegenheiten die kleinere Koalitionspartnerin, die liberale SZDSZ, die in der Medgyessy- und ersten Gyurcsány-Regierung den Bildungsminister stellte. Bálint Magyar versuchte die kirchlichen Schulen von gewissen Unterstützungsformen auszuschließen, woraufhin Lehrer, Schüler und Eltern dieser Einrichtungen - meist mit Erfolg - auf die Straße gingen.

Die politische Polarisierung nahm in den letzten Jahren in der ungarischen Gesellschaft Dimensionen an, die bereits das friedliche Zusammenleben in Familien, unter Freunden und Kollegen und nicht zuletzt in der Kirche auf die Probe stellen. Die Mehrheit der Kirchenleitung, des Klerus und der Laienorganisationen aber nahm für das rechte politische Lager eindeutig Stellung. Es wundert nicht, wenn eine rechtspopulistische Organisation christlicher Intellektuellen heute in Ungarn mehrere Dutzend Mal mehr Mitglieder hat als eine, die zum Abstand von der Politik und gesellschaftlichem Dialog auffordert. Klerikalismus, Triumphalismus und Nationalismus hielten Einzug auch in die Kirchen und Predigten.

Christen, die zu einem ausgewogenen Verhältnis der Kirchen zur Politik aufforderten, wurden regelrecht stigmatisiert, gelegentlich unter Zuhilfenahme von Politikern und einflussreichen Freunden unmöglich gemacht. Der politische Katholizismus ist zwar eine marginale Erscheinung im gesellschaftspolitischen Leben Ungarns, aber bestimmt weitgehend die katholische Denkweise. Dessen harter Kern wird - wie eine Untersuchung belegt - vor allem von älteren Männern und nur an der zweiten Stelle von Frauen gebildet, aber auch junge religiöse Erwachsene sind in große Zahl dabei, die allesamt gemäß der Lehre der Kirche religiös sind.

Nur auf diesem Hintergrund ist es verständlich, dass angesichts der Resultate der Parlamentswahlen 2006, die wiederum - Dank der inzwischen vom Ministerpräsidenten selber anerkannten "Lügen" über die tatsächliche wirtschaftliche Lage des Landes - die Sozialisten gewonnen haben, der Sekretär der Bischofskonferenz, Weihbischof András Veres, seiner Bestürzung offen Ausdruck gab. Eine Gesellschaft, die zu dieser Wahlentscheidung fähig sei, könne nur eine "wertlose, tief devalvierte" Gesellschaft sein, sagte er. Ähnlich erklärte der Leiter der größten Organisation christlicher Intellektuellen, der katholische Priester Zoltán Osztie, dass in einer solchen Gesellschaft "die Grundwerte für breite Schichten der Menschen nicht mehr existieren".

Nach der Meinung eines Laientheologen liegt das Problem aber in der katholischen Kirche selbst: "Insgesamt ist die ungarische Kirche eine mit dem Pluralismus der Gegenwart etwas verzweifelt kämpfende Kirche, die auf die zu ihr neigende Hilfe der Staatsgewalt hofft, wo die Rede von Gott in Wirklichkeit keinen Raum hat. Die öffentlichen Manifestationen legen zumindest das nahe. Hier bekommt nur das Gerede über sich selbst einen Raum."


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János Wildmann (geb. 1954), Ökonom und Dr. theol., arbeitet an der Universität Pécs (Südungarn) am Lehrstuhl für Religionssoziologie. Er ist Chefredakteur der pastoraltheologischen Zeitschrift 'Egyházfórum' (Kirchenforum).


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
61. Jahrgang, Heft 1, Januar 2007, S. 36-39
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. März 2007