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BERICHT/260: Analyse des "Briefs der 138 Muslime" (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion 8/2008

Irenische Interpretationen?
Eine Analyse des "Briefs der 138 Muslime"

Von Christian Troll


Im November soll im Vatikan das erste Treffen des Katholisch-Muslimischen Forums stattfinden. Thema wird dort auch der so genannte "Brief der 138 Muslime" sein, mit dem muslimische Führer auf die Regensburger Rede Benedikts XVI. geantwortet haben. Über welche Fragen muss aus christlicher Sicht besonders gesprochen werden?


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Die Beziehungen zwischen Christen und Muslimen begannen mit der Geburt des Islam vor rund 1400 Jahren. Sie sind sozusagen "eingeschrieben" in die frühe Genese des Islam. In der langen Geschichte seither hat es noch nie eine dem "Brief der 138 Muslime", wie dieses Dokument heute oft verkürzend genannt wird, vergleichbare Initiative gegeben. Anlässlich des Festes des Fastenbrechens des Jahres 2007 (13. Oktober 2007) unterzeichneten und veröffentlichten 138 führende muslimische religiöse Persönlichkeiten und Gelehrte diesen "Offenen Brief und Aufruf".

Trotz - oder vielleicht sogar wegen - ihres provokativen Inhalts scheint die mittlerweile berühmt gewordene Vorlesung Benedikts XVI. an der Universität von Regensburg vom 12. September 2006 weithin spürbare Wirkung zu entfalten. Am 12. Oktober 2006 schrieben bereits 38 muslimische Gelehrte sowie Repräsentanten vieler verschiedener muslimischer Gemeinschaften und Institutionen des Islam einen Brief an den Papst, der sich unmittelbar und kritisch mit einigen der in der Regensburger Vorlesung behandelten Punkte befasste. Dieser Brief wurde vom Heiligen Stuhl nicht beantwortet. Jetzt aber scheint sich ein ständiger, breit angelegter Dialog zu entwickeln.

Der Brief der 138 ist nicht nur an Benedikt XVI. gerichtet, sondern unter anderen auch an den orthodoxen Patriarchen von Konstantinopel, den Erzbischof von Canterbury sowie an die Leiter der Lutherischen, Methodistischen, Baptistischen und Reformierten Weltbünde. Er vergleicht ausgewählte koranische und biblische Texte und kommt zu dem Ergebnis, dass beide heiligen Schriften den Primat der totalen Liebe und Hingabe an Gott zusammen mit der Liebe des Nächsten betonen. Muslime und Christen, fährt er fort, machen mehr als die Hälfte der Gesamtbevölkerung der Erde aus. Das Verhältnis zwischen ihnen stellt somit "den wichtigsten Faktor für einen Beitrag zu einem sinnvollen Frieden weltweit" dar. "Als Muslime sagen wir zu Christen, dass wir nicht gegen sie sind - so lange sie nicht aufgrund ihrer Religion Krieg gegen die Muslime führen, sie unterdrücken und aus ihren Häusern vertreiben" (vgl. Sure 60:8).


Einladung zum Dialog

Mit dieser Initiative werden wir Zeugen des Entstehens von so etwas wie einer inner-islamischen "ökumenischen" Bewegung. Die breite Repräsentanz und die beeindruckende Zahl der Unterzeichner sind bemerkenswert. Sie ist mittlerweile auf fast 250 angestiegen. Unter den Unterzeichnern befinden sich die Großmuftis von Bosnien-Herzegowina, Russland, Kroatien und Syrien, der Generalsekretär der Organisation Islamischer Staaten (OCID), der frühere Großmufti von Ägypten, der Gründer der Ulama Organisation im Irak. Ferner gehören auch zwei Ayatollahs und weitere Würdenträger der Zwölferschiiten, der Ibadis und der Ismailis dazu. So wie die Initiative zum Brief der 38 Gelehrten im Jahr 2006 ging auch dieser Brief vom Königlichen Aal al-Bayt Institut für islamisches Denken in Amman in Jordanien aus. Eine der treibenden Kräfte dabei ist der führende Intellektuelle Aref Nayed vom 'Interfaith Programme' der Universität Cambridge. Er beschreibt den Brief - nicht ohne spürbare Übertreibung - als einen "Konsens" der Muslime weltweit, als "einen Meilenstein".

Die Geschichte wird uns zeigen, wie es um die Identität, Stärke und Kohäsion der Gruppe in Bezug auf grundlegende Fragen steht und ferner, wie viele derer, die den Brief unterzeichnet haben, wirklich bereit sind, sich voll und ganz in dieser Sache und auf die Art und Weise dieses Briefes zu engagieren. Eine kritische muslimische und islamwissenschaftlich solide Untersuchung seitens derer, die es abgelehnt haben, das Dokument zu unterzeichnen, steht meines Wissens noch aus. Yusuf al-Qaradawi, der berühmte ägyptische Fernsehprediger und -Mufti, der von Qatar und London aus operiert, fehlt bei den Unterzeichnern. Ebenso Scheich Muhammad Sayyid Tantawi, der Scheich der einflussreichen al-Azhar-Universität in Kairo sowie die theologisch und politisch führenden Ayatollahs aus Qom und Teheran.

Der Brief ist eine Einladung zum Dialog zwischen Christen und Muslimen über die verhandelten Themen. Nun ist es weder die Aufgabe noch das Recht von Christen, den Muslimen vorzuschreiben, was genuin muslimische Positionen sind und was nicht. Am wichtigsten wird der inner-muslimische, schriftlich fixierte, wissenschaftliche Austausch sein, den das Dokument hoffentlich hervorrufen wird. Doch ebenfalls die Christen sind aufgefordert und auch gut beraten, den Brief mit größter Aufmerksamkeit zu studieren und in diesem Vorgang ihre kritischen Kommentare und Fragen zu formulieren.

Der Text beginnt mit Sure 16:125, dem Vers der da'wa, der die Muslime auffordert, einzuladen zur Annahme des Islam als den "Weg des Herrn" - und zwar mit Weisheit und schöner Ermahnung und durch "Streiten auf die beste Art". Muhammad und mit ihm alle Muslime sollen die Menschen "auf die beste Art" zum Islam rufen und zur Annahme des Islam einladen. Der Islam, die "Religion der Wahrheit" (Sure 9:33, dîn al-haqq), die, wie der Name es sagt, in der Hingabe an beziehungsweise der Unterwerfung unter Gott besteht, ist dem Glauben der Muslime zufolge das natürliche Geburtsrecht aller menschlichen Wesen. Deshalb ist es die Aufgabe der Muslime, alle Menschen dazu einzuladen, das für sich zu "beanspruchen", was ihnen aufgrund ihres Geburtsrechts schon gehört. Juden und Christen sind in dieser Einladung eingeschlossen. Ihnen wird sogar eine doppelte Belohnung versprochen, wenn sie sich bekehren und das Prophetentum des Muhammad anerkennen (Er lässt "euch einen doppelten Anteil an seiner Barmherzigkeit zukommen", Sure 57:28).

Der Brief besteht aus drei Teilen: Der erste Teil ist überschrieben mit "Gottesliebe" und unterteilt in zwei Abschnitte: "Gottesliebe im Islam" und "Gottesliebe als das erste und größte Gebot in der Bibel". Im arabischen Original heißt es "im Evangelium". Durch den Gebrauch des Wortes "Bibel" im englischen Text kann jedoch der jüdische Glaube mit in den Diskurs eingeschlossen werden. Der zweite Teil ist überschrieben mit "Liebe des Nachbarn" (hubb al-jar). Er ist wieder in zwei Teile unterteilt: "Liebe zum Nachbarn (Nächstenliebe) im Islam" und "Liebe zum Nachbarn (Nächstenliebe) in der Bibel". Der dritte Teil legt die Aufforderung "Kommt auf ein gemeinsames Wort zwischen uns und euch" (Sure 3:64) aus.


Koranische Formulierungen werden mit spezifisch christlichen Ausdrücken vermischt

Samir Khalil (Beirut) hat darauf hingewiesen, dass der Brief ein christliches und kein muslimisches Vokabular gebraucht. Das Wort "Nachbar" (im Sinn von, christlich gesprochen, "Bruder und Schwester, Nächster") existiert im Koran nicht. Tatsächlich benützt auch der arabische Text des Briefes den Begriff für Nächster/Bruder nicht, sondern das Wort Nachbar (jar), das ausschließlich eine sozusagen geographische Bedeutung hat (wie ein Nachbar, der nebenan wohnt).

Das Wort "Liebe" (hubb) wird im Koran in Bezug auf Gott selten benützt. Es ist nicht einmal einer der "99 schönsten Namen Gottes". Niemals wird gesagt, Gott sei der Liebende (al-muhibb). Allerdings gibt es in der Liste dieser "99 schönsten Namen Gottes" weniger "starke" Synonyme wie zum Beispiel "der Freundliche: al-wadjud; al-latif; ar-ra'uf". Dagegen wird Gott in der arabischen Sprache der Christen häufig als "al-muhibb" (etwa ya muhibb al-basha. Oh, Liebender des Menschgeschlechtes) charakterisiert und so im liturgischen Gebet angerufen.

Außerdem ergibt sich aus einer eingehenden Lektüre und Analyse des ersten Teils des Briefes, "Gottesliebe im Islam", dass der Brief inhaltlich gesehen eigentlich beschreibt, was wir Christen als "Gehorsam gegenüber Gott", nicht aber als "Liebe" bezeichnen würden. Die Autoren des Briefes haben diese koranischen Inhalte doch wohl deshalb mit "Liebe" wiedergegeben, um sie so in eine Linie zu bringen mit der Sprache des Neuen Testaments und des christlichen Glaubens.

Prominent ist das Thema Liebe im Islam nur in der Sprache der Sufis, die einerseits von der Hauptströmung des Islam durch die Jahrhunderte bis heute äußerst kritisch und oft ausschließlich negativ beurteilt werden, die freilich andererseits in vielen Regionen der muslimischen Welt das Leben und die Lehre der Muslime wie auch der Gelehrten und Prediger nachhaltig mitgeprägt haben beziehungsweise mitprägen. Von Liebe zu Gott zu sprechen, wie der Brief es in Bezug auf den Kern der koranischen und islamischen Botschaft tut, ist in jedem Fall eine Neuigkeit. Vielleicht möchte der Brief bewusst das Thema der ersten Enzyklika des Papst "Deus caritas est" aufnehmen.

Die arabische Fassung des Briefes benutzt auch in anderen Fällen eine Terminologie, die sich als solche in den Versionen desselben Briefes in Französisch, Italienisch, Deutsch und Englisch nicht findet. In Bezug auf Christus beispielsweise schreiben die Versionen des Briefes in den westlichen Sprachen "Jesus Christus", die arabische Version stattdessen "'Isa al-Masih". Dieser Ausdruck findet sich im Koran nicht. Er ist das Resultat einerseits der Weise, in der die Muslime vom Koran her Jesus benennen ('isa) - die arabischen Christen nennen ihn Yasu' - und anderseits der christlichen Definition von "al-Masih", Christus, die im Koran zu finden ist. Die Formulierung im Koran lautet: al-Masih 'Isa ibn Maryam (der Messias 'Isa, Sohn der Maria), während die normale christliche Formulierung folgende ist: Yasu' al-Masih (Jesus Christ). Der Text des Briefes ist tatsächlich voll von koranischen Formulierungen, vermischt mit spezifisch christlichen Ausdrücken.

Im Hinblick auf die Art und Weise, wie die Autoren des Briefes den Koran und die Bibel zitieren, benützen sie verschiedene Maßstäbe. Wenn sie aus dem Koran zitieren, sagen sie: "Gott sprach/hat gesprochen", so wie es jeder gute Moslim tut. Wenn sie aber Verse der Bibel zitieren, sagen sie: "wie es im Neuen Testament heißt" oder "wie wir im Neuen Testament lesen", usw. Dies bedeutet, dass sie bei Zitaten aus der Bibel eine wissenschaftliche, sozusagen objektiv-distanzierte Art zu sprechen wählen, während sie bei Zitaten aus dem Koran die traditionelle Terminologie derer benutzen, die an den Islam glauben - eine Redeweise somit, die Nichtmuslime als solche nicht nachvollziehen können.


Bruch mit der klassischen islamischen Lehre?

Darüber hinaus enthält der Brief eine Anzahl von biblischen Zitaten. Er kommentiert diese positiv und setzt gleichsam als selbstverständlich voraus, dass diese Texte, als zur Bibel gehörende Texte, Wort Gottes sind. Auch dies ist eine relative Neuheit. Der Koran beteuert zwar auf der theoretischen Ebene, dass die den biblischen Propheten geoffenbarten Worte Wort Gottes sind. In der konkreten Wirklichkeit jedoch interpretieren die Muslime fast durchweg die relevanten koranischen Aussagen dahingehend, dass sie den Text der Bibel, wie er von Juden und Christen benutzt und anerkannt wird, für durch spätere Eingriffe und Manipulation der Juden und Christen verändert erklären. Was der genuine Nukleus der biblischen Botschaft ist, bestimmt der Koran.

Der Brief geht demgegenüber im Zusammenhang der Erklärung des wahren Verständnisses des Begriffs "Herz" so weit, sogar Paulus als Gewährsmann für ein korrektes Verständnis dieses zentralen religiösen Begriffs zu zitieren (Fußnote 4). Paulus wird im Allgemeinen von der großen Mehrheit der Muslime kategorisch abgelehnt. Er wird als ein Verräter an der authentischen Botschaft Jesu betrachtet, einer Botschaft, die ursprünglich, bevor sie - nicht zuletzt durch ihn - missverstanden und verändert wurde, eine genuin "islamische Botschaft" gewesen sei. Nicht selten behaupten Muslime, dass die Botschaft des Jesus von Nazareth identisch mit der Kernbotschaft des Korans gewesen sei, jedoch gerade durch den Einfluss des Paulus die Lehren der Dreifaltigkeit, der Erlösung durch das Kreuz und der Ablehnung des Gesetzes des Moses als Heilsweg ins Christentum eingeführt worden seien.

Es ergibt sich also die Frage: Bedeutet der Gebrauch, den der Brief von den biblischen Texten macht, so etwas wie einen Bruch mit der klassischen islamischen Lehre, gemäß welcher die heiligen Schriften der Juden und der Christen (wie sie in ihrer derzeitigen Form existieren) als veränderte, gar manipulierte Formen der ursprünglich von Gott geoffenbarten Schriften betrachtet werden? Als eine Konsequenz dieser Auffassung hat die große Mehrheit der Muslime bisher den Text der Bibel als unzuverlässig betrachtet und im Allgemeinen wenig Interesse an seinen Inhalten gezeigt (ausgenommen für polemische Zwecke).


Hat Jesus die monotheistische Reinheit des Islam gelehrt?

In jedem Fall haben die Muslime den biblischen Text, wie er uns vorliegt, nicht als eine gemeinsame Basis für das interreligiöse Sprechen und Forschen anerkannt. So wurde etwa nach dem Zeugnis des Koran dem Propheten David von Gott "zabur" gegeben (vgl. Sure 4:163; 17:55). Damit ist nach allgemeiner Auffassung der Muslime seit jeher das Buch der Psalmen gemeint; und doch wurde das Buch der Psalmen der hebräischen Bibel von den Muslimen bis heute nicht als von Gott geoffenbarte Heilige Schrift anerkannt. Folglich finden sich keine Texte der Psalmen im liturgischen Gebet der Muslime, noch spielen sie eine nennenswerte Rolle in ihrer privaten Frömmigkeit und Meditation.

So stellt sich die Frage: Versuchen die Autoren des Briefes die biblischen Texte, die sie im Brief zitieren, in ihrem jeweiligen eigenen, authentisch biblischen Kontext zu verstehen? Oder könnte es sein, dass diese biblischen Texte von den muslimischen Gelehrten nur insoweit akzeptiert und zitiert werden, als sie mit der Botschaft des Korans übereinstimmen? Die islamische Lehre von der absichtlichen Veränderung der biblischen Texte durch Juden und Christen, die von enormer Bedeutung für den jüdisch-christlich-muslimischen Dialog ist, wird jedenfalls in diesem Brief weder erwähnt noch ausdrücklich modifiziert und schon gar nicht in Frage gestellt.

Als Titel des gesamten Dokuments, der als Überschrift seines dritten Teiles wiederholt wird, dient der koranische Vers 3:64: "Sprich: 'O Volk der Schrift, kommt herbei zu einem gleichen Wort zwischen uns und euch, dass wir nämlich Gott allein dienen und nichts neben Ihn stellen und dass sich nicht die einen von uns die anderen zu Herren nehmen außer Gott.' Und wenn sie sich abwenden, so sprecht: 'Bezeugt, dass wir (Ihm) ergeben sind.'"

Diese Verse stehen im Koran in einem bestimmten Kontext. Es ist die bei weitem vorherrschende Meinung muslimischer Kommentatoren, dass die ersten ungefähr 80 Verse dieses Kapitels in dem Moment geoffenbart wurden, als im Jahre 630 eine Delegation von Christen der Oase Nadjran nach Medina kam, um Muhammad zu besuchen. Muhammad lud sie ein, den Islam anzunehmen. Sie aber insistierten, dass sie wahre Gläubige seien und dies schon lange vor dem Kommen Muhammads. Den Christen wurde am Ende des Disputs erlaubt, in Sicherheit nach Hause zurückzukehren und an ihrem (aus Muhammads Sicht irrigen) Glauben festzuhalten - unter der Bedingung, dass sie Muhammads und damit des Islam Oberherrschaft anerkennen.

Nun geht der Brief der 138 einfach über die Worte des Koran: "und wir werden ihm keine Partner zuschreiben (oder: und wir werden ihm nicht beigesellen)" hinweg, indem er sagt, dass sich diese Worte "auf die Einheit Gottes beziehen". Die klassischen und modernen Kommentatoren, die diesen Kontext ernst nehmen, sehen jedoch diese eben zitierten Worte des Verses 3:64 als eine klare Affirmation der Nicht-Gottheit Jesu. So ist zu fragen: Wie stellen es sich die Autoren des Briefes der 138 vor, dass Christen, die an die Trinität Gottes glauben, mit der vollen Integrität ihres Glaubens zu diesem "gemeinsamen Wort" kommen könnten, von dem der Koran spricht? Mehrere Kommentatoren des Briefes auf der Homepage "A Common Word" haben schon auf die sozusagen irenische Interpretation dieser Textstellen durch die Autoren des Briefes hingewiesen.

Muslime, die einen wirklichen Dialog mit den Christen als Christen führen wollen, müssen verstehen, dass der trinitarische Monotheismus für den christlichen Glauben und Gottesdienst von zentraler Bedeutung ist - und nicht nur ein Aspekt des Christentums, das wegverhandelt werden kann. In dieser Hinsicht bestehen im vorliegenden Brief eine Reihe von Unklarheiten, Punkte an denen ein Christ durchaus den Eindruck bekommen kann, es werde ihm suggeriert, diese Differenzen seien letztlich nicht von großer Bedeutung. Während der warme Ton des Briefs an die Christen enorm ermutigend ist, wäre zu wünschen, dass dieser Ton zusammengeht mit einer Haltung seiner Autoren, die die Punkte ernst nimmt, in denen Christen und Muslime sich unterscheiden. Sonst könnte es sein, dass der Brief als eine Ermutigung verstanden wird, diese Unterschiede diplomatisch zu umgehen. Durch ein solches Vorgehen würde der Dialog in der Tat Schaden nehmen.


Eine Antwort auf der Basis des christlichen Verständnisses von Gottes- und Nächstenliebe

Ein weiterer wichtiger Punkt ist: Für den Brief und seine Autoren, als authentischen muslimischen Gläubigen, liegt das absolute Kriterium für das konkrete Verständnis der Liebe Gottes und des Nächsten, wie sie der Koran lehrt, in Muhammad, seinem Leben und seiner Interpretation des ihm anvertrauten göttlichen Wortes. Leben und Lehre des Muhammad als des "schönen Beispiels" (Sure 33:21) sind für Muslime in ihrem Bemühen, ihr individuelles und kollektives Leben nach dem Willen Gottes auszurichten, von entscheidender Bedeutung.

In dieser Hinsicht wäre eine eingehende Betrachtung des Vorgehens Muhammads gegenüber den Juden und den Christen nötig. Der Brief der 138 geht darauf mit keinem Wort ein. Eine Analyse dieser Fragen müsste die in den späteren Jahren Muhammads zunehmenden Spannungen zwischen ihm, der umma und den "Leuten des Buches" bedenken, wie sie sich unter anderem in Sure 9 widerspiegeln - jener späten Sure, die als einzige nicht mit den Worten "Im Namen Gottes des barmherzigen Herrn der Barmherzigkeit" beginnt. Dabei ist vor allem an Muhammads Antwort auf die Weigerung der jüdischen Stämme, gemeinsame Sache mit ihm und seiner Gemeinschaft zu machen und ihn als endgültigen Propheten anzuerkennen, zu denken, aber auch an Muhammads Art und Weise, mit seinen Kritikern umzugehen, sowie an die Methoden, die er anwandte um seinen Herrschaftsbereich in den Norden der arabischen Halbinsel auszubreiten.

Teil einer Vertiefung der im Brief notwendigerweise nur angedeuteten Themen muss eine Klärung der Begriffe sein. Ein Begriff wie "Gottesliebe" ist zentral für unser Verständnis, denn es bestimmt den Inhalt solcher von diesem Zentralbegriff abgeleiteten Begriffe wie beispielsweise "Gottesliebe" und "Nächstenliebe". Viele hier direkt relevanten Verse des Korans zeugen von einem vertraglichen, also bedingungsgebundenen Verständnis des Begriffs, wenn es etwa heißt: Gott liebt diejenigen, die ihm gehorchen, dienen, ihn anbeten und ihn lieben, nicht aber diejenigen, die sich gegen ihn auflehnen oder jemanden anderen als Gott anbeten, obwohl doch kein Leben existieren oder fortfahren zu existieren könnte, ohne die erhaltende barmherzige Liebe seitens Gottes, durch den wir geschaffen sind und im Sein gehalten werden.

Notwendig wäre hier der Vergleich mit einer mehr von der Bundestreue her verstandenen, unbedingten Liebe Gottes, der neutestamentlich gesehen absolut stetig liebt: den schlimmsten Sünder ebenso wie den größten Heiligen. Die Sicht auf diese Fragen hat unmittelbare Auswirkungen auf die Beantwortung der Frage, ob unsere Nächstenliebe für die, "die uns bekriegen" (vgl. Sure 60:80), nicht gilt, oder ob wir im Gegenteil dazu aufgerufen sind, "unsere Feinde zu lieben" (vgl. Mt 5,44-45) - weil gilt: "Gott ist Liebe" (vgl. 1 Joh 4,9). In einigen der Kommentare ist die Frage der Zentralität der Liebe im islamischen System schon angeschnitten worden: in den Schriften etwa des Mevlana Rumi (1207-1273) ist dies der dominante Ton. Muslime, die sich an anderen Stellen des Spektrums verorten, würden diese Frage anders sehen und beantworten: Sie würden Gerechtigkeit und Unterwerfung des menschlichen Willens an den göttlichen Willen als die absolut zentrale Botschaft des Korans betrachten.

Indem der Brief nahelegt, einen Koranvers wie Sure 3:64 mit seinen Kategorien und Aussagen als Rahmen für einen weiterführenden Dialog zwischen Muslimen und Christen zu nehmen, beschwört die Gefahr herauf, dass eine Seite praktisch sagt: "Treffen wir uns, aber zu unseren Bedingungen". Damit ein wirklicher Dialog möglich wird, muss am Anfang stehen, dass jede der beiden Seiten ihre eigene Grundposition des Glaubens formuliert, wie "schwer zu verdauen" sie auch für den Partner im Dialog sein mag - was natürlich nicht heißt, dass diese Prämissen außerhalb des Bereichs der kritischen Befragung und Diskussion stehen.

Der Brief sollte nicht für seine Passagen über das muslimische Verstehen der Gottes- und Nächstenliebe kritisiert werden, die möglicherweise nicht alle möglichen Dimensionen der Frage berücksichtigen. Die unmittelbare Aufgabe für Christen besteht auch nicht darin, den Brief Satz für Satz zu beantworten. Eher geht es darum, dass die christlichen Gesprächspartner das von den Autoren des Briefes vorgeschlagene Thema der Liebe Gottes und des Nachbarn aufgreifen und dann eine Antwort formulieren, die auf einem christlichen Verständnis dieser Begriffe beruht.

Ein christliches Verständnis der Liebe Gottes muss auf jeden Fall inkarnatorisch sein und den für den christlichen Glauben und die christliche Theologie zentralen Begriff und Inhalt ausloten. Denn es ist der Glaube an die in der Inkarnation offenbar gewordene Liebesinitiative Gottes, die den christlichen Glauben und das christliche Menschenbild zutiefst bestimmt. Daraus ergibt sich beispielsweise, dass Christen als Kirche die "Menschen der inkarnierten Offenbarung" sind und nicht einfach "Leute des Buches".

Christen müssen von einer Theologie der Gnade sprechen, einschließlich der zuvorkommenden Gnade, da es für sie die gnadenhafte Liebe Gottes ist, die sie, die sich als dem "Gesetz der Sünde" und dem "Ungehorsam gegenüber Gott" verfallen wissen, dazu befähigt, eine liebende Antwort an Gott und den Nächsten zu leben. Aus christlicher Sicht kann und darf eine Reflexion über die Liebe Gottes nicht von dem Glauben an die Kenose (Selbstentäußerung, Selbsterniedrigung) Jesu Christi und der darin aufscheinenden Verwundbarkeit der menschgewordenen Liebe Gottes getrennt werden (Phil 2,6ff.).

Darüber hinaus müssten Christen ihre Pneumatologie in die Diskussion einbringen und ausloten, was es heißt, hier und jetzt "im auferstandenen Herrn" zu leben. Keine christliche Antwort würde vollständig sein ohne eine Diskussion der gewaltlosen, selbsthingebenden, sühnenden, erlösenden, bedingungslosen Liebe Gottes und die freie, von Gottes Gnade ermöglichte Antwort darauf in Glaube und Leben. All dies würde den Kontext abgeben für ein Gespräch über die universale Liebe des Nächsten, die versucht, Christus und seine grenzenlose radikale Liebe, die als reines Geschenk empfangen wird, nachzuahmen.


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Christian W. Troll (geb. 1937) trat 1963 in den Jesuitenorden ein. Er studierte in Bonn, Tübingen, Beirut und London. Von 1976 bis 1988 wirkte er als Professor für Islamische Studien in Neu-Delhi, lehrte dann in Birmingham und von 1993 bis 1999 am Päpstlichen Orientalischen Institut in Rom. Seit 2001 ist er Mitglied der Unterkommission der Deutschen Bischofkonferenz für den Interreligiösen Dialog. Er wirkt als Honorarprofessor an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt.


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
62. Jahrgang, Heft 8, August 2008, S. 403-408
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. September 2008