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BERICHT/310: Nächstenliebe im Nahen Osten (ÖRK)


Ökumenischer Rat der Kirchen - Feature vom 2. September 2010

Nächstenliebe im Nahen Osten

Von Mark Beach


Militärische Kontrollpunkte gehören zum Leben der Palästinenser in Palästina und Israel. Jeden Tag bewegen sich Tausende von Palästinensern und Palästinenserinnen geduldig durch Drehkreuze und enge, vergitterte Gänge, um zur Arbeit, zur Schule oder nach Hause zu gehen. Eine erniedrigende Erfahrung.

Auch für die Israelis sind die Kontrollpunkte indirekt Teil ihres täglichen Lebens. Es sind ihre Söhne und Töchter, die beobachten, wie die Palästinenser und Palästinenserinnen durch die Kontrollpunkte gehen, um nach Hause, zur Arbeit, zur Schule oder zum Gottesdienst zu kommen.

Einige der Checkpoints, wie die Straßensperre in der Shuhada-Straße in Hebron, führen in leere, verlassene Straßen mit geschlossenen Läden und leeren Wohnungen darüber. Die Palästinenser dürfen nur eine bestimmte Strecke dort entlanggehen, bevor sie zurückgeschickt werden.

Die Kontrollpunkte versinnbildlichen auch die Zerreißprobe, der jegliches Empfinden nachbarschaftlicher Gefühle ausgesetzt ist, das diejenigen, die in die Drehkreuze hineingehen, und die, die ihnen dabei zusehen, vormals in ihrem familiären und religiösen Umfeld vielleicht entwickelt haben.

Die Nächstenliebe, die in der Anbetung und Liebe Gottes wurzelt, ist zutiefst in die drei Abrahamitischen Religionen dieser Region - Judentum, Islam und Christentum - eingebettet.

In diesem Kontext hielt Pastor Dr. Olav Fykse Tveit, Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) am Sonntag, dem 29. August, in der evangelisch-lutherischen Erlöserkirche in der Altstadt Jerusalems eine Predigt über den barmherzigen Samariter. Am selben Tag sah die von ihm angeführte ÖRK-Delegation mit eigenen Augen viele der trennenden Absperrungen.

Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter in Lukas 10 beschreibe die Qualitäten einer Lebensführung, wie sie sich aus "dem großen Gebot der Nächstenliebe" ergebe, sagte Tveit. Die wirkliche Frage sei, wer sich in diesem Gleichnis als der barmherzige Nächste erweise.

Im Kontext von Palästina und Israel, wo es überall Straßensperren und Gewalt gebe, sei es allen Seiten verwehrt, ihr Leben daran auszurichten, Gott und ihre Nächsten zu lieben, sagte er. "Die Religion sollte uns nicht von dieser Liebe abhalten."

Trotz der Komplexität der politischen Verhältnisse und der religiösen Unterschiede, die gleichermaßen durchdrungen seien von den Tragödien der jüngeren Zeit wie von den geschichtlichen Ereignissen in Palästina und Israel, stelle das Gleichnis vom barmherzigen Samariter die äußerst einfache Idee von der "Nächstenliebe" in den Mittelpunkt.

Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter sei die Geschichte eines Mannes, der - aus welchen Gründen auch immer - nach Jericho ging, sagte Tveit zu der Gemeinde in der Erlöserkirche. Unterwegs sei seine Reise durch eine Gewalttat unterbrochen worden. "Die Geschichte ist vielleicht der Wirklichkeit näher, als uns lieb ist", sagte Tveit.

Wenn man sich in Palästina und Israel einem Kontrollpunkt nähere, falle es schwer, nicht an Nachbarn, Nachbarschaft und Nächste-Sein zu denken. Für Tveit "hat letztlich alles mit der Nächstenliebe zu tun".

Es ist eine einfache und vielleicht naive Botschaft des Neuen Testaments. Wie könnte eine solche Botschaft der Nächstenliebe in einem dermaßen komplexen Kontext umgesetzt werden?

Wen wir lieben sollen, sei nicht so kompliziert, sagte Tveit. "Eine an moralisch-ethischen Werten ausgerichtete Lebensführung ist nicht so schwierig: Gott lieben, den Nächsten lieben und sich selbst lieben", sagte Tveit. Leere Straßen, getrennte Nachbarn

Viele Jahre Gewalt in Palästina und Israel haben leere Straßen mit verlassenen und geschlossenen Läden hinterlassen, hohe Mauern und Stacheldrahtzäune, die einige Menschen aus- und andere einsperren sollen. Und letzten Endes haben sie Nachbarn voneinander getrennt, die einander nun verdächtigen und sich voreinander fürchten.

Als Tveit und seine Kollegen die leere Shuhada-Straße entlanggingen, die den von der Palästinensischen Autoritätsbehörde kontrollierten Bezirk von dem trennt, den die Israelis kontrollieren, wurde das Schweigen der Straße beredt.

Die Delegation war in Gesellschaft von Teilnehmenden des ÖRK-Begleitprogramms in Palästina und Israel (EAPPI). Ökumenische Begleitpersonen sind Freiwillige aus ÖRK-Mitgliedskirchen in aller Welt, die Palästinenser zu den Kontrollpunkten begleiten und Israelis zur Seite stehen, die sich der Politik ihrer Regierung widersetzen, die eher darauf abzielt, Nachbarschaften zu spalten, als miteinander zu verbinden.

Während wir durch die Straße gingen, wurden zwei der Begleitpersonen an den Kontrollpunkt zurückgerufen, um einem Palästinenser beizustehen, der Schwierigkeiten am Checkpoint hatte. Das Problem ließ sich schließlich lösen.

Die ökumenischen Begleitpersonen sind immer auf Abruf im Einsatz. Erst am Samstagabend hatten Mitglieder des Jerusalem-Teams in Ostjerusalem eine Demonstration von Palästinensern und Israelis beobachtet, die gegen die rechtswidrige Besetzung einiger palästinensischer Häuser durch israelische Siedler protestierten.

An einer T-Kreuzung standen im Licht der Straßenlampen die Demonstranten auf der einen Seite, eine Gruppe Siedler ihnen gegenüber an der Straßenecke und die Polizei an der anderen Straßenecke.

Gegen Ende der Demonstration sprang ein Demonstrant auf die Straße und schrie etwas zu den Siedlern hinüber, woraufhin sich die Polizei sofort eingreifbereit machte. Mehrere junge Männer kamen aus anderen Richtungen angelaufen, und für einen Moment drohte die Situation zu eskalieren.

Die ökumenischen Begleitpersonen beobachteten und dokumentierten die Szene mit Kameras. Sie hatten so etwas schon öfter erlebt. Die Situation beruhigte sich dann, die Gruppen zogen sich auf ihre vorherigen Stellungen zurück und gingen später nach Hause.

Aber wo waren die Leute aus der Shuhada-Straße in Hebron, die auf den Karten jetzt als "rote Linie" eingezeichnet ist, geblieben? Was ist aus der Nachbarschaft geworden? Früher war die Straße ein einziger geschäftiger Markt mit Händlern und Käufern.

"Unsere Nächsten brauchen uns, um zu lieben", sagte Tveit. "Die Religion lehrt uns, Gott zu lieben, unseren Nächsten zu lieben und uns selbst zu lieben."

Das Zeichen der Hoffnung, das Tveit in der Geschichte vom barmherzigen Samariter fand, bestand nicht darin, dass etwa über Reue berichtet wurde, die die empfanden, die an dem verwundeten Reisenden vorübergingen und ihm nicht zu Hilfe kamen. "Das wäre eine gute Geschichte", sagte er.

"Unsere mangelnde Fähigkeit zur Reue begrenzt nicht Gottes Vermögen, Liebe und Gerechtigkeit walten zu lassen", so Tveit.

Tatsache ist, dass sich die Wahrheit von Gottes Liebe und Gerechtigkeit weder durch Kontrollpunkte und die Trennung von Nachbarn, noch durch Erniedrigung und Gewalt aus der Welt schaffen lässt. Das habe das Gleichnis vom barmherzigen Samariter vor langer Zeit vor Augen geführt.



Mark Beach ist Kommunikationsdirektor des ÖRK.

Mehr Informationen über den Besuch vom 28. August bis zum 2. September (auf Englisch) unter:
http://www.oikoumene.org/index.php?RDCT=8ebbae96bd64da275a96

Fotos von dem Besuch:
http://www.oikoumene.org/index.php?RDCT=dce81aa2a73a6a0b92b9

ÖRK-Mitgliedskirchen in Palästina und Israel:
http://www.oikoumene.org/index.php?RDCT=de52f1deeb23521538b5

Ökumenisches Begleitprogramm in Palästina und Israel:
http://www.oikoumene.org/index.php?RDCT=841f63fdd987a2cce824

Die Meinungen, die in ÖRK-Features zum Ausdruck kommen, spiegeln nicht notwendigerweise die Position des ÖRK wider.


Der Ökumenische Rat der Kirchen fördert die Einheit der Christen im Glauben, Zeugnis und Dienst für eine gerechte und friedliche Welt. 1948 als ökumenische Gemeinschaft von Kirchen gegründet, gehören dem ÖRK heute mehr als 349 protestantische, orthodoxe, anglikanische und andere Kirchen an, die zusammen über 560 Millionen Christen in mehr als 110 Ländern repräsentieren. Es gibt eine enge Zusammenarbeit mit der römisch-katholischen Kirche. Der Generalsekretär des ÖRK ist Pfarrer Dr. Olav Fykse Tveit, von der (lutherischen) Kirche von Norwegen. Hauptsitz: Genf, Schweiz.


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Quelle:
Feature vom 2. September 2010
Herausgeber: Ökumenischer Rat der Kirchen (ÖRK)
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E-Mail: ka@wcc-coe.org
Internet: www.wcc-coe.org


veröffentlicht im Schattenblick zum 3. September 2010