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BERICHT/318: Der Deutsche Evangelische Kirchentag in Dresden (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion - 7/2011

Fröhlich und selbstbewusst
Der Deutsche Evangelische Kirchentag in Dresden

von Ulrich Ruh


Nach 1997 in Leipzig war es der zweite Deutsche Evangelische Kirchentag, der in den neuen Bundesländern stattfand: Anfang Juni trafen sich in Dresden fast 120.000 Menschen (acht Prozent davon waren katholisch), um zu beten, zu feiern und sich mit aktuellen kirchlichen und politisch-gesellschaftlichen Themen zu beschäftigen. Nicht zuletzt dank des prächtigen Wetters und der gastgebenden Stadt wurde der Kirchentag für Viele zum eindrucksvollen Erlebnis.


Im Sommer 1994 war der 92. Deutsche Katholikentag in Dresden zu Gast gewesen (vgl. HK, August 1994, 393 ff.). Jetzt war vom 1. bis 5. Juni der Deutsche Evangelische Kirchentag mit seiner 33. Ausgabe an der Reihe, unter dem Motto "...da wird auch dein Herz sein" (Mt 6,21). Der Dresdner Katholikentag bezog seinen Charme seinerzeit aus der allgemeinen Aufbruchstimmung nach der Wende von 1989/90, die in ihrem Tempo kaum jemand für möglich gehalten hätte, auch nicht in den Kirchen. Er spielte sich noch weitgehend in der Dresdner Stadtkulisse ab, so wie sie die DDR hinterlassen hatte, am deutlichsten sichtbar an der notdürftig gesicherten Schlossruine und den Trümmern der Frauenkirche.

Beim Kirchentag stand dagegen nicht nur die seit sechs Jahren wieder aufgebaute und seither zum Besuchermagnet gewordene Frauenkirche für Gottesdienste und Veranstaltungen zur Verfügung; auch sonst präsentierte sich die Dresdner Altstadt in etlichen Teilen als nach historischen Vorbildern rekonstruiertes Ensemble. Für den Eröffnungs- und den Schlussgottesdienst (mit Abendmahl) nutzte der Kirchentag das neustädtische Elbufer mit dem berühmten "Canaletto-Blick" auf die Altstadt zwischen katholischer Hofkirche und kürzlich wieder eröffnetem Albertinum.


Präsidentin des Dresdner Kirchentags war eine ostdeutsche Theologin: die aus Thüringen stammende EKD-Synodenpräses und Grünen-Politikerin Katrin Göring-Eckardt. Von den etwa 120 000 Dauerteilnehmern kamen immerhin über 20 000 aus der gastgebenden sächsischen Landeskirche, deren Landesbischof Jochen Bohl derzeit als Stellvertretender Ratsvorsitzender der EKD amtiert. Unter den vielen Mitwirkenden waren etliche vor allem durch ihre Rolle in der Wendezeit prominente Figuren des ostdeutschen Protestantismus, so Christian Führer, Joachim Gauck oder Friedrich Schorlemmer.


Glaubenskommunikation im säkularen Raum

In Sachsen gehört nur ein Viertel der Bevölkerung einer christlichen Kirche an, der evangelischen etwa ein Fünftel. Der Berliner systematische Theologe Wolf Krötke skizzierte in der Veranstaltung "Welt ohne Gott - Gott ohne Welt" im Rahmen des "Zentrums Muslime und Christen" nüchtern die atheistisch grundierte Konfessionslosigkeit als ostdeutschen Normalfall. Die Menschen machten sich nicht mehr die Mühe, an die Frage der Widerlegung des Gottesglaubens oder an die Begründung des Atheismus noch irgendwelchen Schweiß zu verschwenden: "Für sie ist der Glaube an Gott unter die Schwelle der Konfliktfähigkeit gesunken." Seine Generation und die seiner Kinder, so Krötke, werde sich darauf einzustellen haben, dass es auf eine nicht absehbare Zeit bei der atheistischen Konfessionslosigkeit der Menschen um sie herum bleiben werde.

Als Angebot der sächsischen Landeskirche gab es beim Kirchentag deshalb passenderweise ein Zentrum "Glaubenskommunikation im säkularen Raum", in dem ost- wie westdeutsche Akteure auf diesem schwierigen Feld zu Wort kamen. So präsentierte der Religionspädagoge Christian Kahrs von der Evangelischen Hochschule Moritzburg (bei Dresden) Ergebnisse einer Umfrage unter Jugendlichen, die ergab, dass ihnen religiöse Begriffe völlig unverständlich sind oder aber in einem ethischen Horizont gedeutet werden. Hoch interessant war auch das als Video präsentierte Interview mit einer konfessionslosen Lehrerin: Die Frau sprach von den Werten, die ihr wichtig seien und von Kirchenräumen, die ihr Stille ermöglichten. Den christlichen Heilsanspruch empfand sie als zu eng; sie orientiere sich bei ihrer Suche an Quellen aus der Philosophie oder an Buddha.


Thies Gundlach, Vizepräsident des Kirchenamtes der EKD, formulierte Thesen zum Thema "Gemeinde für außen sensibilisieren". Dabei konstatierte er eine gewisse Angleichung zwischen West- und Ostdeutschland in Bezug auf die Situation von Religion und Kirche und stellte gleichzeitig selbstkritisch die Frage: "Wollen wir wirklich Menschen für den Glauben gewinnen?" Er wandte sich gegen Machbarkeitsverheißungen im Blick auf die Werbung für den Glauben und forderte dennoch den Mut, mit dem Innersten nach draußen zu gehen und zu zeigen, was Christen berühre.

Die Einladung zum Glauben konnte auf dem Dresdner Kirchentag auch auf völlig unspektakulär-praktische Art und Weise daherkommen, so etwa im samstäglichen Morgengebet in der Kreuzkirche. Dort hörten die Gottesdienstbesucher in der kurzen Predigt eine elementare, völlig unaufdringliche Einführung in das, was christliches Beten ausmacht. Drei Strophen von Paul Gerhardts unübertrefflichem Morgenlied "Die güldne Sonne voll Freud und Wonne" ergänzten die Ansprache und vermittelten einen überzeugenden Eindruck von den Schätzen protestantischer Spiritualität, die auch in einem eigenen Forum im "Zentrum Bibel" Thema war ("Evangelische Spiritualität: Ist die Bibel dazu nötig?").


Zu den traditionellen Grundachsen der Evangelischen Kirchentage gehören die Bibelarbeiten am frühen Vormittag. Ausgelegt wurden diesmal die Seligpreisungen des Matthäusevangeliums (Mt 5,1-12), eine Passage aus den Rahmenreden des alttestamentlichen Deuteronomiums (30, 6-20) sowie ein weiterer Teil der Bergpredigt (Mt 6,19-34). Der Kirchentag bietet seit einiger Zeit neben der Lutherübersetzung auch eine nach den Kriterien der "Bibel in gerechter Sprache" erarbeitete "Kirchentagsübersetzung" der biblischen Texte an. Die erste Seligpreisung lautet in dieser Übersetzung beispielsweise: "Glückselig sind die bis ins Innerste Armen, denn ihnen gehört die gerechte Welt Gottes".


Ermutigung zur Zivilgesellschaft

Auch in Dresden waren die "Bibelarbeiter" eine bunte Mischung. Zu ihr gehörten kirchenleitende Persönlichkeiten und Universitätstheologen ebenso wie Politiker (so die nordrhein-westfälische Ministerpräsidentin Hannelore Kraft oder Bundestagspräsident Norbert Lammert) und Wirtschaftsvertreter, etwa Andreas Barner, Sprecher der Unternehmensleitung von Boehringer (er gehört dem Kirchentagspräsidium an), aber auch ausgesprochene "Exoten" wie der Kabarettist und gelernte Arzt Eckart von Hirschhausen. Neben der klassischen Textauslegung gab es auch Filmbibelarbeiten, Bibelarbeiten "zum Mittanzen", Bibelarbeiten on- und offline ("Bibel trifft Twitter"), solche zum Mitsingen und zum Mitmachen für Bläserinnen und Bläser. Der Freitagabend gehört bei Kirchentagen seit der Premiere 1979 in Nürnberg dem "Feierabendmahl", das in Dresden in vielen Kirchengemeinden quer durch die Stadt gefeiert wurde. Teilweise wurden diese Feiern auch zweisprachig gestaltet, sei es Deutsch-Lettisch, Deutsch-Slowakisch oder Deutsch-Ungarisch.

Der Lage von Dresden im Dreiländereck Deutschland-Polen-Tschechien trug der Kirchentag vor allem durch das in der Dreikönigskirche in der inneren Neustadt angesiedelte "Begegnungszentrum Mittel- und Osteuropa" Rechnung; dort wurde von den Bibelarbeiten über thematische Foren bis zum Abendgebet ein Programm unter Mitwirkung von Kirchenvertretern und Politikern aus den östlichen Nachbarländern geboten. Prominentester Sprecher aus Mittel- und Osteuropa war bei einer Veranstaltung zum Thema "Gemeinsam für Europa - auf dem Weg zu einer europäischen Bürgergesellschaft" Jerzy Karol Buzek, polnischer Protestant und derzeit Präsident des Straßburger Europaparlaments.

Buzek plädierte für eine europäische Zivilgesellschaft und erinnerte daran, dass schon in den Anfängen des Protestantismus sowohl das Ideal der aktiven Frömmigkeit wie das Ideal der Zivilgesellschaft angelegt seien. Zum Leben brauche man sowohl das Evangelium wie auch ein weltliches Recht, den Glauben und die Vernunft, den Staat wie die Kirche: "Heute ist es unser Ziel, die europäische Gemeinschaft, die von Politikern, den Vertretern der europäischen Völker, geschaffen worden ist, auch zu einem zivilgesellschaftlichen Projekt zu machen. Sodass diese Gemeinschaft nicht nur in den Institutionen, sondern auch in den Herzen und in den Köpfen und Bedürfnissen der Bürger ihren Platz einnehmen kann."


Der polnische Politiker verwies auch auf die gegenwärtigen mühsamen Veränderungsprozesse in der arabischen Welt. Die religiösen Gemeinschaften in den entsprechenden Ländern seien oft die Keimzellen der dortigen Zivilgesellschaften, genau wie es vor Jahren die Kirchen in Mittel- und Osteuropa gewesen seien. Auch Tadeusz Mazowiecki, ehemals erster nichtkommunistischer Ministerpräsident Polens, appellierte auf dem Kirchentag bei einem Gespräch unter anderem mit Lothar de Maizière über "Demokratie lernen nach dem Kommunismus" an die Länder des "Arabischen Frühlings", von den Erfahrungen Ostmitteleuropas zu lernen. Eigene Podien galten in Dresden dem demokratischen Aufbruch im Nahen Osten als Chance für die dortigen christlichen Minderheiten sowie der Zukunft der europäisch-arabischen Beziehungen.

Auch sonst kamen in Dresden aktuelle politisch-gesellschaftliche Fragen zur Sprache: Heiner Geißler konnte in einer überfüllten Veranstaltung unter anderem mit Renate Künast ("Wir sind das Volk. Chancen und Grenzen der Demokratie") über seine Erfahrungen als Schlichter beim Bahnprojekt "Stuttgart 21" berichten. Und Christine Bergmann, ehemals Bundesfamilienministerin und jetzt Unabhängige Beauftragte für Missbrauchsopfer, ließ ihre bisherigen Bemühungen in diesem Bereich Revue passieren. Ihr Fazit: "Die Arbeit geht jetzt erst richtig los. Die Aufarbeitung der Problematik des sexuellen Kindesmissbrauchs hat erst begonnen." Zu vielen Themen sei noch wenig bekannt. Jetzt müsse die konsequente Aufarbeitung der Thematik und der Fälle in den Einrichtungen selbst mit den entsprechenden Konsequenzen für weiteres Handeln folgen.

Der zweite und dritte Themenbereich, die das Programm des Kirchentags, aber auch den "Markt der Möglichkeiten" mit seiner Rekordzahl von mitwirkenden Gruppen beziehungsweise Institutionen strukturierten, waren "Gesellschaft und Politik" sowie "Welt und Umwelt" betitelt. In vieler Hinsicht bewegte sich das, was in Dresden zu den Themen aus diesen Bereichen zu hören war, im derzeitigen gesellschaftlichen "Mainstream", für den die jüngsten Wahlerfolge der "Grünen" stehen und der sich nicht zuletzt auch auf offizielle kirchliche Positionen berufen kann. Dazu gehören die Absage an einen einlinigen Wachstumsbegriff und die Suche nach einem neuen Stil des Lebens und des Wirtschaftens ebenso wie das Bekenntnis zur Verantwortung für die Umwelt und das Plädoyer für Gewaltminimierung in internationalen wie innerstaatlichen Auseinandersetzungen. Dass auf dem Kirchentag eine Resolution verabschiedet wurde, die unter anderem einen kompletten und bedingungslosen Atomausstieg bis 2017 fordert, war keine Überraschung.

Bei einer Veranstaltung im Rahmen des Zentrums "Globalisierung und Umwelt" sprach der Wiener Politikwissenschaftler Ulrich Brand von der "multiplen Krise des Kapitalismus", mit der wir es derzeit zu tun hätten. Es dürfe in Zukunft nicht zu einer Staatskrise oder zur Arbeitslosigkeit kommen, wenn die kapitalistische Wirtschaft nicht mehr wachse: "Daher sollten die ökonomischen, politischen und wissenschaftlichen Akteure und Interessengruppen, die das Wirtschaftswachstum um des Profits willen vorantreiben, geschwächt werden." Brand plädierte in der aktuellen Situation für die Stärkung von Ansätzen, "die sich gegen die kapitalistische Logik stellen".


Gegen den "Pumpkapitalismus"

Kirchentagsveteran Erhard Eppler bezeichnete in einem Vortrag als größte Gefahr des 21. Jahrhunderts den hilflosen, handlungsunfähigen, erpressbaren und schließlich zerfallenden Staat. Er machte gleichzeitig zwei Hauptaufgaben für die nächsten Jahrzehnte namhaft: Zum einen sei das die ökologische Aufgabe, das Wirtschaften nachhaltig zu machen und den Klimawandel zu bremsen; zum anderen komme es darauf an, aus einer Konkurrenzgesellschaft Zug um Zug eine solidarische Gesellschaft zu formen. Der frühere EKD-Ratsvorsitzende Wolfgang Huber geißelte in der Kreuzkirche bei der Podienreihe "Gott, Geld, Glück" den "Pumpkapitalismus unserer Zeit". Man verlasse sich auf die Zwangsmitgliedschaft auch der nächsten Generation im Staat und leite daraus das Recht ab, diese Generation in eine Kollektivhaltung für den heutigen Lebensstil zu nehmen: "Unser kollektiver Umgang mit Geld ist genauso wenig nachhaltig wie unser kollektiver Umgang mit Energie."


In den frühen achtziger Jahren waren die Kirchentage einmal ganz von den Auseinandersetzungen um das Friedenszeugnis der Kirche, um Nachrüstung und Abrüstung geprägt. Davon ist nichts mehr zu spüren; aber die Auslandseinsätze der Bundeswehr sorgen dafür, dass das Thema Friedenssicherung und militärische Gewaltanwendung auf der Tagesordnung bleibt. Verteidigungsminister Thomas de Maizière, Mitglied des Kirchentagspräsidiums und bei mehreren Veranstaltungen beteiligt, erhielt in Dresden die Nachricht von einem Sprengstoffattentat in Afghanistan, bei dem ein Soldat der Bundeswehr getötet wurde. Bei einer Veranstaltung im Zentrum "Frieden und Sicherheit" kritisierte Klaus Naumann, früherer Generalinspekteur der Bundeswehr, die unklar wirkende Haltung der Bundesregierung zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr und mahnte, ein militärischer Einsatz müsse stets von seinem Ende her gedacht werden. Im Zentrum "Lernhaus Ein Deutschland" gab Wolfgang Geffe, Friedensbeauftragter der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland, zu Protokoll, er vermisse innerhalb der Kirche eine breite theologische Diskussion über die westliche Außen- und Sicherheitspolitik.

Der Jurist Hans Michael Heinig, Leiter des Kirchenrechtlichen Instituts der EKD in Göttingen, machte in seiner Bibelarbeit über die Seligpreisungen grundsätzliche Anmerkungen zu den Grenzen ethischer Forderungen: Die Seligpreisungen böten kein Programm zur Selbsterlösung des Menschen durch ethisches Handeln. Das gelte es gerade auf einem Kirchentag in Erinnerung zu rufen, "der doch stets Gefahr läuft, dass die Akklamation kirchentagspopulistischer Forderungen zur Ersatzreligion wird". Das ethische Programm der Seligpreisungen sei vielschichtig, was seine Klugheit ausmache. Zur sprachlichen Anmut komme intellektueller Anspruch.


Kirche in der Orientierungskrise

Die evangelische Kirche in Deutschland wurde im vergangenen Jahr nicht so stark aufgewühlt wie die katholische durch die Aufdeckung von Missbrauchsfällen. Aber auch sie steckt in einer schwierigen Übergangsphase, in der wichtige Weichenstellungen in Bezug auf ihren weiteren Weg anstehen; auch hier geht es um den Stellenwert von Tradition einerseits und die Reaktion auf gesellschaftlich-kulturelle Veränderungen andererseits. Das schlug sich auch im Programm des Dresdner Kirchentags nieder, in erster Linie in Veranstaltungen des Themenbereichs 1: "Theologie und Glaube".

So wurde unter dem Titel "Keine Versöhnung ohne Opfer" über Notwendigkeit oder Schädlichkeit der traditionelle Rede vom Tod Jesu als Sühneopfer diskutiert; diese Diskussion wurde im deutschen Protestantismus vor allem durch entsprechende Thesen des Theologen Klaus-Peter Jörns virulent. Er forderte auch in Dresden vehement den Abschied von der Sühneopfertheologie, der er die Vergebung durch die in Jesus angebotene Liebe Gottes entgegensetzte. Petra Bosse-Huber, Vizepräses der Evangelischen Kirche im Rheinland, mahnte dagegen zur Vorsicht: Sie warnte davor, eine Deutung oder eine theologische Tradition als gänzlich überholt abzutun und erinnerte an die bleibende Anstößigkeit des Kreuzes Jesu. Sich ihm auszusetzen, bedeute die Konfrontation mit der Macht der Sünde in Gestalt von Tod und Gewalt, von Schmerz und Ungerechtigkeit.


Bosse-Huber hatte auch die undankbare Aufgabe, bei einer anderen Veranstaltung den vom Rat der EKD mit dem Impulspapier "Kirche der Freiheit" im Jahr 2006 angestoßenen Reformprozess angesichts der pointiert-kritischen Anmerkungen der Bochumer Praktischen Theologin Isolde Karle zu verteidigen, die das Publikum großteils auf ihrer Seite hatte. Karle hielt dem Reformpapier falsche Zielsetzungen und unrealistisch hohe Erwartungen vor und warnte vor einem kirchlichen Rückzug aus der Fläche durch eine Abwertung der "normalen" Territorialgemeinden. Entscheidend sei die Kompetenz der Kirche für Erziehung, Bildung und Lebensbegleitung; die Inhalte des Glaubens dürften nicht aus dem Blick geraten. Die zentrale Krise bestehe in der theologischen Orientierungskrise. Bosse-Huber erinnerte dagegen an die personellen und finanziellen Einbrüche, die der Kirche bevorstünden; deshalb dürfe sie sich vor den Herausforderungen nicht drücken.

Der scheidende bayerische Landesbischof Johannes Friedrich versuchte in einem Vortrag zum Thema: "Wie kann Kirche heute alle erreichen?" sozusagen die Quadratur des Kreises, in dem er beiden Seiten in der Diskussion Recht gab. Kirche müsse beides tun: "In der Ortsgemeinde den Menschen eine geistliche Heimat verschaffen, die dorthin kommen und die wir dorthin einladen können - und gleichzeitig zu möglichst vielen Orten hingehen, wo die Menschen sind." Bei Veranstaltungen des Kirchentags ging es in diesem Zusammenhang etwa um Glaubenskurse, aber auch um die Qualität von Gottesdiensten. Der Zürcher Theologe Thomas Schlag schrieb beim Forum "Welche Kirche brauchen wir?" der Kirche ins Stammbuch, statt kleiner, ärmer und älter müsse sie erkennbarer, mutiger und jugendlicher werden.

Christiane Tietz, Systematische Theologin in Mainz und im letzten Herbst in den Rat der EKD gewählt, fiel in Dresden die Aufgabe zu, das Verhältnis von glaubendem Individuum und kirchlicher Gemeinschaft in der Perspektive reformatorischer Theologie zu klären. Sie insistierte darauf, dass beides letztlich nicht voneinander zu trennen sei: "Nicht ist zuerst hier das religiöse Individuum, das sich fragt, was ihm an der Kirche nützlich ist, und dort die Kirche, von der eventuell Nutzen für die eigene Religiosität erwartet wird. Sondern glaubendes Individuum und Kirche sind immer schon miteinander verbunden."

Christlichen Glauben, so Tietz, gebe es, weil es die Kirche gebe, weil in ihr das Evangelium in Wort und Sakrament zu hören und zu sehen sei. Und weiter: Die verborgene Kirche als die Verbundenheit durch den Glauben sei nichts, was sich jenseits der sichtbaren Kirche abspiele: "Die verborgene Kirche ist verborgen in der sichtbaren Kirche." Zum Kirchentag zu kommen, sei eine Form, die Verbundenheit im Glauben in sichtbarer Weise zu leben.

Von der evangelische Kirche als Institution, ihren Erneuerungsmöglichkeiten und Zukunftschancen war beim Kirchentag in Dresden häufig die Rede. Dagegen spielte das konfessionelle Profil des Protestantismus als Thema kaum eine Rolle. Protestantismus wurde in seiner ganzen Bandbreite auf dem Kirchentag zwar gelebt, aber nicht eigentlich reflektiert. Das für 2017 bevorstehende Reformationsjubiläum hat sich in Dresden noch nicht niedergeschlagen - das könnte sich bei den nächsten Kirchentagen (2013 in Hamburg und 2015 in Stuttgart) ändern.


Ökumene blieb weitgehend ausgeblendet

Wichtiger als Inhalte waren auch in Dresden letztlich Personen: Der November 2010 von Synode und Kirchenkonferenz der EKD gewählte und vorher schon fast ein Jahr amtierende Ratsvorsitzende Nikolaus Schneider machte beim Kirchentag durchweg eine gute Figur, gleich bei welchem Anlass er auftrat. Dem sächsischen Landesbischof Bohl war bis in die abschließende Pressekonferenz die Freude über den gelungenen Kirchentag in "seiner" Landeskirche und "seinem" Dresden anzumerken; ob vom Kirchentag die erhofften Impulse für die Kirche in Sachsen und ihre öffentliche Präsenz ausgehen, muss sich natürlich erst noch zeigen. Unbestrittener Star des Kirchentags war wie schon beim zweiten Ökumenischen Kirchentag 2010 in München die ehemalige EKD-Ratsvorsitzende und hannoversche Landesbischöfin Margot Käßmann. Sie absolvierte in drei Tagen nicht weniger als acht Auftritte und wurde von den Kirchentagsbesuchern in jeweils überfüllten Veranstaltungen gefeiert. Sie hat nach wie vor ihre "Gemeinde", die ihr Glaubwürdigkeit attestiert und begierig an ihren Lippen hängt.


Präsent war in Dresden im Jahr Eins nach dem ÖKT natürlich auch die katholische Kirche. Das galt nicht nur für den Ortsbischof Joachim Reinelt von Dresden-Meißen und andere Vertreter des Bistums, sondern auch für das nationale Spitzenpersonal: ZdK-Präsident Alois Glück war den ganzen Kirchentag hindurch anwesend und hielt unter anderem eine Bibelarbeit; der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Robert Zollitsch von Freiburg, wirkte ebenfalls als "Bibelarbeiter" mit und bestritt mit Nikolaus Schneider und dem griechisch-orthodoxen Metropoliten Augoustinos ein Podium zum Thema "Alternativlos: Ökumene". Erzbischof Zollitsch konnte dabei auf sympathische Weise deutlich machen, wie sehr ihm die Ökumene gerade in ihrer evangelisch-katholischen Spielart am Herzen liegt. Er geriet aber bei den Themen Frauenordination und eucharistische Gastfreundschaft erkennbar ins Schleudern - angesichts der mangelnden Plausibilität der offiziellen katholischen Position auch kein Wunder.

Insgesamt blieb die evangelisch-katholische Ökumene im Programm des Kirchentags diesmal unterbelichtet. Es gab keine Foren zu klassischen theologischen Kontroversthemen und auch keine größeren Veranstaltungen zur praktischen Zusammenarbeit zwischen katholischer und evangelischer Kirche. Gerade einem fröhlich-selbstbewussten Protestantismus, wie er sich in Dresden präsentierte, hätte es gut angestanden, dem ehrlichen Austausch mit dem katholischen Partner mehr Raum zu geben, zum Nutzen für beide Seiten.


Ulrich Ruh, Dr. theol., geboren 1950 in Elzach (Schwarzwald). Studium der Katholischen Theologie und Germanistik in Freiburg und Tübingen. 1974-1979 Wiss. Assistent bei Prof. Karl Lehmann in Freiburg. 1979 Promotion. Seit 1979 Redakteur der Herder Korrespondenz; seit 1991 Chefredakteur.

ruh@herder.de


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
65. Jahrgang, Heft 7, Juli 2011, S. 343-347
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. August 2011