Schattenblick →INFOPOOL →RELIGION → CHRISTENTUM

BERICHT/325: Das alte Phänomen Fasten ist immer noch aktuell (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion - 7/2012

Nicht bloßer Selbstzweck
Das alte Phänomen Fasten ist immer noch aktuell

Von Judith Könemann



Fasten, ob mit und ohne religiös-kirchlichem Hintergrund ist hoch aktuell. War Fasten früher zutiefst mit der jeweiligen religiösen Tradition verbunden und durch einen expliziten Transzendenzbezug gekennzeichnet, stehen heute eher selbstreflexive Momente im Vordergrund. Aus christlicher Perspektive darf Fasten jedoch nie zum bloßen Selbstzweck werden.


"'Esel öffnen einem das Herz. Sie berühren den Menschen, weil sie noch so ursprünglich und nicht hochgezüchtet sind.' Die Künstlerin und Kreativtrainerin setzt (...) beim Fasten auf die freundlichen Grautiere: Ab dem Frühjahr bieten sie (...) geführte Esel-Fastenwanderungen als Wochenprogramm an. Das Konzept vereint das entspannende Wandern in tierischer Begleitung mit der reinigenden Wirkung des Fastens." So wird auf einer Homepage zum Thema "Fasten" für einen Fastenwanderkurs geworben.

Fasten ist hochaktuell, nicht nur die Zeitungen und Rundfunkanstalten bringen jährlich wiederkehrend zu Beginn der österlichen Bußzeit Berichte über Fasten und darüber, was Menschen fasten, worauf sie also für einen gewissen Zeitraum verzichten. Dies geschieht gern mit dem Verweis darauf, dass mit dem Aschermittwoch für die Christen die Fastenzeit beginnt und Fasten ursprünglich einen religiösen Ursprung hat.

Auch der Blick in die Veranstaltungsprogramme von Bildungseinrichtungen oder in die Internetsuchmaschine "Google" macht die Aktualität des Themas deutlich. Unüberschaubar sind die Einträge zum Stichwort "Fasten". "Fasten katholisch" macht immer noch 783.000 Einträge aus und auch "Fasten evangelisch" trotz der historisch bedingten, doch eher kritischen Haltung der evangelischen Christen gegenüber dem Fasten führt zu immerhin 440.000 Treffern. Ausführlich widmet sich die offizielle Website "katholisch.de" dem Thema mit fast zahllosen Informationen zum Fasten an sich und seiner (christlichen) Tradition, mit eigenen Internetexerzitien zum Fasten (www.katholisch.de/internetexerzitien.html, 21.04.2012), aber ebenso mit Verweisen auf zahlreiche Fastenbegleiter, wie etwa den Wandkalender "Mein Fasten ZeitMaß" oder Bücher wie beispielsweise "Mein FastenzeitZeitfächer".

Die Homepage bietet auch verschiedenste Möglichkeiten, das Thema weiter zu vertiefen, beispielsweise "Starkbier und Schokolade. Was bedeutet Fastenzeit und was ist in ihr erlaubt?" Oder: "Leerer Magen, freudiges Gesicht. In den deutschen Klöstern fasten Mönche und Nonnen maßvoll und beschwingt", "'Frühjahrsputz der Seele'. Benediktinerpater Anselm Grün im Gespräch über die Fastenzeit." Dabei berichtet Anselm Grün darüber, wie er fastet und auf was er in der vorösterlichen Fastenzeit verzichtet; vor allem aber gibt er Tipps zum Selberfasten.

Über "katholisch.de" gelangt man zur klassischen Fastenaktion des bischöflichen Hilfswerkes Misereor, aber auch zum "Autofasten", eine Aktion, die durch die Beteiligung der unterschiedlichen Akteure auffällt, neben verschiedenen Bistümern, einer evangelischen Landeskirche und dem Rat der christlichen Kirchen unterstützen verschiedene Energie- und Umweltministerien sowie die Umwelt- und Verkehrsverbände BUND, NABU, VCD und ADFC die Aktion. Man gelangt auch zum "SMS-Fasten", einem Angebot von "Kirche TV", einer Website der katholischen Fernseharbeit; dabei geht es beim SMS-Fasten nicht - wie man meinen könnte - um eine Enthaltsamkeit bei den Handy-Kurznachrichten, sondern darum, zu unterschiedlichen Zeiten am Tag während der Fastenzeit eine "Fasten-SMS" zu erhalten, gedacht als Unterbrechung des Alltags, angelehnt an den Fastenruf "Kehrt um!" (www.kirche.tv/Default.aspx?tabid=181, 21.04.2012). "katholisch.de" verweist aber auch (über den Link gesundheitliches und spirituelles Fasten) auf die Homepage "fastenfueralle" mit Angeboten zum mehrtätigen Fasten in Gruppen, beispielsweise auf Mallorca, oder auf das "Fasten und Kräuterwandern", das "Pernegger Frühlingsfasten" oder auch das "Samariterfasten" des Samariterwerks in Hörstel, das sich mit zwei weiteren Fastenzentren zu den "katholischen Fastenzentren" zusammengeschlossen hat. (www.fastenfueralle.com/ 21.04.2012)

Nicht zuletzt findet sich bei "katholisch.de" auch ein Hinweis auf die Fastenaktion der evangelischen Kirche "7-Wochen-ohne", 2012 mit dem Thema: "Gut genug. Sieben Wochen ohne falschen Ehrgeiz" (www.7wochenohne.evangelisch.de/ 21.04.2012). Per Internet kann man sich an dieser Aktion beteiligen und sich entweder als Einzelfaster oder als Fastengruppe auf der Deutschlandkarte als Teilnehmer oder Teilnehmerin eintragen und dem Gesamtmotto wie auch den einzelnen Motti der sieben Fastenwochen folgen.


Selbstreflexive Momente stehen im Vordergrund

Fasten, ob mit und ohne religiös-kirchlichen Hintergrund, ist und bleibt also aktuell, verändert haben sich allerdings die "Gegenstände" des Fastens: Bezieht sich die Praxis des Fastens auch weiterhin auf Nahrung und, wenn auch heute weniger, auf Sexualität, so ist doch das klassische Nahrungsfasten in den vergangenen Jahrzehnten deutlich ergänzt worden. Im Vordergrund stehen neben den immer noch häufig gefasteten Genussmitteln die modernen Kommunikationsmedien und -mittel (Internet, Handy, SMS), aber auch Haltungen, die individuell als einschränkend erlebt werden.

Heutiges Fasten ist auf eine gewisse Weise der Tradition des Fastens ganz nah und gleichzeitig auch sehr weit davon entfernt. Verschoben hat sich der zentrale Fokus modernen Fastens. War Fasten in der traditionellen Form zutiefst mit der jeweiligen religiösen Tradition, in der es aufkam, verbunden und dabei durch einen expliziten Transzendenzbezug gekennzeichnet, so hat sich einerseits modernes Fasten von diesen Traditionen teilweise entfernt und stehen andererseits heute eher selbstreflexive Momente des Fastens im Vordergrund.

Unter Fasten wird gemeinhin die völlige Enthaltung von Speise und Trank, vielfach auch von Sexualität aus kultischen Gründen verstanden (vgl. etwa den Artikel "Fasten" in "Die Religion in Geschichte und Gegenwart", Band 3, 42). Ziel des Fastens ist es, über einen partiellen Stillstand der körperlichen Funktionen einen Zustand der Leere und Nüchternheit zu erreichen. Das asketische Ideal besteht darin, keine physischen Bedürfnisse zu haben und alle körperlichen Wünsche und Begierden zu überwinden, um für das Transzendente, das Göttliche bereit zu sein. Fasten geht somit von der Tradition her immer mit Religiösem beziehungsweise Religion einher und ist ein Phänomen, das nicht nur die so genannten Weltreligionen kennen.

Die Religionsgeschichte zeigt viele Fastengründe, religionsgeschichtlich steht das "apotropäisch-kathartische" Motiv des Fastens im Vordergrund, besser bekannt unter dem Begriff des Reinigungsfastens. Hierbei geht es vor allem um den Schutz vor Dämonen beziehungsweise die Aufrechterhaltung oder Wiedererlangung der kultischen Reinheit. Ein weiteres Motiv ist Fasten als Vorbereitungsritus, beispielsweise das Fasten des Jägers vor der Jagd. Klassisch ist auch ein Fasten vor Lebensübergängen, beispielsweise vor der Hochzeit oder vor der Geburt des Kindes. Neue Lebensabschnitte werden vielfach mit einem Fasten vorbereitet. Das so genannte Initiationsfasten bezieht sich beispielsweise auf das vorbereitende Fasten vor der Taufe oder vor der Priesterweihe; es ist aber keineswegs auf das Christentum beschränkt. Sich mittels Fasten in einen ekstatischen Zustand zu versetzen, um mit dem Numinosen, beispielsweise mit einer Gottheit in Kontakt treten zu können, ist ein weiteres Motiv für das Fasten. So fastet beispielsweise der Schamane, um sich magische Kräfte anzueignen, mit denen er die Gottheit besser beeinflussen kann.

Neben diesen Formen gibt es zudem das prophetische Fasten, das für den Empfang von Offenbarungen, Orakeln und Ähnlichem disponieren soll. In einer ethischen Dimension steht vielfach das Fasten als Buße und Sühneleistung wie auch als Opferersatz im Vordergrund. Hier wird der ursprünglich reinigende Vorgang des Fastens mit einer durch die Buße beziehungsweise Sühnung einer Schuld zu erlangenden rechtfertigenden Motivation versehen. Fasten wird so auch zu einer angemessenen Form des Sündenbekenntnisses (1 Sam 7,6), so dass ein so genanntes Bußfasten im jüdisch-christlichen Zusammenhang auch die Konnotation eines "Bonum Opus", eines guten Werkes erhält. In diesem ethischen Kontext ist auch die karitative Dimension des Fastens zu verorten, das heißt das Ziel, das durch das Fasten Gesparte karitativen Zwecken zur Verfügung zu stellen. Schließlich sei noch die auch religionsgeschichtlich belegte Praxis des (kultischen) "Trauerfastens" erwähnt, in dessen Mittelpunkt zum einen die Verweigerung von Nahrung steht, zum anderen jedoch auch andere so genannte "Minderungsriten" wie das Tragen von Trauergewändern oder das Zerreißen des Gewandes.


Fasten als Form der Solidarität

Die monotheistischen Religionen kennen festgelegte Fastenperioden, die in engem Zusammenhang mit ihren jeweiligen religiösen Traditionen stehen: das Judentum das Fasten an Jom Kippur (am Versöhnungstag), der Islam den Ramadan als im Jahr wechselnde Zeit des Fastens, das (katholische) Christentum neben den Freitagen im Jahr als regelmäßige Bußtage den Aschermittwoch und Karfreitag sowie die österliche Bußzeit (Codex Iuris Canonici [CIC], Can. 1250) als besondere Fastenzeiten. Der Protestantismus ist bezüglich des Fastens einen etwas anderen Weg gegangen. Luther lehnte das Fasten nicht als solches ab, verwehrte sich aber gegen die zunehmende Festlegung und kasuistische Verrechtlichung im Mittelalter. Das Fasten sollte freiwillig sein, zumal es als Bändigung der Begierden nicht tauge.

In der offiziellen katholischen Lehre steht der Buß- und Sühneaspekt des Fastens (Fasten als Sühneleistung für die eigenen Sünden und als Ausdruck der Teilhabe am Opfertod Jesu am Kreuz) im Zentrum. So spricht beispielsweise der CIC von der "österlichen Bußzeit" und bezeichnet den Karfreitag als Bußtag. In der Praxis wird jedoch vielfach auf den alt- wie neutestamentlich belegten Zusammenhang von Fasten und Almosenspenden zurückgegriffen und damit eine soziale und politische Dimension des Fastens betont: Fasten wird als Form der Solidarität, der Teilhabe am Schicksal der anderen betrachtet, womit es sich im Übrigen wieder mit der traditionellen Auslegung der Teilhabe am Opfertod Jesu verbindet.


Dispersion des Religiösen

Die Tradition unterscheidet beim Fasten zwischen der völligen Enthaltung von Nahrung (ieiunium) und der Enthaltung von bestimmten Lebensmitteln (abstinentia), besonders von Fleisch, das lange als ein teures Genussmittel galt und das sich nur wenige leisten konnten, und eventuell noch von Milch- und Eierprodukten. An diese grundsätzliche Unterscheidung knüpfen viele moderne Fastenformen an, was zu unterschiedlichen Methoden des Fastens führt (Heilfasten, Gemüsefasten, Schrotkur und anderes). Insbesondere besinnt sich das moderne Fasten auf die medizinischen Aspekte des Fastens, von denen vor allem die Entschlackung und Reinigung im Vordergrund stehen. Gleichzeitig verbinden sich im modernen Fasten gesundheitliche Aspekte wie das Abnehmen und die Entschlackung mit spirituellen Formen. Auf diese Weise wird nicht die religiöse, wohl aber die spirituelle Dimension des Fastens betont.

Neben die klassischen Fastengegenstände ist offensichtlich alles getreten, was Menschen als einschränkend erleben, seien es die Flut an SMS oder ihr Drang nach Karriere. Ursprünglich wurde mit dem Fasten auf Lebensnotwendiges (Nahrung und Sexualität) verzichtet, auch heute verzichten Menschen temporär auf das, was ihnen individuell offensichtlich als lebensnotwendig (SMS, Karriere) erscheint. Insofern hat sich das Fasten nicht nur pluralisiert, es hat sich auch hochgradig individualisiert.

Zugleich hat sich Fasten jedoch in der Verschiebung von religiösen Begründungsgängen hin zu einer Betonung der spirituellen Dimension stark säkularisiert, was ein Blick auf die Motive des Fastens belegt: Begründungen für die Praxis des Fastens mit Rekurs auf die traditionell religiöse Dimension sind selten, kaum noch wird auf den Gedanken des Fastens als Buß- und Sühneleistung oder einer solidarischen Teilhabe am Kreuzestod Christi, auf die kirchliche Lehre überhaupt Bezug genommen. In säkularisierter Form erhalten ist der Aspekt des "Purgatoriums", der Reinigung, der gerade durch die medizinischen Aspekte hervorgehoben wird und dabei gleichzeitig als innere Reinigung spiritualisiert wird.

Die hochgradige Individualisierung zeigt sich auch in den veränderten Motivlagen für das Fasten beziehungsweise der Einführung des so genannten Heilfastens in den kirchlichen Raum. Stand in den achtziger Jahren noch stark der Solidaritäts- und Gerechtigkeitsaspekt als Motiv im Vordergrund, im Sinne des "Fasten für", so veränderte sich diese Motivlage in den neunziger Jahren stärker zu Motiven, die im Fasten einen Beitrag zur eigenen körperlichen wie geistig-seelischen Gesundheit sahen, zu dem vielfach auch eine vegetarische Ernährung gehörte. Mit veränderter Motivlage und der Verlagerung von einer religiösen zu einer spirituellen Motivlage fanden auch immer mehr Versatzstücke anderer, vor allem östlicher Religionen Berücksichtigung. Aber auch Ansätze, die sowohl eine profane wie auch eine spirituelle Seite beinhalten, spielten zunehmend eine Rolle: so beispielsweise Ayurveda, Reiki oder Yoga.

Mit dieser Entwicklung näherte sich das Fasten immer mehr dem Wellnessgedanken an, und so wird es denn auch seit einigen Jahren stark von der Wellnessbewegung rezipiert. Gehörten Fasten und Wandern, weil Bewegung genuiner Bestandteil des Heilfastens ist, schon lange zusammen, wird es aktuell auch mit Pilgern verbunden. Sowohl die Anlagerung an die Wellnessbewegung als auch an den gegenwärtigen Boom des Pilgerns sind jedoch nicht nur Zeichen der Spiritualisierung, sondern können gleichzeitig als Zeichen der Säkularisierung gelesen werden, insofern Fasten hier - entsprechend der These Hans-Joachims Höhns von der "Dispersion des Religiösen" - in gesellschaftlich-kulturelle Bestände hinein verflüssigt und so der genuin religiösen Dimensionierung entledigt wird.

Dieser Prozess findet seine Entsprechung auf der Ebene des Individuums: Stand traditionell die Überwindung der physischen Bedürfnisse und Begierden im Mittelpunkt, um für das Transzendente, das Göttliche bereit zu sein, geht nun die Spiritualisierung des Fastens mit einer hohen Selbstreflexivität einher, in der vor allem das Individuum und die Befreiung von seinen Beschränkungen im Mittelpunkt stehen. In den Hintergrund getreten ist damit die soziale und politische Dimension des Fastens mit ihrer deutlichen Ausrichtung auf den anderen.


Modernes Fasten ist kein Opfer mehr

Kirchen als religiöse Akteure, zu deren Tradition das Fasten wesentlich gehört, und nicht religiöse, aber spirituell aufgeladene Bewegungen, wie beispielsweise die Wellnessbewegung, greifen somit wechselseitig auf ihre jeweiligen Stärken zurück. Das nicht-religiöse Feld macht viele Anleihen bei den verschiedenen religiösen und spirituellen Traditionen. Auf dem Wege der Integration werden diese ihrer historischen Konkretion und Bindung an die konkrete religiöse Tradition entledigt und in das eigene System eingefügt.

Gleichzeitig macht die Verflüssigung des Religiösen ins Spirituelle auch vor den Kirchen und ihren praktizierenden Mitgliedern nicht Halt, sodass auch die Kirchen der beschriebenen Individualisierung folgen und mit ihren Hinweisen und Erläuterungen zum Fasten fast durchgängig bei den auf das Subjekt bezogenen Chancen des Fastens ansetzen: "mit sich ins Reine zu kommen", "Chance zur Erneuerung und Entdeckung der eigenen Schattenseiten", "wir kämpfen im Fasten nicht gegen uns selbst, sondern gegen die Feinde der Seele". Erst im zweiten Schritt wird dann der Transzendenz- und Gottesbezug genannt. Verschwunden ist auch auf kirchlichen Homepages der Sühne- und Opfercharakter des Fastens, den Generationen von Christen so gut kennen beziehungsweise kannten. Modernes Fasten ist vieles, aber sicher kein Opfer mehr. So sind das nicht-religiöse und das religiöse Feld gerade auch hinsichtlich der Praxis des Fastens dialektisch aufeinander bezogen.


Barmherzigkeit, nicht Opfer

Dass das Fasten Modernisierungsprozessen unterworfen ist, muss aus theologischer Sicht nicht primär negativ beurteilt werden. Den Wegfall des Opfergedankens oder des Buß- und Sühnecharakters des Fastens und die damit verknüpfte Absage an alle Praxen der Werkgerechtigkeit wird man nicht unbedingt als Verlust ansehen. Im Gegenteil hat die Kritik belasteter beziehungsweise prekärer Traditionen kirchlicher Praxis positive Auswirkungen auch auf das Verständnis des Fastens, gerade im Blick auf die Ausweitung der "Fastengegenstände" und der Motivationen für das Fasten, insbesondere die Weitung auf Haltungen und ethische Praxen wie etwa das Solidaritätshandeln.

Genau besehen entspricht dies auch dem biblischen Verständnis des Fastens, so beispielsweise im Buch Jesaja: "Ist das ein Fasten, wie ich es liebe (...), wenn man den Kopf hängen lässt, so wie eine Binse sich neigt, wenn man sich mit Sack und Asche bedeckt? (...) Nein, das ist ein Fasten, wie ich es liebe: die Fesseln des Unrechts zu lösen, die Stricke des Jochs zu entfernen, die Versklavten freizulassen, jedes Joch zu zerbrechen, an die Hungrigen dein Brot auszuteilen, die obdachlosen Armen ins Haus aufzunehmen, wenn du einen Nackten siehst, ihn zu bekleiden und dich deinen Verwandten nicht zu entziehen." (Jes 58,5-7). Mit Bezug auf das Buch Hosea (6,6) heißt es im Matthäusevangelium (9,13): "Denn lernt, was es heißt: Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer."

Auch der Ansatzpunkt beim religiösen Subjekt, seiner Erfahrung und seiner Selbstreflexion ist durchaus eine Errungenschaft moderner Glaubenspraxis entsprechend der "anthropologischen Wende", die die katholische Theologie des 20. Jahrhunderts vollzogen und die auch das Zweite Vatikanum entscheidend geprägt hat. So gesehen ist es konsequent, wenn auch kirchliche Fastenangebote gezielt beim einzelnen Subjekt und seinen Bedürfnissen und Erfahrungen ansetzen.

Zugleich gilt es aber aus christlicher Perspektive gerade angesichts der hohen selbstreflexiven Bedeutung, die dem Fasten heute zukommt, die Inhalte dieser Praxis nicht zu sehr in den Hintergrund treten zu lassen: Für Christinnen und Christen ist Fasten kein bloßer Selbstzweck und dient auch nicht nur zur Beförderung des eigenen guten Lebens. Vielmehr ist es zum einen stets als Teil diakonischer Praxis als Praxis der Nachfolge Jesu zu verstehen - entsprechend dem oben genannten Fastenverständnis der Bibel, und es ist im Blick auf konkrete Fastenangebote zentral und nicht quasi erst nachträglich auf den ursprünglichen Transzendenz- und Gottesbezug zu verweisen, der dem christlichen Verständnis des Fastens entspricht. Erst dann wird auch die entscheidende Differenz zwischen religiösen und nicht-religiösen Fastenangeboten deutlich und so auch ein profiliertes christliches beziehungsweise kirchliches Angebot auf dem "Markt der Möglichkeiten" erkennbar - entgegen den Trends zur Verflüssigung des Religiösen - ob mit oder ohne Esel ....


Die Theologin und Religionssoziologin Judith Könemann (geb. 1962) ist seit 2009 Professorin für Religionspädagogik an der Katholisch-Theologischen Fakultät in Münster und Mitglied im Exzellenzcluster Religion und Politik mit einem Projekt zur Partizipation religiöser Akteure in der Öffentlichkeit. Zuvor war sie von 2005 bis 2009 Direktorin des Schweizerischen Pastoralsoziologischen Institut (SPI) in St. Gallen und in der Diözese Osnabrück tätig.

*

Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
66. Jahrgang, Heft 7, Juli 2012, S. 364-368
Anschrift der Redaktion:
Hermann-Herder-Straße 4, 79104 Freiburg i.Br.
Telefon: 0761/27 17-388
Telefax: 0761/27 17-488
E-Mail: herderkorrespondenz@herder.de
www.herder-korrespondenz.de
 
Die "Herder Korrespondenz" erscheint monatlich.
Heftpreis im Abonnement 10,29 Euro.
Das Einzelheft kostet 12,00 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Oktober 2012