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FORSCHUNG/035: Ambivalenz des Gebens (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion 6/2009


Ambivalenz des Gebens
Das Phänomen der Gabe aus philosophischer und theologischer Perspektive

Von Veronika Hoffmann

Die Phänomene Geben und Empfangen, Schenken, Tauschen und Spenden rücken zunehmend in das Blickfeld philosophischer und sozialwissenschaftlicher Debatten. Die Affinität der Theologie zu diesen Fragestellungen bedeutet, dass sie ein hohes Maß an eigenem Sachverstand in den interdisziplinären Diskurs einbringen könnte.


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"P.S. Mir scheint übrigens, unser Diskussionsthema spielt zunehmend eine zentrale Rolle." - So Alain Caillé an seinen Kollegen Marcel Hénaff im Jahr 2002. Hénaff und Caillé korrespondierten über das Thema der Gabe, und Caillé beobachtete einen deutlichen Anstieg der Zahl der diesbezüglichen Veröffentlichungen. Was für zwei französische Sozialwissenschaftler 2002 bereits deutlich zu sehen war, hat inzwischen auch in anderen Sprachräumen und Disziplinen begonnen, Fuß zu fassen: Fragen nach den Phänomenen von Geben und Empfangen, Schenken, Tauschen und Spenden, Zurückgeben und Weitergeben rücken zunehmend in das Blickfeld eines Diskurses, der sozialwissenschaftliche und philosophische, aber auch ethnologische, historische und politikwissenschaftliche Forschungen umfasst und verbindet.

Auch für die Theologie ist dieses sich neu entwickelnde Forschungsfeld von erheblichem Interesse - spricht sie doch sehr selbstverständlich zum Beispiel von den Gaben der Schöpfung, den Gaben des Geistes und dem Geist als Gabe, von "Gabe und Aufgabe" etc. Freilich ist nicht selten eben diese Selbstverständlichkeit ein Problem, weil damit so getan wird, als sei der Begriff der "Gabe" nicht weiter erklärungsbedürftig. Dabei lohnt es sich, hier genauer hinzuschauen: Die Theologie kann dabei einiges vom außertheologischen Diskurs lernen. Die gewissermaßen natürliche Affinität der Theologie zu den Fragestellungen rund um die Gabe bedeutet freilich auch, dass sie auf einer Reihe von Arbeitsfeldern ein hohes Maß an eigener Expertise in den interdisziplinären Diskurs einbringen könnte.


Ist Geben eine Form des Tauschens?

Aus der enormen Vielschichtigkeit der Debatte um die Gabe ragen einige Fragestellungen deutlich heraus. So beispielsweise diejenige, ob der Vorgang des Gebens grundlegend als ein einseitiger oder als ein wechselseitiger zu beschreiben sei. Ist die Reaktion des Empfängers, sein Dank, seine Gegen-Gabe, integraler Bestandteil des Gabeprozesses? Ist gar davon auszugehen, dass die erste Gabe bereits auf diese zweite abzielt? Oder verdient im Gegenteil nur eine solche Gabe diesen Namen, die der Geber völlig ohne Eigeninteresse gibt, ohne die Erwartung, seinerseits etwas zu erhalten oder mit der Gabe zu bewirken?

Solche Fragen entscheiden sich auch daran, ob man eher die gegebenen Dinge oder den Vorgang des Gebens in den Mittelpunkt rückt. Ist Geben eine Form des Tauschens, bei dem zwei Objekte in entgegengesetzter Richtung ihre Besitzer wechseln - und müssen diese Objekte gleichwertig sein? Oder ist es ein sozialer Vorgang, bei dem die gegebenen Güter nicht in erster Linie der Befriedigung von Bedürfnissen dienen, sondern beispielsweise Anerkennung, Gemeinschaft, Über- und Unterordnung symbolisieren?

Schließlich wird gegenüber einem idealisierten Begriff der reinen Gabe zunehmend die Ambivalenz des Gebens ins Feld geführt: Ist eine Gabe immer gut oder gibt es auch schlechte Gaben - Gaben beispielsweise, die Macht ausüben, den anderen klein machen oder abhängig halten sollen?

Einen Referenzpunkt der Debatte, auf den sich fast alle Forscher in der einen oder anderen Weise beziehen, bildet das 1924/25 erstmalig erschienene Werk "Die Gabe. Form und Funktion des Austausches in archaischen Gesellschaften" des französischen Soziologen und Ethnologen Marcel Mauss (2. Aufl., Frankfurt 1994). Mauss beobachtet in den Gabepraktiken archaischer Gesellschaften eine scheinbare Widersprüchlichkeit zwischen der offensichtlichen Freiwilligkeit der Gabe und der Tatsache, dass sie dennoch mit einer Form von Verpflichtung einherzugehen scheint: Gabepraktiken werden deutlich von solchen des ökonomischen Tauschens unterschieden - es handelt sich also nicht um Formen "archaischer Ökonomie". Und doch fordert eine gegebene Gabe immer eine Gegen-Gabe. Die Weigerung, in einen solchen Gabezirkel einzutreten, bedeutet die Verweigerung von Gemeinschaft und kann deshalb einer Kriegserklärung gleichkommen. Denn die ritualisierten, öffentlichen Gestalten des Gebens erzeugen und sichern die Verbindung zwischen den Individuen einer Gruppe. Zugleich symbolisieren sie auch die Beziehung der Menschen zur Natur, den Toten und den Göttern. Die Gabe umfasst und integriert alle Dimensionen des sozialen Lebens und alle Institutionen: Religion, Recht, Ökonomie, Verwandtschaft etc., und spielt eine entscheidende Rolle für die Identität und das Funktionieren des Gemeinschaftswesens.

Ihre enorme Bedeutung erlangt Mauss' Studie aber nicht zuletzt daher, dass er von diesen ethnologisch orientierten Beobachtungen aus und über sie hinaus zu der Auffassung gelangt, dass es sich bei der Gabe um ein universales Phänomen handle: Wenn sie auch in modernen Gesellschaften nicht mehr dieselbe öffentliche Rolle spiele wie in traditionellen, so lebe sie doch in weniger sichtbaren, aber für das Zusammenleben dennoch bedeutsamen Formen fort.

Mauss' ethnologische Beobachtungen wurden vielfach ergänzt und weitergeführt. So lenkte Annette Weiner nicht nur den Blick auf die Bedeutung der Geschlechterrollen in den Gabesystemen bestimmter archaischer Kulturen, sondern rückte auch ins Bewusstsein, dass es neben der Ordnung der Gabe noch eine andere gibt: die derjenigen Dinge, die man nicht gibt, sondern sorgfältig innerhalb der Gruppe bewahrt. Bei den Römern hießen solche unveräußerlichen Besitztümer, die genauso universal sind wie das Konzept des Gabentausches selbst, "sacra", und es scheint, dass sie in allen Gesellschaften mehr oder weniger deutlich als Gaben der Ahnen oder der Schutzgöttern der Gemeinschaft verstanden wurden.


Das Phänomen der Unveräußerlichkeit gibt es auch in
hochentwickelten Gesellschaften

Auf Mauss wie auf Weiner stützt sich Maurice Godelier, wenn er genauer die Rolle jener Dinge beobachtet, die gerade nicht gegeben werden (Das Rätsel der Gabe. Geld, Geschenke, heilige Objekte, München 1999). Sie bilden die Grundlage, gewissermaßen die ruhenden Pfeiler der Gesellschaft und ermöglichen überhaupt erst die Gabezirkel, aus denen die Gesellschaft Leben und Identität bezieht. Als die ursprünglichen Gaben der Götter an die Gesellschaft, die bewahrt werden müssen, repräsentieren diese heiligen Objekte die göttliche Macht, verweisen die Menschen auf den Ursprung der Dinge und bezeugen die Legitimität der kosmischen und der gesellschaftlichen Ordnung.

Und wenn Godelier auch die Götter religionskritisch als Doppelgänger der Menschen entlarvt, weist er dennoch selbst darauf hin, dass es dieses Phänomen der Verwiesenheit und Unveräußerlichkeit auch in unserer hochentwickelten kapitalistischen Gesellschaft noch gibt. So betrachten wir beispielsweise die Demokratie als unveräußerlich; und wir alle haben unser Leben grundlegend nicht gemacht, getauscht oder gekauft, sondern empfangen.

Über die Grenzen der anthropologischen und ethnologischen Forschung hinausgetragen wurde der Diskurs über die Gabe zunächst vor allem durch entsprechende Arbeiten der beiden französischen Philosophen Jacques Derrida und Jean-Luc Marion.

Einem vielzitierten Diktum Derridas zufolge hat Marcel Mauss in seinem Werk in Wirklichkeit gar nicht von der Gabe gehandelt. Denn, so Derrida, eine echte Gabe wäre nur möglich in totaler Einseitigkeit, in der jede Vermischung mit dem Tausch ausgeschlossen ist (Falschgeld, München 1993). Sie müsste unbedingt gegeben werden: nicht aufgrund von etwas, das der Empfänger getan hat, und nicht in der Erwartung einer Gegengabe. Damit das der Fall ist, dürften aber der Gebende nicht als Gebender, der Empfangende nicht als Empfangender und die Gabe nicht als Gabe erkennbar sein.

Umgekehrt ist nichts, was als Gabe gegeben oder empfangen wird, wirklich eine Gabe; nicht weil nicht gegeben oder empfangen würde, sondern weil es, sobald es als Gabe anerkannt wird, nicht unbedingt gegeben ist und damit keine reine Gabe ist. So sind die Bedingungen der Möglichkeit der Gabe zugleich die Bedingungen ihrer Unmöglichkeit, beziehungsweise die Bedingungen der Unmöglichkeit ihres Erscheinens als Gabe. Wer gibt, um zu geben, zerstört damit zugleich die Gabe.

Marion wählt demgegenüber einen grundlegend anderen Ausgangspunkt, nämlich denjenigen der "Gegebenheit" (donation) als der Art und Weise, in der alle Phänomene erscheinen (Étant donné. Essai d'une phénoménologie de la donation, 2. Aufl., Paris 1998). Alles ist Gabe im Sinn des "es gibt": Es ist "für jemanden" und so bereits Gabe. Statt über Gabe in der Struktur von "Geber - Gabe - Empfänger" und damit immer, selbst noch in seiner Ablehnung, in einem ökonomischen und metaphysischen Horizont nachzudenken, muss man Marion zufolge die Gabe einer phänomenologischen Reduktion unterziehen, indem man Geber, Empfänger und Gabe einklammert. Was bleibt, ist die reine Gegebenheit. Die Phänomene sind sich selbst gebende Realitäten.


Inwiefern ist die Gabe zugleich frei und verpflichtend?

Diese wenigen Sätze machen bereits deutlich, warum Derrida und Marion im Gabe-Diskurs häufig als Antipoden verstanden werden. In einem sind sie sich freilich einig: dass es Gabe nur im radikalen Gegensatz zum Tausch gibt. "Während der Tausch reziprok, symmetrisch und äquivalent ist, ist die davon strikt unterschiedene Gabe gerade nicht äquivalent, nicht symmetrisch und nicht reziprok (...) Der Horizont der Tauschökonomie ist untauglich, Gabe als Gabe erscheinen zu lassen" (Ingolf U. Dalferth, Umsonst. Vom Schenken, Geben und Bekommen, in: Studia Theologica 59 [2005] 83-103, hier 88).

Dieser immer wieder propagierten und ausgesprochen konsequenzenreichen These von der scharfen Trennung und der Unvereinbarkeit von Gabe und Tausch widerspricht mit einer der prominentesten Gegenthesen Pierre Bourdieu (Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt 2004). Ihm zufolge ist unsere Gesellschaft durch und durch von ökonomisch orientierter Reziprozität geprägt. In bestimmten Fällen jedoch - denen der Gabe - wird dieses leitende Interesse verdeckt und alle Beteiligten tun so, als ginge es um unilaterale, reine Gaben. Die Gabe stellt folglich die Miss- oder Fehlwahrnehmung eines Austauschs dar, gewissermaßen eine stillschweigende Übereinkunft zum Selbstbetrug, der dementsprechend auch nur so lange funktioniert, wie der wahre Charakter der Gabe verdeckt bleibt.

Diese Verschleierung geschieht genauerhin durch zwei Vorgänge: zum einen die Einschaltung eines Zeitintervalls zwischen Gabe und Rückgabe. Man revanchiert sich für ein Geschenk nicht sofort mit einem Gegengeschenk, sondern erst bei einer späteren Gelegenheit; zum anderen indem nicht dasselbe zurückgegeben wird, was gegeben wurde. Sonst würde der Vorgang als einer des Leihens wahrgenommen. Diese "verzögerte Reziprozität" macht es möglich, dass beide Seiten den Schein aufrechterhalten können, es handelte sich jedes Mal um eine reine, einseitige Gabe.

Die Frage nach Einseitigkeit oder Wechselseitigkeit, Altruismus oder Interessiertheit, ökonomischer oder an-ökonomischer Struktur der Gabe beschäftigt auch eine Reihe weiterer (vor allem französischer) Denker, die jedoch stärker von konkreten zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Phänomenen ausgehend die diesbezüglichen Funktionen der Gabe beobachten.

In Frankreich wohl einer der bekanntesten ist Alain Caillé, für den die Gabe von so grundlegender Bedeutung ist, dass sie als ein "drittes Paradigma" in den Sozialwissenschaften (neben Holismus und Individualismus) gelten kann (Anthropologie der Gabe, Frankfurt 2008). Die Etablierung dieses Paradigmas in Anlehnung an Mauss ist das Ziel einer Gruppe um Caillé und seine Zeitschrift mit dem sprechenden Titel "Revue du M.A.U.S.S." (Mouvement Anti-Utilitariste des Sciences Sociales).

Caillé reflektiert - zum Teil gemeinsam mit seinem Kollegen Jacques T. Godbout (L'esprit du don, Paris 2000) - auf die Rolle der Gabe angesichts der modernen Ökonomie, die sie zunächst verdrängt zu haben scheint. Aber zum einen lebt die Gabe in den menschlichen Primärbeziehungen fort und spielt dort weiterhin eine entscheidende Rolle. Zum anderen besteht auch die moderne Gesellschaft Caillé und Godbout zufolge vorrangig weder aus ihren Makrostrukturen wie Markt und Staat noch aus einem Konglomerat individuellen zweckorientierten Handelns, sondern vielmehr grundlegend in eben jenen Gabeprozessen: Im Zirkulieren von Dingen, Personen, Ereignissen wird soziale Ordnung aufgebaut und erhalten.

Die vor wenigen Wochen erschienene deutsche Übersetzung von Marcel Hénaffs "Der Preis der Wahrheit. Gabe, Geld und Philosophie" (Frankfurt 2009; Original 2002) rückt einen weiteren bemerkenswerten Beitrag ins Licht. Hénaff geht in dem der Gabe gewidmeten Teil seines Buches insbesondere dem Paradox nach, das die Gabeforschung seit Mauss beschäftigt: dass die Gabe zugleich frei und verpflichtend zu sein scheint. Hénaff zufolge beruht dieser Anschein eines Paradoxes auf einem doppelten Missverständnis der Gabe: Die Gabe ist zum einen keine Form des Warentauschs, denn das gegebene und empfangene Gut steht nicht im Zentrum des Vorgangs. Geben hat nichts mit Ökonomie zu tun.

Verfehlt ist aber auch eine Betrachtung des Gebens unter moralischem Gesichtspunkt, das ihre "Reinheit" (Einseitigkeit und Interesselosigkeit) fordert. Hénaff bestreitet dabei keineswegs, dass es solche ökonomischen und moralischen Vorgänge gibt, und er betont ausdrücklich deren Legitimität. Es ist seines Erachtens aber zentral, die unterschiedlichen Funktionen und Funktionsweisen dieser drei Gestalten des Gebens und Tauschens zumindest idealtypisch voneinander zu unterscheiden. Dementsprechend wäre es beispielsweise auch verfehlt zu versuchen, den Kapitalismus mit Hilfe einer "Ökonomie der Gabe" "zähmen" zu wollen.

Die Gabe ist also sachgemäß nicht als - einseitiger oder reziproker - Gütertransfer verstanden, sondern als ein Vorgang wechselseitiger Anerkennung, der Anknüpfung und Aufrechterhaltung sozialer Beziehungen. Die materiellen Gaben stellen hierbei die Mittel dar, über die diese Anerkennung ausgedrückt wird: Indem ich etwas gebe, das mir gehört, gebe ich symbolisch einen Teil meiner selbst. Das Ziel dieses Vorgangs ist folglich keine Besitzvermehrung, sondern die Etablierung eines sozialen Bandes zwischen den Partnern eines solchen Gabentauschs (und diesem Ziel dient nicht nur die Gabe selbst, sondern zum Beispiel auch die Zeremonie ihrer Überreichung und die begleitenden Gesten der Höflichkeit).

Ist die Gabe eine Einladung und ein Appell an den anderen, in die Beziehung einzutreten, dann verfehlt sie gerade ihr Ziel, wenn sie einseitig bleibt. So löst sich für Hénaff die Paradoxie von Freiwilligkeit und Verpflichtung: Wie bei einem Spiel ist die Replik des Partners notwendiger Teil des Spiels. Wohl kann er sich durchaus entscheiden, nicht zu replizieren - aber dann entscheidet er sich, nicht oder nicht mehr mitzuspielen. Deshalb ist auch selbst nach dem Empfang einer Gegengabe der Prozess keineswegs zu Ende, sondern setzt sich fort: Soziale Beziehungen werden - wenn es gut geht - durch Gabeereignisse eröffnet und fortgeführt, nicht abgeschnitten.

Paul Ricoeur hat im Schlussteil seiner letzten Monographie "Wege der Anerkennung. Erkennen, Wiedererkennen, Anerkanntsein" (Frankfurt 2006) Überlegungen zum Phänomen der Gabe angestellt, die sich ausdrücklich an Hénaffs Erkenntnisse anschließen. Er akzentuiert gegenüber Hénaff freilich noch stärker die Bedeutung von Generosität und Dankbarkeit in einem solchen Vorgang, der auf Personen, nicht auf Dinge zielt. Deshalb spricht er von einer Art "Pause" beim Empfangen, die markiert, dass die Gegen-Gabe nicht einfach einen der ersten Gabe spiegelbildlichen Vorgang darstellt, sondern vielmehr eine "zweite erste Gabe".

Die erste Gabe wird nicht in einem Reziprozitätszirkel annulliert, sondern die Großzügigkeit des Gebens und die Dankbarkeit des Empfangens werden vielmehr gewissermaßen verdoppelt.


Die Theologie ist auf den Gabediskurs aufmerksam geworden

In den skizzierten Überlegungen wurde bereits sichtbar, dass sich die Gabe nicht als ein von geschichtlichen und kulturellen Kontexten unberührtes Abstraktum konzipieren lässt. Hingegen ändert sie jeweils in signifikanter Weise Gestalt und Funktion. So sind historische Forschungen zur Gabe von hoher Relevanz - aufgrund der häufigen Verknüpfungen mit religiösen Fragestellungen gerade auch für die Theologie. Daneben werden die Grundoptionen des Gabediskurses auch anhand einer Reihe von konkreten gesellschaftlichen Problemfeldern durchbuchstabiert, etwa im Blick auf moderne Praktiken des Schenkens und Spendens, auf Fragen rund um die Organspende oder auf die Entwicklungshilfe.

Schließlich legt bereits die Wortgestalt in verschiedenen europäischen Sprachen die Beschäftigung mit Fragen der Vergebung im Kontext des Gabediskurses (ver-geben, for-give, par-donner) nahe. Auch hierzu liegt bereits eine Reihe von Überlegungen vor. Die Frage, was die Gabe mit dem ihr in religiösen Kontexten traditionell nahe stehenden Opfer zu tun haben könnte, kommt hingegen erst zögerlich in den Blick.

In den letzten Jahren ist auch die Theologie auf den Gabediskurs aufmerksam geworden. So wird zunehmend ein allzu selbstverständlicher theologischer Gebrauch des Begriffs der "Gabe" (und eine damit einhergehende gewisse Naivität der Begriffsverwendung) hinterfragt zugunsten einer größeren Sensibilität für seine Implikationen und Ambivalenzen. Die Rezeption der skizzierten außertheologischen Positionen und Fragestellungen scheint freilich häufig noch eher punktuell. Und sofern sie geschieht, überträgt sich die Pluralität der philosophischen und sozialwissenschaftlichen Ansätze in eine Pluralität theologischer Anknüpfungen: Auch hier gibt es nicht "die" Gabe, sondern die theologischen Forschungsergebnisse werden wesentlich vom jeweils gewählten Theoriehintergrund mitgeprägt.

Die grundsätzlichere Frage hinter und jenseits solcher Einzelansätze: ob die Gabe als theologische Leitmetapher eine hermeneutische Schlüsselrolle für die theologische Forschung spielen könnte, ob sie ein "Urwort der Theologie" (so ein einschlägiges Diktum Oswald Bayers; vgl. etwa: Art. "Gabe. II. Systematisch-theologisch", in: Religion in Geschichte und Gesellschaft, Band 3, 4. Aufl., Tübingen 2000, 445f.; vgl. auch Freiheit als Antwort. Zur theologischen Ethik, Tübingen 1995) sei oder werden könnte, ist noch längst nicht ausgelotet, häufig noch nicht einmal im Blick.

Dabei dürfte angesichts der skizzierten Fragestellungen und Positionen deutlich geworden sein, dass nicht nur die philosophischen und sozialwissenschaftlichen Forschungen zur Gabe von Relevanz für die Theologie sind, sondern umgekehrt auch die Theologie zu einer wichtigen Stimme in diesem interdisziplinären Diskurs werden könnte - gehören doch Überlegungen zum Beispiel zum Zusammenhang von göttlichem und menschlichem Geben und Empfangen, zur Bedeutung zwischenmenschlichen Gebens für die Gottesbeziehung (vgl. Mt 25), zur Unterscheidung von Gabe, Tausch und Leistung, zur Schöpfung als Gabegeschehen und dem Geist als Gabe oder zum Verständnis von Geben und Empfangen im Rahmen der Eucharistie zu ihren genuinen Arbeitsfeldern.


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Veronika Hoffmann (geb. 1974) Studium der katholischen Theologie in Frankfurt (St. Georgen) und Innsbruck, Promotion 2006 in Münster. Seit 2007 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Dogmatik der Universität Erfurt; Habilitationsprojekt: "Skizzen zu einer Theologie der Gabe".


Weitere Literatur:

Frettlöh, Magdalene L.: Der Charme der gerechten Gabe. Motive einer Theologie und Ethikder Gabe am Beispiel der paulinischen Kollekte für Jerusalem, in: Jürgen Ebach (Hg.): "Leget Anmut in das Geben". Zum Verhältnis von Ökonomie und Theologie, Gütersloh 2001, 105-161

Gestrich, Christof (Hg.): Gott, Geld und Gabe. Zur Geldförmigkeit des Denkens in Religion und Gesellschaft, Berlin 2004

Hoffmann, Veronika (Hg.)): Die Gabe - ein "Urwort" der Theologie?, Frankfurt 2009

Joas, Hans und Michael Gabel (Hg.): Von der Ursprünglichkeit der Gabe. Jean-Luc Marions Phänomenologie in der Diskussion, Freiburg 2007

Rosenberger, Michael, Ferdinand Reisinger und Ansgar Kreutzer (Hg.): Geschenkt - umsonst gegeben? Gabe und Tausch in Ethik, Gesellschaft und Religion, Frankfurt 2006


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
63. Jahrgang, Heft 6, Juni 2009, S. 304-308
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. August 2009