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FORSCHUNG/037: Lektüre auf Augenhöhe (Bibel und Kirche)


Bibel und Kirche 4/2009 - Organ der Katholischen Bibelwerke
in Deutschland, Österreich und der Schweiz

Lektüre auf Augenhöhe
Bibellektüren von Alltagsbibelleser/innen - eine Bereicherung für alle

Von Sonja Angelika Strube


Was würde passieren, wenn alle Menschen oder zumindest alle Gläubigen ohne großes theologisches Vorwissen anfingen, in der Bibel zu lesen, wie es die Bischofssynode empfiehlt? Führt die persönliche Bibellektüre in die Beliebigkeit oder in den Fundamentalismus? Die Autorin hat in einer wissenschaftlichen Arbeit Beobachtungen zu alltäglichen Lese- und Deutungsprozessen vorgelegt.


Als Quelle und Nahrung, Lebenshilfe und Orientierung empfiehlt die römische Bischofssynode die Bibel den Gläubigen, um verstärkt darin zu lesen. Dies ist eine bahnbrechende Empfehlung, insofern die persönliche Bibellektüre der Gläubigen in der katholischen Kirche bis weit ins 20. Jahrhundert hinein wenig Tradition und Praxis erfahren hatte. Und es ist eine wichtige Anerkennung der Früchte der Bibelbewegung seit Beginn des 20. Jahrhunderts sowie aller, die sich in Bibelkreisen und Bibelpastoral engagieren.

Was aber würde passieren, wenn nun tatsächlich "alle" Menschen oder zumindest "alle" Gläubigen einfach so und ohne großes theologisches Vorwissen anfingen, selbst in der Bibel zu lesen? Würde die "totale Subjektivität" ausbrechen, wie manch einer befürchten mag? Finden Alltagsbibelleser/innen ohne fachkundige Anleitung immer nur ihre eigenen Lieblingsgedanken im biblischen Text? Und welche Rollen bleiben der wissenschaftlichen Exegese sowie der seelsorglichen Katechese und Verkündigung neben einer so eminent wichtig genommenen persönlichen Lektüre?

Wer im Rahmen kirchlicher Erwachsenenbildung, in Bibelkreisen oder Predigtgesprächen Erfahrung mit Alltagsbibelleser/innen und ihren Entdeckungen am Text hat, wird erfahren, dass die genannten Befürchtungen meist unbegründet sind. Er bzw. sie wird selbst schon erlebt haben, dass Alltagsleser/innen bisweilen mit Leichtigkeit und ohne theologisches Vorwissen zu sehr prägnanten Textbeobachtungen und Interpretation finden, manchmal sogar zu Thesen, die einen Fachexegeten in seiner Studierstube viel Zeit und Gehirnschmalz gekostet haben. Solcherlei punktuellen Eindrücken vermag eine empirische Studie zu Alltagsbibellektüren ein solides Fundament zu verleihen.


Eine empirische Studie zum Bibelverständnis zwischen Alltag und Wissenschaft[1]

Zehn Interviews zur Erzählung von der Auferweckung des Lazarus habe ich im Rahmen meiner Studie geführt, fünf mit Menschen, die eine christliche Sozialisation erfahren haben und sich als Erwachsene noch als Christ/innen verstehen, fünf mit Menschen ohne christlich-religiösen Hintergrund.[2] Zunächst bat ich meine Interviewpartner/innen, ganz frei zum Text anzumerken, was ihnen selbst dazu einfällt und wichtig ist. Danach stellte ich noch einige Leitfragen. Jedes Interview wertete ich zunächst einzeln aus, indem ich die individuelle Herangehensweise, Themenschwerpunkte, Auslegungswege und -ergebnisse der jeweiligen Person herausarbeitete. Danach verglich ich die zehn Interviews miteinander und formulierte "Querbeobachtungen". Den zweiten Schwerpunkt der Studie bildete die Frage nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen Alltagsbibellektüren und wissenschaftlicher Exegese, für den ich zehn aktuelle exegetische Auslegungen zu Joh 11 in derselben Weise untersuchte wie die Interviews. Der so entstandene doppelte Vergleich - einmal zwischen den Leseweisen christlicher bzw. nicht-religiöser Menschen und ein weiteres Mal zwischen universitären und Alltags-Exegesen - ließ die spezifischen Profile der verschiedenen Lektüreweisen besonders deutlich werden.


Strategien von Alltagsbibellektüren

Bibellesen als Prozess der Positionierung und als Dialog mit dem Text

Eine Besonderheit, die Alltagsbibellektüren von wissenschaftlichen Exegesen und von vielen Predigten unterscheidet, mag auf den ersten Blick wie eine Selbstverständlichkeit erscheinen, die kaum der Rede wert ist: Alltagsleser/innen sagen "ich", wenn sie einen Bibeltext besprechen, ihn auslegen. Sie bringen sich selbst, ihre Entdeckungen am Text, ihre Wahrnehmungen und Meinungen ins Spiel. Meine christliche Interviewpartnerin Daniele, gelernte Floristin und freischaffende Künstlerin, tut dies besonders temperamentvoll. Zahlreiche Verse des Bibeltextes kommentiert sie: "Aber dann kann ich mich natürlich wieder total hineinversetzen, wenn da steht..."; "das stört mich", da "streik ich wieder"; "deswegen kann ich das so gut nachvollziehen"; "dagegen würd ich auf die Barrikaden gehen"; "Es gibt Dinge, die ich total bejahen kann, aber es gibt auch Dinge, die ich ablehnen würde."

Fast wie Tanzschritte wirken diese Sätze, wenn sie so dicht hintereinander stehen, Tanz-Schritte, mit denen Daniele auf einen Vers zugeht, um sich dann vom nächsten wieder durch einen deutlichen Schritt zurück zu distanzieren. Auch wenn nicht alle Interviewpartner/innen so temperamentvoll wie Daniele auf die Erzählung zugehen, so sind doch Sätze wie diese typisch für Alltagsbibellektüren.

Wann sagen Alltagsleser/innen "ich", und was geschieht, indem sie "ich" sagen? Ganz offensichtlich dienen Sätze wie die hier zitierten der eigenen Positionierung zu Aussagen des Textes. Übereinstimmungen mit den eigenen Erfahrungen, Weltbildern und Werten werden ebenso benannt wie Differenzen; der Text wird auf Übereinstimmungen und Unterschiede regelrecht abgeklopft. Die im Text gefundenen Erfahrungen werden mit den eigenen beständig verglichen.

Gerade die Formulierungen, die Daniele wählt, zeigen ganz deutlich, dass das eigene Positionieren zum Text kein emotionsloser Vorgang ist. Zustimmung wie Kritik gehen einher mit Gefühlen der Nähe bzw. der Distanz: Bei Daniele variieren sie zwischen "total hineinversetzen" und "dagegen würd ich auf die Barrikaden gehen".

Natürlich werden mit "Ich-Sätzen" auch Unsicherheiten in der Interpretation und subjektive Wahrnehmungen benannt. Oft räumen Alltagsleser/innen ausdrücklich die Subjektivität ihrer Interpretation ein oder entdecken gar mitten im Leseprozess eine Deutungsalternative - wie z.B. Olaf (N): "Ich seh grad, man könnte es natürlich auch noch 'en bisschen anders interpretieren."

Und schließlich: Überraschenderweise fühlen sich alle Interviewpartner/innen, gerade auch die nicht-religiösen, an der ein oder anderen Stelle vom Text zu ausdrücklichen Bekenntnissen ihres Glaubens oder Unglaubens herausgefordert. So bekennen die nichtchristliehen Leser Olaf bzw. Martin: "Ich bin ein gnadenloser Materialist" und: "Als ein im Leben verhafteter Mensch glaub ich das natürlich nicht." Die christliche Leserin Hildegard entschließt sich angesichts des spektakulären Auferweckungswunders zögernd: "Ich glaub es, ich glaub es mit Bauchgrummeln."

Die scheinbare Nebensächlichkeit des "Ich-Sagens" ist bei näherer Betrachtung von grundlegender Bedeutung und großer Wichtigkeit in mindestens dreifacher Hinsicht:

a) Indem Alltagsleser/innen "Ich" sagen, markieren sie das subjektive Moment ihres Verstehensprozesses. Sie machen die Eigenbeteiligung am Lese- und Verstehensprozess sichtbar: "Sinn" entsteht im Leseprozess und damit im lesenden Individuum.

b) Gleichzeitig wird der Text durch dieses "Ich"-Sagen zu einem Gegenüber, zu einem DU mit eigener Würde. Der Text wird als von mir, meiner Meinung und Erfahrung verschieden wahrgenommen. Das "Ich-sagen" erweist sich als Schutz des Textes vor Vereinnahmung.

c) Wann immer Alltagsleser/innen ihre eigene Auslegung als nur eine von mehreren möglichen relativieren, verweisen sie - bewusst oder unbewusst - auf die Mehrdeutigkeit des Textes und die Kontextualität jeder Lektüre.

Lesestrategien der Nähe als Königswege des Verstehens

Alle Interviewpartner/innen wählen das Eintauchen in die Szenerie und das Einfühlen in die Figuren des Textes als ersten Weg des Verstehens. Wie beim Lesen eines Romans wollen sie in der Atmosphäre der Geschichte schwelgen, Bilder vor ihrem inneren Auge entstehen sehen und mit den Figuren mitfühlen. Diese Erwartungen werden ausdrücklich formuliert. Vor allem die nichtchristlichen Leser/innen bemängeln, dass der biblische Text eine solche schwelgende Leseweise verwehrt. Die Holprigkeit des Textes, verwirrender Satzbau, vor allem aber zu wenig Beschreibungen der Gedanken und Emotionen der Figuren werden als Hindernisse genannt.

"... wenn ich ... ein normales Buch lesen würde, dann würde sicherlich mehr ausgeführt, dass der krank ist, was er denn wirklich hat, wies ihm geht, wie er aussieht. Und das, eigentlich kommt das viel zu kurz. ... Das stört mich eigentlich dran. Und dass es dann nur heißt, ja, er ist gestorben, ohne dass dann irgendjemand trauert - so, so richtig. Von der Emotion. - Also, es ist relativ emotionslos geschrieben." (Marlen (N))

Die meisten Leser/innen - auch die nicht-religiösen - benennen spontan und ungefragt eine persönliche Identifikationsfigur, in die sie sich besonders gut hinein versetzen können, weil sie Parallelen zwischen sich und ihr entdecken. Noch häufiger als die totale Identifikation mit einer Erzählfigur findet sich das Phänomen der Einfühlung. Einzelne Szenen, Äußerungen oder Haltungen einer Figur werden als dem eigenen Denken und Erleben verwandt wahrgenommen.

So emotional eine solche schwelgende Leseweise zunächst erscheinen mag: Bei genauerer Beobachtung zeigt sich, dass Lesestrategien der Nähe auch dem kognitiven Verstehen dienen. Die Einfühlung in Figuren und Szenen etwa erweist sich als wichtige Verstehensstrategie. Der Weg des Einfühlens wird nämlich nicht nur dort gewählt, wo es leicht gelingt, sondern gerade auch dort, wo eine Textpassage unklar, eine Handlungssequenz unverständlich ist. Dort nehmen Alltagsleser/innen kurzfristig die Perspektiven der beteiligten Figuren ein, um deren Handlungen oder Wesenszüge besser zu verstehen. Kognitives Textverstehen wird somit zumindest teilweise durch mitfühlend-emotionales "Verstehen" im Sinne von "Verständnis haben" bewerkstelligt. Dennoch geht damit nicht ein uneingeschränktes Einverständnis einher. Wie im wirklichen Leben, im realen Gespräch zwischen lebendigen Menschen, können Alltagsleser/innen etwas mitfühlend nachvollziehen und zugleich für sich selbst eine andere Position einnehmen, eine alternative Handlungsweise favorisieren.

Lesestrategien der Nähe, allen voran das "Einfühlen", dienen somit nicht allein dem literarischen Genuss, den man sich vom Lesen für gewöhnlich erwartet. Sie stellen auch nicht ein unreflektiertes Bedürfnis nach Harmonie und Einverständnis mit den heiligen Texten dar.

Die Methode des "Verstehens durch Einfühlen" führt mitunter zu längeren Parallelerzählungen aus dem eigenen Erfahrungsschatz.[3] Auf diese Weise kommt es zu einem intensiven Erfahrungsaustausch zwischen LeserIn und Text. Eine Passage, ein Textdetail regt dazu an, ein eigenes Erlebnis zu erzählen, das Parallelen aufweist. Dabei kann es sich auch um Randthemen innerhalb des Erzählflusses handeln. So erzählt Daniele mit Bezug auf das Motiv des Bittens in Joh 11,22 ("Aber auch jetzt weiß ich: Alles, worum du Gott bittest, wird Gott dir geben"):

"... mein Sohn, der mit fünf Jahren Niere und Milz durch 'en Unfall weg hatte und auf der Intensivstation gelegen hat, ja, also, wenn ich nicht diese Gewissheit und dieses Bitten gehabt hätte und dieses große Gottvertrauen."

Den Vergleich des Leseprozesses mit zwischenmenschlicher Kommunikation möchte ich an dieser Stelle pointieren: In den Aspekten des Mitfühlens, des Erfahrungsaustauschs und des Eingehens auch auf Randthemen und -motive des Textes gleicht der Leseprozess einem lebendigen Gespräch zwischen Freundinnen. In seinem Verlauf kann ein beiläufiges Stichwort der einen eine dadurch inspirierte Parallelerzählung der anderen auslösen, die einigen Raum einnimmt, an deren Ende aber der rote Faden des Gesprächs wieder aufgenommen wird. Hier wie dort machen gerade die wichtigen Nebenerzählungen das Gespräch lebendig, obwohl ein Bewusstsein för das Hauptthema bestehen bleibt.

Lesestrategien der Distanz: Die Er-Findung exegetischer Methoden

Das zentrale Verstehensproblem dieser Perikope ist für fast alle Interviewpartner/innen das spektakulär erzählte Auferweckungswunder. Die Differenz zwischen eigener Lebenserfahrung und erzähltem Wunder bewegt alle Leser/innen zum Argumentieren. Fast alle legen ihre Erfahrungen und ihr naturwissenschaftliches Weltbild als kritischen Bewertungsmaßstab an den Text an, der dementsprechend schwerlich einfach ein Abbild der Realität sein kann. In diesem Zusammenhang er-finden meine Interviewpartner/innen klassische historisch-kritische Methoden geradezu "neu": etwa die Frage nach dem historischen Kern, die diachrone Rekonstruktion der Textentstehungsgeschichte oder die Gattungskritik.

Ohne Umschweife rekonstruiert Annett (N) einen mit heutigen medizinischen Kenntnissen kompatiblen historischen Kern (Lazarus erwache aus einem Koma). Dessen Umgestaltung zur Wundergeschichte macht sie durch Berücksichtigung des antiken Weltbildes plausibel (mangelndes medizinisches Wissen, Unaufgeklärtheit und allgemeiner Wunderglaube). Alternativ erwägt sie kurz die Zuordnung zur Gattung Gleichnis, wodurch die Geschichte auf einen historischen Kern gänzlich verzichten könnte. Elisabet (C) bewertet die Auferweckungsszenerie als erfundene Rahmenhandlung, die einen abstrakten Glaubensinhalt bebildern will, und als Bild, für das sie sofort den Begriff der Metapher parat hat. Die Diskrepanz zwischen erzählter und erfahrbarer Welt erklärt sie vor allem durch den Unterschied zwischen hiesig-heutiger und biblisch-orientalischer Mentalität. Die Anrede Jesu mit "Sohn Gottes" erkennt sie als nachösterlich: "Aber 'du bist der Sohn Gottes', das sagt man nicht zu Freunden."... "Dieser Text ist nachösterlich geschrieben, da kann man so was natürlich ganz gut kombinieren." Olaf (N) und Martin (N) erwähnen die große Verschiedenheit der Kontexte, in denen der Text entstanden ist bzw. in die hinein er heute spricht. Informationen über den historischen Hintergrund der Erzählung, über Textentstehung und -kanonisierung(!) könnten daher heute das Verstehen erleichtern. Die primäre Lösung des Widerspruchs zwischen Text und Realität sehen sie in der Gattungsbeschreibung der Erzählung als Bild oder Fantasy-Geschichte. Sinnbild und Symbol sind Gattungs-Beschreibungen, die der christliche Leser Bernd (C) vornimmt.

Interviewpassagen wie diese lassen gewissermaßen "live" miterleben, wie im 18. bis 20. Jh. das historisch-kritische Methodenrepertoire erfunden wurde. Umgekehrt spiegeln sie, dass Grundeinsichten der Exegese durchaus in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind. Diese typisch historisch-kritischen Erklärungsmuster bezeichne ich als "Lesestrategien der Distanz", denn wo sie praktiziert werden, treten die Leser/innen einen Schritt aus der erzählten Welt heraus und schauen eben aus der Distanz auf den Text (so, wie es Exegesen überwiegend bis ausschließlich tun). Ihr Verstehenshorizont geht deutlich über den der erzählten Welt hinaus, insofern neben der erzählten eben auch die erfahrbare Welt im Blick ist.

Während der erste spontane Weg des Verstehens über Lesestrategien der Nähe erfolgt, werden argumentativ-kritische Strategien da gewählt, wo ein Einfühlen in den Text nicht möglich ist. Der intensive Abgleich zwischen der Wunderwelt des Textes und der eigenen Realitätswahrnehmung scheint auf den ersten Blick vor allem der Behebung einer großen kognitiven Dissonanz zu dienen. Letztlich wurzelt er jedoch im Anspruch auf Lebensrelevanz, die dem Text prinzipiell zugetraut wird, die er aber nur dann entfalten kann, wenn das Verhältnis seiner Elemente zur eigenen Lebenserfahrung geklärt ist. Damit erweist sich diese so kognitiv erscheinende Frage ("Ist das wirklich so passiert?") als eine zutiefst existenzielle.[4]

Die Erwartung einer lebenspraktischen Relevanz und die Suche nach ihr

Eine Besonderheit der Alltagsbibellektüren fällt durch den Vergleich mit exegetischen Auslegungen besonders deutlich auf: Alle Interviewpartner/innen - auch die nichtreligiösen - suchen explizit die lebenspraktische Relevanz des Textes. Für sie gehört diese Frage mit großer Selbstverständlichkeit ins Zentrum der Bibellektüre. An ihrer Beantwortung bemisst sich, ob es zu einem Verstehen des Textes gekommen ist oder nicht. Fast alle Leser/innen äußern, dass sie den Text erst dann als "verstanden" betrachten, wenn sie seine Handlungsappelle und seine lebenspraktische Relevanz erkannt haben - auch wenn sie sich von diesen dann distanzieren. Neben der kognitiven und der emotionalen kommt hier die pragmatisch-praktische Dimension des "Verstehens" ins Spiel. Der Leseprozess führt zur Praxis, zum Handeln. Orthodoxie und Orthopraxie gehören für meine Interviewpartner/innen offenbar zusammen.

Gerade die Interviews mit nichtchristlichen Menschen zeigen eindrücklich, wie selbstverständlich auch von ihnen die Erwartung an die Bibel herangetragen wird, dass deren alte Texte heutigen Leser/innen im Lebensalltag weiterhelfen wollen und können:

"... und wenn ich's aber als nicht gläubiger Mensch betrachte, dann wär es vielleicht - Nächstenliebe ... [oder] dass es trotzdem halt Hilfe gibt, auch wenn man sie nicht sieht, manchmal" (Marlen (N))

"... dass man sich sozusagen nicht... von irgendwelchen bestimmten Sachen aus dem Leben, aus der Bahn werfen lassen soll ... Dass also auch, wenn's mal ganz schlimm kommt, da kann einen der Glaube halt da wieder raus reißen und einen wieder ans Licht führen." (Olaf (N))

Große Erwartungen und großer Respekt werden der Bibel offenbar auch von Menschen entgegen gebracht, die die christlichen Glaubensinhalte selbst nicht teilen. Von Alltagsleser/innen wird den uralten Texten prinzipiell zugetraut, bleibend gültige Lebensweisheiten Zeit überdauernd weitergeben zu können. Ebenso gehen sie davon aus, dass diese Lebensweisheiten auch heute verstanden werden können.

Der Ort der Theologie im Leseprozess

Sehr deutlich hat sich gezeigt, dass sich das Bibellesen als lebendiges Gespräch und phasenweise auch kritische Diskussion zwischen LeserIn und Text gestaltet, als Erfahrungsaustausch, in dem selbstverständlich das eigene Leben und der Text aufeinander bezogen werden - sogar von nichtreligiösen Leser/innen. Christlichen Leser/innen gibt der Text darüber hinaus Gelegenheit, in Zustimmung, Modifikation oder Widerspruch ihren eigenen Glauben, ihre eigenen Theo-Logien zu formulieren: Ihr Sprechen von Gott, ihre Bilder von Jesus, ihr "Verlangen nach Heilwerden"[5]. Das, was für das eigene Leben wirklich relevant ist, das, was im Glauben wirklich trägt, wird im Spiegel des Textes bewusster. Darüber hinaus drängt der eigene Dialog mit dem Text zum Dialog mit anderen: Sieben meiner Interviewpartner/innen (auch nichtreligiöse) sagten ausdrücklich, dass ihnen das Gespräch mit anderen Leser/innen beim Verstehen des Textes helfen würde.

Deutlich wird in all dem der Raum, der sich im engagierten Leseprozess zwischen Text und LeserIn eröffnet. Deutlich wird die Beziehung zwischen Text, Person und eigenem Leben, die gesucht und gefunden wird. Dieser Zwischen-Raum und diese dynamische Beziehung, die sich im Leseprozess eröffnen, erregen meine an Hannah Arendt, Erich Eromm, Martin Buber und Carter Heyward geschulte besondere Aufmerksamkeit. In Variationen haben diese Denker/innen auf die menschlich und religiös tiefe - und bisweilen auch politisch weltbewegende - Bedeutung dessen aufmerksam gemacht, was sich so unscheinbar, ungreifbar und flüchtig zwischen Menschen und in Beziehung ereignet. Aus dieser Perspektive betrachtet geschieht das religiös und theologisch Relevante gerade im Leseprozess, innerhalb dessen die lesende Person in eine Beziehung zum (immer auch mehrdeutigen) Text tritt, und nicht in seinen Ergebnissen.

Nicht nur bei Alltagsleser/innen fließen ganz selbstverständlich eigene Lebenserfahrungen in die Auseinandersetzung mit dem Text ein. Auch an Predigten und Katechesen, und selbst an wissenschaftlich sauber gearbeiteten Exegesen lässt sich aufzeigen, dass in die Auslegung wesentlich und unvermeidlich der gesellschaftliche Kontext, vorherrschende Weltbilder, theologische Deutungstrends sowie persönliche Erfahrungen, Überzeugungen und das eigene "Sprechen von Gott" einfließen. Auch hier entstehen "der Sinn" und "die Theologie des Textes" wesentlich im Leseprozess und im wissenschaftlichen Leser, da Exeget/innen bei ihrer Arbeit nicht von sich selbst, ihrer Zeit und ihrem sozio-kulturellen Kontext absehen können. Anders als Alltagsleser/innen sagen Exeget/innen in ihrer Arbeit jedoch kaum explizit "Ich", sie thematisieren ihre Eigenbeteiligung am Leseprozcss nicht.

Die Alltagsbibellektüren erweisen, wie konstruktiv das bewusste Einbeziehen der eigenen Erfahrungen in den Leseprozess sein kann: Es verhilft zu einer lebendigen Deutung, in der kritisches Denken, Emotionen und praktische Konsequenzen organisch miteinander verbunden sind. Vor dem Hintergrund dieser Beobachtungen könnten auch die Subjektivitäten der Exegesen in einem neuen positiven Licht erscheinen: In ihnen ereignet sich Exegese als Theologie, als vom Text herausgeforderte und in der Begegnung mit ihm geformte, aber eben zugleich auch eigene Rede von Gott. Der Bibeltext fordert auch die Exeget/innen dazu heraus, im Umgang mit ihm selbst Theologie zu betreiben.


Von Alltagslektüren lernen?

Die Ergebnisse meiner Studie machen Mut. Sie ermutigen dazu, dem Volk Gottes das eigenständige Bibellesen zuzutrauen. Eindrucksvoll dokumentieren sie die existenzielle Bedeutung und die spirituelle Würde von Alltagsbibellektüren. Zugleich zeigen sie auf, wie verantwortet - hierzulande geradezu "exegetisch verantwortet" - Alltagsleser/innen biblische Texte lesen.

Ebenso zeigen sie, dass jedes Bibellesen, auch das exegetisch-wissenschaftliche und das homiletische, immer auch ein persönliches Theologie-Treiben im Dialog mit dem biblischen Text ist. Exeget/innen, Prediger/innen und Alltagsleser/innen sitzen so gesehen, trotz aller Unterschiede in Ausbildung, Hintergrund- und Methodenwissen, im selben Boot. Sie alle treten mit ihren unterschiedlichen Lebenserfahrungen und ihrem Weltwissen in einen Erfahrungsaustausch mit dem biblischen Text, der seinerseits viele Anknüpfungspunkte bereithält.

Aus dem Zusammenspiel zwischen den vielfältigen Anknüpfungspunkten des Textes und den ganz unterschiedlichen Erfahrungen der Leser/innen ergibt sich eine Sinnfülle, die kein Mensch im Alleingang heben kann, sondern die uns auf einander verweist und in den Austausch miteinander drängt.

Manch einen lebensrelevanten Aspekt wird ein Exeget oder auch ein Bischof nur mit Hilfe von Alltagsleser/innen entdecken. Sehr viele biblische Texte erschließen sich uns westeuropäischen Mittelstandschrist/innen nur mit Hilfe der Armen in der so genannten Dritten oder Vierten Welt, deren Lebenserfahrungen denen der biblischen Armen und Ausgebeuteten oft sehr nahe sind. Dass uns heute etwa das gesellschaftskritische Potenzial prophetischer Texte bewusst ist, verdanken wir letztlich den seit den 1960er Jahren in Lateinamerika praktizierten und veröffentlichten Bibellektüren im Rahmen der Theologien der Befreiung.

Wer das Bibellesen fördern will, muss die eigenen Erfahrungen und Bibellesekompetenzen von Alltagsleser/innen ernst nehmen. Jegliche Besserwisserei und Bevormundung ersticken das persönliche Bibellesen im Keim. Wer das Bibellesen fördern will, muss Räume schaffen, in denen Menschen in einen echten mehrdimensionalen Erfahrungsaustausch mit der Bibel und miteinander kommen können. Räume, in denen Alltagsleser/innen, Seelsorger/innen, Exeget/innen und womöglich auch Bischöfe auf Augenhöhe miteinander ins Gespräch kommen können. Räume, in denen es auch zu einem Austausch über Ländergrenzen und Kontinente hinweg kommen kann. Räume aus Stein, in denen sich Menschen vor Ort treffen können: Bildungshäuser, Klöster mit entsprechenden Angeboten etc. Räume aus Papier, wie es etwa in der Arbeit des Katholischen Bibelwerks geschieht. Und heutzutage etwa auch virtuelle Räume im Internet, die eine gemeinsame Bibellektüre über Kontinente hinweg tatsächlich ermöglichen können.

Die Rollen von Exegese und Katechese wären im Wesentlichen subsidiärer Natur und bestünden etwa im Bereitstellen und in der Pflege solcher Räume - sowie in der Bereitschaft der Exeget/innen und Katechet/innen, sich selbst als Mensch mit eigenen Erfahrungen, Hoffnungen, Kompetenzen und Grenzen in dieses Gespräch einzubringen.


ANMERKUNGEN:

[1]Die Grundidee der Studie entstand bereits 1995/96 während der Arbeit an meiner Dissertation. Die ab 2001 begonnene und Anfang 2007 fertig gestellte Habilitation ist im Juli 2009 unter dem Titel "Bibelverständnis zwischen Alltag und Wissenschaft" erschienen (s.u. Literatur).

[2] Unter den christlichen Bibelleser/innen sind "Daniele" (Jg. 1953), "Elisabet" (Jg. 1945) und "Hildegard" (Jg. 1946) katholisch, "Bernd" (Jg. 1966) ist evangelisch-lutherisch, "Hans" (Jg. 1964) gehört einer evangelischen Freikirche an. Die nicht-religiösen Interviewpartner/innen sind insgesamt etwas jünger: "Annett" (Jg. 1974), "Martin" (Jg. 1961), "Olaf" (Jg. 1967), "Marlen" (Jg. 1978). "Kerstin" (Jg. 1972) ließ sich inzwischen taufen und gehört nun einer evangelisch-lutherischen Landeskirche an. - Im Folgenden unterscheide ich die christlichen und nicht-religiösen Leser/innen durch ein C bzw. N hinter ihrem Pseudonym.

[3] Biographische Parallelerzählungen zu biblischen Texten behandelt ausführlich: Günter Ernst, Biblischen Glaube im Zeugnis erzählter Erfahrungen, Tübinger Perspektiven zur Pastoraltheologie und Religionspädagogik 21, Münster 2004.

[4] In den von mir untersuchten Exegesen bleibt sie leider so gut wie unberücksichtigt. Dort schweigt man sich über die Diskrepanz zwischen Wunder und erfahrbarer Realität aus und wähnt, dass man sie längst beantwortet habe. Auf Alltagsleser/innen wirkt ein solches Schweigen fatalerweise wie eine Tabuisierung dieser Frage, die man als ChristIn offenbar gar nicht stellen darf

[5] Die Formulierung ist entliehen: Doris Strahm/Regula Strobel (Hg.), Vom Verlangen nach Heilwerden. Christologie in feministisch-theologischer Sicht, Fribourg/Luzern 1991.


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Zusammenfassung

Bibellesen erweist sich als ein quasi "unvermeidlich" dialogischer Vorgang, der seinerseits die Lesenden ins Gespräch miteinander zu bringen vermag. Es geschieht immer kontextuell und deshalb grundlegend pluralistisch: Im Erfahrungsaustausch mit dem und über den biblischen Text sitzen wir alle, ob Exeget/innen oder Alltagsleser/innen, Seelsorger/innen oder Bischöfe, im selben Boot. Diese erkenntnistheoretische Einsicht ruft danach, ekklesiologisch umgesetzt zu werden: etwa durch grenzüberschreitende gemeinsame Bibellektüren.


Literatur

- Sonja Angelika Strube, Bibelverständnis zwischen Alltag und Wissenschaft. Eine empirisch-exegetische Studie auf der Basis von Joh 11, 1-46, Tübinger Perspektiven zur Pastoraltheologie und Religionspädogogik Bd. 34, Münster 2009.
- dies., Den "garstig breiten Graben" überwinden: Ein Vergleich alltäglicher und exegetischer Lesarten zur Erzählung van der Auferweckung des Lazarus (Joh 11), erschienen in: Orientierung 72 (2008), 5. 181-185.


PD Dr. Sonja Angelika Strube, promovierte Neutestamentlerin, arbeitet seit 1992 in der Erwachsenenbildung und seit 2003 an verschiedenen Hochschulen. Mit der Studie "Bibelverständnis zwischen Alltag und Wissenschaft" habilitierte sie sich in Biblischer und Praktischer Theologie. (E-Mail: dr.sonja.strube@gmx.de


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Quelle:
Bibel und Kirche - Organ der Katholischen Bibelwerke in Deutschland,
Österreich und der Schweiz, 64. Jahrgang, 4. Quartal 2009, 4/2009,
Seite 216-222
Herausgeber: Dr. Franz-Josef Ortkemper, Dipl.-Theol. Dieter Bauer,
Österr. Kath. Bibelwerk Klosterneuburg
Redaktion: Dr. Bettina Eltrop, (eltrop@bibelwerk.de)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Dezember 2009