Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion - 7/2012
"Dienstleister, Anwalt, Solidaritätsstifter"
Ein Gespräch mit Peter Neher, dem Präsidenten des Deutschen Caritasverbands
Die Fragen stellte Ulrich Ruh
Die verbandliche Caritas ist eines der wichtigsten Markenzeichen der katholischen Kirche in Deutschland. Wie positioniert sich die Caritas derzeit kirchlich und sozialpolitisch? Darüber sprachen wir mit dem Präsidenten des Deutschen Caritasverbands, Peter Neher.
HK: Herr Dr. Neher, im September findet das zweite große Treffen im Rahmen des von der Deutschen Bischofskonferenz initiierten Gesprächsprozesses statt, diesmal unter dem Motto "Die Zivilisation der Liebe - unsere Verantwortung in der freien Gesellschaft". Das Jahresthema für 2012 lautet dementsprechend "Diakonia der Kirche". Wo liegen aus der Sicht der organisierten Caritas auf diesem Feld die wichtigsten Herausforderungen?
Neher: Unserer Kirche sollte es im Gesprächsprozess ein Anliegen sein, die spezifischen Erfahrungen der Caritas ernst zu nehmen und aufzugreifen. Das sind immerhin Erfahrungen mit den Lebenssituationen von ganz konkreten Menschen in den vielen Einrichtungen und Diensten, gerade auch Erfahrungen mit lebensgeschichtlichen Brüchen, mit Schuld und Versagen. Alle diese Themen bewegen unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter etwa in den verschiedenen Beratungsfeldern oder in der konkreten sozialen Arbeit. Dazu kommt, dass im Bereich der Caritas Tausende von Frauen tätig sind. Wir haben in diesem Zusammenhang bei der Delegiertenversammlung im letzten Jahr nochmals unser Vorhaben bekräftigt, wonach fünfzig Prozent der Führungskräfte Frauen sein sollen. Auch diese Erfahrungen bringt die Caritas in die Kirche ein. Und schließlich kann die Caritas das Verständnis dafür befördern, dass Vielfalt auch eine Bereicherung darstellt. Wir haben es in unserer Arbeit ja mit den unterschiedlichsten Menschen und Lebenslagen zu tun; auch unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bilden ein breites Spektrum ab. Das ist die gesellschaftliche Wirklichkeit, mit der die Kirche insgesamt konfrontiert ist.
HK: Zwischen der Kirche und ihrer Caritas gibt es eine gewisse Ungleichzeitigkeit. Während viele Bereiche des kirchlichen Lebens weiter erodieren, ist die Caritas von den krisenhaften Erscheinungen allem Anschein nach nicht direkt betroffen. Wird nicht dadurch das kirchliche "Standing" der Caritas schwierig?
Neher: Es handelt sich dabei um ein vielschichtiges Thema. Zum einen ist die Caritas von der Glaubwürdigkeitskrise unserer Kirche nicht im selben Maß betroffen wie etwa das gemeindliche Leben. Wobei nicht verschwiegen werden darf, dass es bis in die jüngere Vergangenheit hinein auch schwerwiegende Vergehen gegenüber jungen Menschen in Einrichtungen der Caritas gab. Außerdem sind gerade in den letzten zwei Jahren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Caritas immer wieder mit dem Hinweis angesprochen worden, sie würden doch auch dazugehören. Deshalb ging und geht die Krise unserer Kirche an der Caritas nicht spurlos vorüber; unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind auch persönlich als Teil der Kirche von den entsprechenden Entwicklungen betroffen. Aber insgesamt herrscht doch ein positives Bild von der Caritas als einer Institution vor, die den Menschen in vielfältigen Notlagen hilft. Diese Gemengelage führt zu einem spannenden Miteinander von verbandlicher Caritas und der Kirche insgesamt. Unterschiedliche Erfahrungen auf beiden Seiten bewirken auch unterschiedliche Befindlichkeiten.
HK: Es gibt auf kirchlicher Seite zweifellos ein bestimmtes Grundmisstrauen gegenüber der Caritas, ohne dass deren Leistungen und Verdienste bestritten würden. Man fremdelt gegenüber einem professionellen Sozialkonzern, dem man schnell unterstellt, er lasse es an der notwendigen Kirchlichkeit fehlen. Ziehen Sie sich diesen Schuh an?
Neher: Die Frage der Kirchlichkeit ist der verbandlichen Caritas sozusagen in die Wiege gelegt. Es vergingen ja immerhin fast zwanzig Jahre zwischen der Gründung des Deutschen Caritasverbandes und der bischöflichen Anerkennung! Von Anfang an hatte die Caritas durch ihre Vereinsstrukturen eigene Rechtsstrukturen und damit eigene Gestaltungsmöglichkeiten. Außerdem: Solange ein großer Teil der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Caritas Ordensangehörige waren, hat man ihnen die Kirchlichkeit per se unterstellt. Inzwischen ist diese Gruppe sehr klein geworden - schon von daher wird die Caritas hinsichtlich ihrer Kirchlichkeit kritischer beäugt.
HK: Hängt das nicht auch damit zusammen, dass Diakonia als Grundvollzug des Christlichen in mancher Hinsicht verwechselbar ist, während die Liturgie und die Verkündigung jeweils auf ihre Art kirchlich eindeutiger sind?
Neher: Wir müssen immer wieder an der Weltgerichtsrede im 25. Kapitel des Matthäusevangeliums Maß nehmen: Überall dort, wo Menschen in Not geholfen wird, kann Christus begegnet werden, auch wenn diese Hilfe nicht ausdrücklich in seinem Namen geschieht. Damit wird der Rahmen dessen, was kirchlich ist, grundsätzlich gesprengt. In diesem Sinn versteht die Caritas ihr Tatzeugnis, das nicht erst dann dem christlichen Glauben an Gottes Liebe entspricht, wenn auch noch ein Kreuz an der Wand hängt oder gebetet wird. Was beides wichtig ist, aber allein als Erkennungszeichen des Christlichen nicht genügen würde.
HK: Damit steht die Caritas quer zu einem heutzutage mancherorts verbreiteten Verständnis von Christentum als ästhetisch hochstehendem Kulturchristentum einerseits und als eine Art Freizeitchristentum andererseits, das leicht konsumierbare Angebote macht. Könnte das nicht eine Chance für die Selbstbesinnung von Kirche insgesamt sein?
Neher: Man kann gar nicht oft genug betonen, dass das soziale Engagement ein Wesensbestandteil von Kirche ist. Es ist keine Kirche denkbar, die sich auf Gottesdienst und Verkündigung beschränkt oder sich nur als kulturelle Institution versteht. Das gilt unabhängig von der Tatsache, dass es auch andere Institutionen gibt, die sozial tätig sind. Wenn auch in einem humanistisch verstandenen Menschenbild christliche Grundüberzeugungen zum Tragen kommen, kann uns das nur recht sein! Kirche hat einen gesellschaftlichen Auftrag im Sinn eines tatkräftigen Engagements, wo immer Menschen in Not sind, spezifisch motiviert durch den Glauben an einen menschenfreundlichen Gott, der selbst die Grenze des Todes überwunden hat.
HK: Aber de facto haben die allermeisten aktiven Mitglieder unserer Pfarrgemeinden keinen Bezug zur diakonischen Dimension von Kirche, zu den Einrichtungen und Mitarbeitern der verbandlichen Caritas. Ist das eine zwangsläufige Entwicklung?
Neher: Hier ist durchaus auch ein Stück Selbstkritik angebracht. Es hat in den vergangenen Jahrzehnten eine deutliche Professionalisierung des Sozialen stattgefunden. Das hatte die positive Folge, dass eine hervorragende Arbeit mit hoher Kompetenz geleistet wird, die übrigens Benedikt XVI. in seiner ersten Enzyklika "Deus Caritas est" ja auch ausdrücklich würdigt. Gut sein wollen genügt nicht; es braucht auch die entsprechende Qualifikation. Aber durch diese Entwicklung ist das soziale Engagement leider allzu oft aus mancher Gemeinde ausgewandert. Das zeigt sich etwa bei den Sozialstationen: Früher lag diese Arbeit vielfach in den Händen einer Gemeindeschwester und wurde selbstverständlich als sozialer Dienst der Pfarrgemeinde betrachtet. In dem Maß, in dem die Sozialstationen institutionalisiert und professionalisiert wurden, sind sie nicht mehr in dem Maße im Bewusstsein der Pfarrgemeinden präsent. Ähnliches lässt sich bei den kirchlichen Kindergärten beobachten, die zum allergrößten Teil in der Trägerschaft der Pfarrgemeinden sind. Manche Diözesen sind dabei, rechtlich eigenständige Verbünde von Kindergärten zu schaffen. Das ist im Hinblick auf die Verbindung von Caritas und Gemeinde nicht unproblematisch.
HK: Und wie ließe sich diesem Trend gegensteuern?
Neher: Es ergeben sich neue Chancen durch die zweifellos schwierigen Veränderungen der letzten Jahre mit der Vergrößerung der pastoralen Räume. Dadurch ist jedoch auch das Bewusstsein gewachsen, dass man wieder etwas einholen muss, was verloren gegangen ist: Kirche ist nicht nur dort, wo Liturgie gefeiert, sondern auch dort, wo im Namen Gottes den Menschen geholfen wird. Die Einrichtungen der Caritas, die ja nicht selten auch so etwas wie Orte der Gemeindebildung sind, werden wieder stärker als Orte von Kirche zur Kenntnis genommen und verstehen sich zunehmend selbst so.
HK: Müsste nicht auch das Ehrenamt in der Caritas gestärkt werden, um so ihre Arbeit wieder mehr vor Ort zu verankern?
Neher: Auf jeden Fall. Pfarrliche, das heißt weitgehend ehrenamtliche Caritas und verbandliche Caritas gehören zusammen und brauchen einander. Eine gemeindliche Caritas, die die verbandliche nicht mehr im Blick hat, kann viele Nöte gar nicht mehr bewältigen. Umgekehrt verliert verbandliche Caritas ohne Bezug zur pfarrlichen letztlich ihren Wurzelgrund. Deshalb braucht es auch die Verzahnung zwischen haupt- und ehrenamtlicher Arbeit. Es gibt viele Einrichtungen, etwa in der Altenhilfe, die Unterstützerkreise von Ehrenamtlichen haben; das gilt zum Teil auch für Sozialstationen. Auch die Hospizbewegung ist ohne den Einsatz von Ehrenamtlichen gar nicht vorstellbar. Ebenso gibt es ein ausgebautes System von ehrenamtlichen Suchthelfern, die Menschen wieder in ihren Alltag hinein begleiten. Nicht zu vergessen sind die vielen ehrenamtlichen Vorstände und Mitglieder in Aufsichtsorganen, die große Verantwortung tragen.
HK: Die Caritas muss sich nicht nur mit der Kirche vor Ort verzahnen, sondern ist auch Partner für Kommunen und Landkreise. Was hat der Staat auf den verschiedenen Ebenen davon, wenn soziale Einrichtungen in kirchlicher Trägerschaft sind? Gibt es einen Mehrwert der Caritas gegenüber anderen Trägern?
Neher: Zum einen ist das die werteorientierte Arbeit, die von der Caritas geleistet wird. Im Interesse der Menschen muss es auch für die Kommunen ein Anliegen sein, dass es in ihrem Bereich soziale Dienste mit einer christlichen Grundhaltung gibt. Der Klient oder Patient hat einen Anspruch darauf, solche Dienste in Anspruch nehmen zu können. Zum zweiten zeichnet es kirchliche Einrichtungen und Dienste seit jeher aus, dass sie verlässlich sind. Sie haben sich überall dort engagiert, wo sie gebraucht wurden, statt sich auf attraktive Standorte zu beschränken. Nicht nur private Anbieter von sozialen Leistungen müssen rechnen, sondern durchaus auch die Caritas. Aber sie hat auch den Anspruch, einen Dienst deswegen zu tun, weil es Menschen gibt, die ihn brauchen. Verlässlichkeit bedeutet eben, dass man einen Dienst nicht dann einstellt, wenn Schwierigkeiten auftauchen. Außerdem haben kirchliche Sozialeinrichtungen den großen Vorteil, dass sie als Teil der Kirche untereinander und mit den Pfarrgemeinden vernetzt sind. Das können nur kirchliche Anbieter leisten.
HK: Aber es gibt doch zumindest in einzelnen Bereichen Verschiebungen von kirchlichen zu privaten Trägern. Warum eigentlich nicht?
Neher: Es ist völlig in Ordnung, dass es eine breite Palette von Anbietern gibt. Es gibt keinen Anspruch darauf, dass alle Sozialstationen oder Kindergärten in kirchlicher Trägerschaft sein müssen. Aber es muss solche Einrichtungen geben, sowohl vom Bedarf her gedacht wie auch von der Kirche und ihrer sozialen Verpflichtung her. Menschen bevorzugen ja unter Umständen eine kirchliche Sozialstation, weil sie von den Menschen, die dort arbeiten, eine spezifische Motivation erwarten, bis hin zu seelsorglichen Angeboten.
HK: Aber hat die Caritas noch genügend Mitarbeiter, die für diese spezifische Motivation stehen? Dieses Problem stellt sich ja nicht nur in den neuen Bundesländern, wo Kirchenbindung Sache einer oft sehr kleinen Minderheit ist, sondern durchaus auch im Westen, wo das entsprechende Potenzial erkennbar schrumpft ...
Neher: Unsere Mitarbeitenden sind Menschen dieser Welt. Es gibt bei uns ganz viele Frauen und Männer, die aus einem hohen Ethos heraus Menschen helfen wollen. Es gibt auch nach wie vor viele, die diese Arbeit aus einer christlichen Verwurzelung heraus tun. Aber sicher sind viele Mitarbeitende mit einer gewissen Offenheit auf der Suche. Es ist wichtig, dass gerade auch sie einen Platz bei der Caritas haben, weil sie damit mit der Grundhaltung in Berührung kommen können, die uns für unsere Arbeit motiviert. Hier hat die Organisation eine entscheidende Aufgabe: Es gibt für den Deutschen Caritasverband ein Leitbild und ein entsprechendes Leitbild haben auch viele unserer Einrichtungen und Dienste. Darin ist klar umschrieben, wie die Grundhaltung unseres Dienstes als einer kirchlichen Organisation aussieht.
HK: Leitbilder sind sicher wichtig. Aber gilt nicht auch hier der Satz, dass Papier geduldig ist?
Neher: Deshalb braucht es vor allem geeignete Führungskräfte. Wir haben in den letzten Jahren viel dafür getan, Mitarbeitende auch in diesem Sinn für Führungsaufgaben zu qualifizieren und Orte für geistliche Erfahrungen anzubieten. Sie sollen dazu befähigt werden, den Mitarbeitenden zu helfen, das, was sie tun, aufzuschlüsseln, zu zeigen, dass es mit dem Glauben zu tun hat. Ein Mitarbeiter, der nicht christlich sozialisiert ist oder sich von der Kirche entfremdet hat, tut vieles, was im Sinn von Matthäus 25 eine Glaubenshaltung ausdrückt. Aber wenn Sie ihn fragen, ob er kirchlich sei, würde er nicht unbedingt mit Ja antworten. Es kommt deshalb darauf an, das Tatzeugnis als das Spezifische der Caritas, auf Gott hin transparent zu machen. Hier haben die Träger von Einrichtungen und Diensten eine große Verantwortung gegenüber den Mitarbeitenden.
HK: Wird die Caritas dieser Verantwortung heute ausreichend gerecht? Tut sie genügend, um ihre Mitarbeiter in diesem Sinn weiterzubilden?
Neher: Es ist interessant, dass immer nur bei den Mitarbeitenden der Caritas nach der Kirchlichkeit gefragt wird. Ich habe noch nie die Frage an kirchliche Mitarbeiter außerhalb der verbandlichen Caritas vernommen, ob sie denn kirchlich sind, wenn sie sich nicht sozial engagieren. Im Rahmen des Leitbildprozesses gab es in den neunziger Jahren eine Untersuchung zur Kirchlichkeit von Caritasmitarbeitern. Dabei ergab sich, dass sich ein Großteil der Mitarbeitenden der Caritas von ihrer Kirche nicht entsprechend wertgeschätzt fühlte. Wenn man immer nur auf Defizite einer einseitigen Definition von Kirchlichkeit zeigt, diese also beispielsweise fast ausschließlich am regelmäßigen Gottesdienstbesuch misst, braucht man sich nicht zu wundern, dass es den Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht gerade leicht gemacht wird, sich als kirchlich zu verstehen.
HK: Die Caritas ist Teil eines sozialstaatlichen Systems, das in Deutschland gut ausgebaut ist. Es gibt Stimmen, die den Sozialstaat in seinem Zuschnitt verteidigen, aber auch kritische Anfragen an seine Zukunftsfähigkeit. Wie positioniert sich die Caritas im Streit um den Sozialstaat?
Neher: Die Grundaufgabe der Caritas liegt in dem Dreiklang aus Dienstleister, Anwalt und Solidaritätsstifter. Wir sind zunächst dazu da, zu helfen, wo Not ist. Gleichzeitig hatte die Caritas immer auch den Anspruch, Partner des Staates zu sein und nicht Erfüllungsgehilfe. Prälat Lorenz Werthmann, der Gründer des Deutschen Caritasverbandes, hat das Bild geprägt, die Caritas müsse Dampf in der sozialen Maschine sein. Das ist natürlich ein Bild aus dem 19. Jahrhundert, aber es verweist darauf, dass die Caritas eine doppelte Funktion hat, als kirchlicher Verband wie als Verband der freien Wohlfahrtspflege. Sie ist in dieser Doppelfunktion ein Akteur, der engagiert an der Schaffung und Erhaltung sozialer Lebensbedingungen in diesem Land mitarbeitet, zum einen durch konkrete Hilfen, zum anderen durch seine politische Arbeit. Wir machen der Politik gegenüber darauf aufmerksam, was kritisch zu bewerten ist, aber auch wo man sich auf einem guten Weg befindet.
HK: Und wie löst die Caritas ihre politisch-soziale Anwaltsfunktion ein?
Neher: Nehmen Sie beispielsweise unsere Kampagnen. Wir haben in diesem Jahr als Kampagnenthema "Armut macht krank. Jeder verdient Gesundheit" und machen damit auf den Zusammenhang von Armut und Krankheit aufmerksam. Im letzten Jahr stand unsere Kampagne unter dem Motto "Kein Mensch ist perfekt", und vor Jahren war es "Mach dich stark für starke Kinder". Die Caritas setzt mit diesen Kampagnen bewusst einen gesellschafts- und sozialpolitischen Akzent, um auf besondere Problemlagen aufmerksam zu machen. Wir haben den Anspruch, die sozialen Verhältnisse in Deutschland aus unserer christlich-kirchlichen Grundhaltung mitzugestalten.
HK: Schlägt sich die Caritas damit vor allem auf die Seite derer, die den Sozialstaat weiter ausbauen und perfektionieren wollen?
Neher: In der sozialpolitischen Arbeit der Caritas der letzten Jahre ging es immer darum, Menschen zu befähigen, ihr Leben selber in die Hand zu nehmen. Aber ich kann nicht einfach davon ausgehen, dass jeder seines Glückes Schmied ist, wenn die Bedingungen so sind, dass es der Einzelne gar nicht schaffen kann. Einen Jugendlichen ohne Schul- oder Berufsabschluss muss ich zuerst einmal unterstützen, damit er in die Lage versetzt wird, sein Leben in die Hand zu nehmen. Unser Auftrag geht nicht dahin, einem anderen die Verantwortung für das eigene Leben abzunehmen, ihm in diesem Sinn Fürsorge angedeihen zu lassen, sondern er orientiert sich am Menschen als von Gott geliebtem Wesen mit einer eigenen Würde. Gerade der bedürftige Mensch soll in dem unterstützt werden, was er kann. Salopp formuliert: Keiner kann nichts! Mit diesem Ansatz entsprechen wir durchaus dem Bild eines zukunftsfähigen Sozialstaats. Ziel der sozialen Arbeit muss es sein, sich selbst überflüssig zu machen, gerade auch aus einem christlichen Verständnis heraus.
HK: Soziale Herausforderungen unterliegen dem gesellschaftlichen Wandel, und der Bedarf an Hilfestellungen verändert sich. Ist die Caritas flexibel und sensibel genug, um auf solche Veränderungen mit ihren Einrichtungen und Diensten reagieren zu können?
Neher: Dass sie dazu durchaus in der Lage ist, hängt schon mit ihrer Struktur zusammen. Ich wehre mich immer gegen den Begriff des Sozialkonzerns für die Caritas. Er suggeriert, es handle sich um eine einheitliche Organisation mit einem Durchgriffsrecht von der Spitze bis ganz nach unten. Wir sind aber ein Verband aus rechtlich selbstständigen Trägern und Verbänden. Es macht gerade unsere Stärke aus, dass beispielsweise ein Ortscaritasverband sehr viel schneller spürt, was vor Ort auf den Nägeln brennt, als wenn alles von einer Zentrale aus gesteuert würde.
HK: An welchen Punkten hat sich diese dezentrale Struktur denn bewährt?
Neher: Etwa bei den Schuldnerberatungsstellen, die noch vor zwanzig Jahren kein Thema waren. Aber aus der örtlichen Wahrnehmung heraus, dass es hier einen dringenden Bedarf gibt, dass sich Menschen heillos überschulden, sind entsprechende Beratungsstellen entstanden. Auch das Problem Kinderarmut ist in den letzten Jahren stärker fokussiert worden. Ich traue der Caritas zu, dass sie aufgrund der Nähe ihrer Beratungsstellen und Einrichtungen sehr schnell wahrnimmt, wo die Nöte der Menschen aktuell sind, und zwar jeweils ganz konkret vor Ort.
HK: Das gesamtgesellschaftlich bedrängendste Problem ist gegenwärtig nach Auffassung vieler Beobachter und Akteure, dass ein Teil der Bevölkerung zunehmend gegenüber den allgemeinen Standards abgehängt wird, bildungsmäßig wie sozial. Wie nimmt sich dieses Prekariatsproblem in den Augen der Caritas aus?
Neher: Es gibt in Deutschland eine soziale Ausgrenzung und diese Grenzen haben sich in den letzten Jahren eher verfestigt. Die Caritas arbeitet in sozialen Brennpunkten, wo beispielsweise ganze Straßenzüge von Kindern und Jugendlichen geprägt sind, deren Eltern schon lange keine Arbeit mehr haben. Da ist gerade das Engagement in der Schulsozialarbeit angebracht, damit Jugendliche dazu befähigt werden, einen Bildungsabschluss zu erreichen. Im Rahmen unserer Kampagne für Kinder und Jugendliche haben wir außerdem ein Patenschaftssystem entwickelt, durch die der Übergang von der Schule in den Beruf unterstützt wird. Zu nennen ist in diesem Zusammenhang auch die Initiative "Integration durch Arbeit", durch die Langzeitarbeitslose wieder in den Arbeitsmarkt integriert werden sollen. Die Caritas nimmt sich so in vielfältiger Weise der Menschen an, die sonst keine Lobby haben.
HK: Soziale Dienste sind von ihrem Wesen her nicht konfessionell geprägt. Insofern müsste die Caritas eigentlich ein unproblematisches Feld für ökumenische Zusammenarbeit sein. Wie sieht es damit de facto aus?
Neher: Auf der Bundes- und auf der Landesebene klappt die Zusammenarbeit mit dem Diakonischen Werk sehr gut. Es gibt zum Beispiel gemeinsam erarbeitete Transparenzrichtlinien für wirtschaftliches Handeln von Caritas und Diakonie, die für alle Einrichtungen gelten. Vor Ort gibt es im einen oder anderen Fall auch eine Konkurrenz zwischen den kirchlichen Wohlfahrtsverbänden. Das ist durchaus legitim, solange solche Konkurrenz mit fairen Mitteln ausgetragen wird. Gleichzeitig bestehen in manchen Regionen seit Jahrzehnten ökumenische Sozialstationen. Diese Form der Zusammenarbeit hat sich sehr bewährt. In seiner Enzyklika "Un unum sint" von 1995 hat übrigens Johannes Paul II. formuliert, dort, wo die Kirchen im sozialen Engagement, im Dienst am Menschen zusammenarbeiteten, seien sie schon die eine Kirche. Das sollten sich unsere Kirchen ins Stammbuch schreiben und die ökumenischen Chancen in der sozialen Arbeit wesentlich mehr nutzen und wertschätzen.
HK: Müsste nicht das Jahresthema "Diakonia der Kirche" im Gesprächsprozess für die Caritas auch eine Herausforderung dazu sein, selbstkritisch über die Bücher zu gehen und ihre Arbeit auf den Prüfstand zu stellen?
Neher: Die kritische Reflexion der eigenen Arbeit leistet die Caritas unabhängig von diesem Gesprächsprozess. Wir fragen uns ständig, ob das, was wir tun, notwendig ist, ob wir es auf die bestmögliche Weise umsetzen, wo wir unser Profil schärfen müssen. Wenn wir als Caritas der Kirche gesellschaftspolitisch und kirchlich Gehör finden wollen, braucht es die kritische Selbstreflexion. Und genau dazu braucht die Kirche in Deutschland diesen Gesprächsprozess, den wir aktiv mitgestalten wollen.
HK: Was erwartet sich die Caritas dann von diesem Dialog? Kann er für ihre Arbeit etwas austragen?
Neher: Ich wünsche mir, dass unsere Kirche stärker das Potenzial wahrnimmt, das sie mit ihrer verbandlich organisierten Caritas hat. Der Deutsche Caritasverband ist dazu eingeladen, für das Treffen in Hannover zehn Delegierte zu benennen. Aber in der Vorbereitung gab es keinerlei offizielle Rücksprache mit uns. Hier bleibt ein Potenzial ungenutzt, und es wird eher kritisch beäugt, nach dem Motto: Aus "Hannover" darf keine Veranstaltung der verbandlichen Caritas werden! Dabei könnte die Kirche von dem Potenzial an Energie, an Kompetenz und nicht zuletzt an Glauben profitieren und sich positionieren. Als verbandliche Caritas tragen wir mit unserem Engagement für die Menschen etwas zur Kirchlichkeit der Kirche bei. Einer Kirche ohne das Tatzeugnis der Nächstenliebe würde es nämlich an Kirchlichkeit fehlen. In diesem Sinn nehmen wir unseren Auftrag im Gesprächsprozess unserer Kirche sehr gerne wahr.
Der promovierte Theologe Peter Neher (geb. 1955) wurde im Mai 2003 zum Präsidenten des Deutschen Caritasverbandes gewählt. Seit Januar 2007 ist er Präsident der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege. Im Juni 2007 Ernennung zum päpstlichen Ehrenprälaten.
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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
66. Jahrgang, Heft 7, Juli 2012, S. 340-345
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Oktober 2012