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FRAGEN/019: "Wir können Glauben nicht machen" (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion - 10/2011

"Wir können Glauben nicht machen"
Ein Gespräch über missionarische Pastoral mit Hubertus Schönemann

Die Fragen stellte Ulrich Ruh


Seit Anfang 2010 gibt es die "Katholische Arbeitsstelle für missionarische Pastoral" in Erfurt. Mit ihrem Leiter Hubertus Schönemann sprachen wir darüber, wie sich Kirche verändern muss, wenn sie in heutiger Lebenswirklichkeit missionarische Möglichkeiten wahrnehmen und Glaubensbiographien sensibel begleiten möchte.


HK: Herr Dr. Schönemann, Sie leiten die "Arbeitsstelle für missionarische Pastoral" der Deutschen Bischofskonferenz. Was unterscheidet denn eine missionarische Pastoral von dem, was die Kirche hierzulande tagaus, tagein ohnehin an Seelsorge treibt?

SCHÖNEMANN: Es geht darum, in einer veränderten Zeit zu überprüfen, ob die Schwerpunkte der Pastoral noch richtig gesetzt sind. Das setzt eine theologische Verständigung über Sendung und Auftrag der Kirche voraus, ebenso den Abbau von Missverständnissen, als ob es etwa primär um Mitgliederrekrutierung, um Aktionspläne zur Gewinnung von Nichtgetauften ginge. Demgegenüber verstehen wir missionarische Pastoral, sich neu dem Evangelium zu öffnen, als Paradigma für eine neue Art des Kircheseins.

HK: Die meisten unserer Zeitgenossen haben eigentlich nichts gegen die Kirche und kennen den christlichen Glauben nur rudimentär. Aber gleichzeitig möchten sie auf keinen Fall missionarisch behelligt werden. Was soll dann Evangelisierung?

SCHÖNEMANN: Sie ist notwendig, weil die Art und Weise, wie wir in Deutschland Kirche leben, in den letzten dreißig Jahren deutlich schwieriger geworden ist. Es gibt ja die These, für die vieles spricht, dass sich viele Pfarrgemeinden zunehmend aus der Gesellschaft exkulturieren. Der Prozentsatz der regelmäßigen Gottesdienstbesucher nimmt weiter ab, genauso wie der Anteil der Kirchenmitglieder an der Bevölkerung. Damit stellt sich unausweichlich die Frage, wie die Kirche ihre Botschaft in Worten und Zeichen so ausdrücken kann, dass sie Menschen wieder neu für die Präsenz Gottes öffnet und damit Zukunft hat.

HK: Als Kind habe ich in meiner Heimatpfarrei noch "Volksmissionen" erlebt, mit denen versucht wurde, aus abständigen wieder eifrige und überzeugte Christen zu machen. Diese Zeiten sind vorbei. Wo kann und soll man denn unter den heutigen Verhältnissen ansetzen?

SCHÖNEMANN: Es gibt nach wie vor Großevents und andere Veranstaltungen mit besonderer missionarischer Ausrichtung. Entscheidend wäre aber vor allem, mit Menschen über ihre religiösen Vorstellungen ins Gespräch zu kommen, die im Übrigen oft vielgestaltiger sind, als wir es uns in kirchlichen Kreisen vielfach vorstellen. Missionarische Pastoral meint deshalb, nicht einfach eine "katholische Normalbiographie" zu postulieren, sondern darauf zu schauen, wie Menschen ihren Sehnsüchten und Hoffnungen Gestalt geben und wie Gottes Gegenwart darin neu Gestalt gewinnen kann. Papst Benedikt hat einmal formuliert, es gebe so viele Wege zu Gott, wie es Menschen gebe. Das zu beherzigen und in diesem Sinn lernfähig zu sein, fällt der Kirche eher schwer. Es geht aber nicht darum, Menschen "heim ins Reich" zu holen, sie in Formen einzubinden, die vielleicht einmal angemessen waren, aber offensichtlich nicht mehr passen. Der Erfurter Bischof Joachim Wanke sagt immer wieder, man müsse am fremden Ort die Wahrheit Christi neu entdecken und sich neu schenken lassen.

HK: Welche Orte kämen dafür am ehesten in Frage? Sind es die herkömmlichen Kasualien, ist es die Predigt, oder müsste die Kirche wirklich verstärkt bisher Ungewohntes ausprobieren?

SCHÖNEMANN: Auch das "Normale" kann durchaus ausstrahlen. Wo beispielsweise der Gottesdienst authentisch gefeiert wird, sowohl vom Liturgen wie von der Gemeinde, sind die Kirchen voll. Es scheint also eine "ars celebrandi" zu geben, die das, was Glaube und Kirche bedeuten, im Gottesdienst für Menschen als tragfähig erweisen kann. Aber das geschieht natürlich nicht in jedem Gottesdienst! Ähnlich verhält es sich auch im Gemeindeleben: Da wo Gemeinden ihre Verantwortung als Christen für ihr konkretes Umfeld wahrnehmen, gerade im Bereich der Caritas oder beim Ansprechen von Menschen, wo sie auch mit Nichtchristen zum Wohl ihres Stadtviertels kooperieren, da erlebt man einen Aufbruch von Kirche.

HK: Und was ist mit den Menschen, die selten oder nie zum Gottesdienst kommen und auch sonst keinen Kontakt zur Gemeinde haben?

SCHÖNEMANN: Die Landschaft der Begegnungsmöglichkeiten wird differenzierter. Manche Klöster gewinnen eine enorme Bedeutung als Orte für spirituelles Auftanken; es gibt auch die diversen geistlichen Bewegungen. Klare Strukturen lösen sich teilweise auf und gleichzeitig wird vieles passager. Kirche wird oft nur "auf Zeit" intendiert. Sie kann sich bei allem Bemühen um Gemeinschaft nicht dem gesellschaftlichen Prozess der Individualisierung entziehen, sondern muss entsprechende Veränderungen wahrnehmen und sich in ihrem Handeln darauf einstellen.

HK: Ob und wie die Kirche das tun soll, darüber wird gerade heute heftig gestritten. Manche sehen in der wachsenden Differenzierung des kirchlichen Lebens eine Aufweichung katholischer Identität ...

SCHÖNEMANN: Innerhalb der Kirche wird das Missionarische tatsächlich sehr unterschiedlich verstanden. Es gibt Stimmen, die ein klares katholisches Profil einfordern, und andere, die unter dem gleichen Stichwort Mission den Dialog mit der Gesellschaft führen möchten. Im kirchlichen Selbstverständnis werden die Schwerpunkte also verschieden gesetzt. In dieser Situation ist es für eine recht verstandene missionarische Pastoral unerlässlich, dass man über die jeweiligen Ansätze im Gespräch bleibt. Es gehört letztlich doch beides zusammen: Wenn man nur auf Dialog setzt, droht die Gefahr der Auflösung; wenn man nur das Bekenntnis hinstellt und von den anderen verlangt, sich daran abzuarbeiten, kann das zum Abbruch der Gesprächsbeziehung führen. Es braucht in gewisser Weise eine Balance dieser beiden Haltungen.

HK: In der katholischen Kirche kommt dem Amt theologisch und rechtlich eine besondere Bedeutung zu. Aber welche Rolle können die Amtsträger und darüber hinaus die hauptamtlichen Seelsorger unter den gegenwärtigen kirchlichen und gesellschaftlichen Bedingungen bei den Bemühungen um eine missionarische Pastoral noch haben? Haben sie überhaupt Kapazitäten für die Begleitung individueller Glaubensbiographien frei?

SCHÖNEMANN: Man muss andersherum ansetzen. Missionarische Pastoral hat nämlich entscheidend damit zu tun, dass der einzelne Christ, der einzelne Glaubende mehr zum Zeugnis befähigt wird. Sie alle sind dazu berufen, als Volk Gottes von dem Zeugnis zu geben, was sie erfüllt. Erst als nächster Schritt stellt sich dann die Frage an die Priester wie an die hauptberuflichen Laienmitarbeiterinnen und -mitarbeiter, was es braucht, um entsprechende Prozesse im Volk Gottes zu ermöglichen und zu unterstützen. Dabei ist klar, dass in den größer werdenden pastoralen Einheiten Seelsorge nicht mehr wie bisher praktiziert werden kann. Es kommt vielmehr darauf an, neue Formen zu finden, in denen sich die hauptberuflichen Seelsorger als Unterstützer und "Zeugen der Zeugen" verstehen, die dann nach dem Schneeballprinzip andere Menschen befähigen und mit ihnen zusammen im Glauben unterwegs sind. Missionarische Pastoral meint auch in diesem Bereich keine neue Methode, nichts Zusätzliches, sondern eine veränderte Grundhaltung, einen neuen Stil.

HK: Aber gerade viele in Gemeinden oder auch in Verbänden engagierte Laienchristen werden die Aufforderung zu missionarischer Sensibilität als zusätzliche Bürde wahrnehmen und entsprechend kritisch reagieren, nach dem Motto, was sollen wir denn noch alles tun?

SCHÖNEMANN: Gemeinde als Kirche vor Ort hat ebenso wenig wie Kirche insgesamt die Aufgabe, sich im Sinn eines Vereins selbst zu organisieren. Deshalb dürfen wir auch nicht das Hamsterrad des herkömmlichen Gemeindebetriebs bis zur Erschöpfung weiterlaufen lassen. Demgegenüber müssen wir uns im Sinn eines Paradigmenwechsels neu darauf besinnen, was eigentlich Auftrag von Kirche ist. Die Kirche ist für das Evangelium da und nicht umgekehrt! Aus diesem Grund bin ich übrigens sehr dankbar für das kirchliche Territorialprinzip. Auch wenn die Pfarreien größer werden, tragen sie Verantwortung für das Stück Erde, das ihnen anvertraut ist. Dazu gehört vielleicht eine Schule oder ein Krankenhaus, die in den Blick der Gemeinde vor Ort kommen müssten, als Bewährungsfelder für christliches Zeugnis.

HK: Kann man Christen eigentlich dazu heranbilden, solche Aufgaben bewusster wahrzunehmen und anzugehen?

SCHÖNEMANN: Zumindest in manchen Gegenden Deutschlands ist Christsein so sehr eine Selbstverständlichkeit, dass man dort Menschen dazu verhelfen müsste, das Bewusstsein ihrer Würde als Getaufte neu zu wecken, um auf dieser Grundlage Lebenspraxis aus dem Glauben zu gestalten. Menschen, die keine Christen sind, kann man dagegen anfanghaft auf das anzusprechen versuchen, was Christsein meint. Beides gehört zusammen, weil wir nicht mehr davon ausgehen können, dass Menschen durch Taufe, Erstkommunion und Firmung, durch eine pädagogische Sozialisierung sozusagen automatisch Christen werden. Wir müssen deshalb längere Glaubensprozesse in den Blick nehmen, genauso wie Prozesse der gegenseitigen Stärkung und der Glaubenskommunikation unter Erwachsenen.

HK: Ist dann der Aufwand, der landauf, landab für die Sakramentenkatechese bei Kindern und Jugendlichen getrieben wird, unter dem Blickwinkel einer missionarischen Pastoral überhaupt noch zu rechtfertigen? Müsste man hier nicht umdenken?

SCHÖNEMANN: Es hat sich jedenfalls gezeigt, dass viele pädagogische und katechetische Anstrengungen der letzten dreißig Jahre nicht dazu geführt haben, dass die so religiös Sozialisierten jetzt das kirchliche Leben führen, das wir in den Pfarreien zur Norm erhoben haben. Allerdings lässt sich schwer beurteilen, wo diejenigen, die nicht mehr an unserem kirchlichen Leben teilnehmen, in ihrer Beziehung zu Gott und zu Jesus Christus stehen. Die ganzen sakramentenkatechetischen Prozesse in ihrer Differenziertheit waren wertvolle Erfahrungen; aber jetzt käme es darauf an, diese Erfahrungen zu verbreitern, gerade im Blick auf Erwachsene, und ihre Sprachfähigkeit im Glauben, den man ja nie wie einen festen Bestand besitzen kann.

HK: Die deutschen Bischöfe haben schon vor Jahren mit ihrem Schreiben "Zeit zur Aussaat" Anstöße zu einer missionarischen Neuorientierung vorgelegt. Sie hatten damit nur begrenzte Resonanz. Lässt sich denn ein missionarischer Aufbruch überhaupt von oben gleichsam verordnen?

SCHÖNEMANN: Missionarische Pastoral ist kein Kurzzeitprojekt. "Zeit zur Aussaat" steht für die Option zugunsten eines pastoralen Paradigmas für die nächsten vierzig oder fünfzig Jahre, ausgelöst durch den Millenniumswechsel und die damit verbundene Frage, wie wir auch im neuen Jahrtausend - möglicherweise als Minderheit - glaubwürdig Christen sein können. In den Umstrukturierungsprozessen der einzelnen Bistümer gibt es teilweise die Erfahrung, dass es tatsächlich nur um Strukturen geht. Es gibt aber auch die Erfahrung von vielfältigen Aufbrüchen in den neuen pastoralen Räumen. Dabei zeigt sich, dass Pastoral insgesamt immer weniger von oben zu planen und zu steuern ist. Wir können Kirche und Glauben nicht machen, wohl aber Dinge unterstützen, die von unten wachsen. Missionarische Pastoral bedeutet in diesem Sinn immer auch "Unterscheidung der Geister".

HK: Ihre Arbeitsstelle ist in den neuen Bundesländern lokalisiert, wo die Katholiken, aber auch die Christen insgesamt schon längst in der Situation einer Minderheit leben und Kirche gestalten müssen. Wie werden Christen damit fertig?

SCHÖNEMANN: Diaspora hat immer zwei Gesichter. Auf der einen Seite sucht man aus der Minderheitensituation heraus den Dialog mit dem Fremden, dem Anderen um seiner selbst willen, auf der anderen Seite schließt man sich ängstlich oder auch trotzig als kleine Herde zusammen. Meiner Erfahrung nach kommt man sehr wohl mit Nichtchristen ins Gespräch. Wenn sie mitbekommen, dass man Christ ist und sogar bei der Kirche beschäftigt, löst das durchaus interessierte Nachfragen aus. Das heißt nicht, dass sich solche Menschen gleich taufen ließen. Aber es ist doch eine gewisse Offenheit festzustellen - wenn denn der christliche Gesprächspartner glaubwürdig ist.

HK: Seit etlichen Jahren gibt es den "Erfurter Weg" in Form von kirchlichen Angeboten, die sich speziell an Nichtchristen richten. Wäre das auch darüber hinaus ein zukunftsweisender Ansatz?

SCHÖNEMANN: Die Projekte, die am Erfurter Domberg entwickelt wurden, sind konkrete Antworten auf konkrete Herausforderungen vor Ort. Sie sind deshalb nicht per se auf andere Regionen übertragbar. Es handelt sich im Übrigen um Rituale, die die Gefahr einer Engführung des Missionarischen auf die rituell-liturgische Dimension in sich tragen. Zum Missionarischen gehört aber beispielsweise auch sozial-karitatives Zeugnis. Wichtig ist aber auf jeden Fall, die entsprechenden Projekte genau zu analysieren, um daraus zu lernen. Das geschieht ja auch mit den Erfurter Experimenten.

HK: Inwieweit kann die Kirche in den westdeutschen Bundesländern denn überhaupt von der in den neuen Ländern etwas lernen?

SCHÖNEMANN: Man kann darüber streiten, ob in den westlichen Bundesländern in einigen Jahrzehnten eine ähnliche Minderheitensituation für die Christen anzutreffen sein wird, wie sie derzeit auf dem Gebiet der ehemaligen DDR besteht. Ich bin in dieser Beziehung mit einer Prognose sehr vorsichtig. Entscheidend ist, dass man sich als Kirche in der Minderheit neu über die eigene Situation Gedanken macht und nicht einfach im bisherigen Trott weitermacht. Das ist zunächst eine Frage des Stils und der Haltung. Was daraus an Handlungsoptionen erwächst, steht auf einem anderen Blatt.

HK: Beim Stichwort missionarische Pastoral kommen hierzulande nicht nur die neuen Bundesländer in den Blick, sondern auch katholische Ortskirchen in anderen Teilen der Welt. Anderswo gibt es pastorale Initiativen und auch Veränderungsprozesse, die den kirchlichen Betrieb bei uns zumindest herausfordern. Wo sehen Sie in dieser Richtung am ehesten Lerneffekte?

SCHÖNEMANN: Es lohnt sich beispielsweise durchaus, sich mit dem Phänomen der "small christian communities" zu beschäftigen, wie es sie vielerorts in der Weltkirche gibt. Sie sind jedoch nicht als "Modell" eins zu eins auf Deutschland übertragbar. So ist es ein Irrweg, solche kleinen Gemeinschaften als Substrukturen für die neuen Großpfarreien bei uns installieren zu wollen. Es macht ja das Wesen von kleinen christlichen Gemeinschaften aus, dass sie von unten her wachsen; sie sind Ausdruck des Laienapostolats, auch eines bestimmten Umgangs mit der Heiligen Schrift. Auch der Blick auf die katholische Kirche in den USA, der zur Zeit en vogue ist, fördert Licht wie Schatten zu Tage. Will man etwa das amerikanische Marktmodell von Gemeinde bei uns übernehmen und entsprechende Mitgliederwerbung betreiben?

HK: Nun besteht aber das dynamische Segment innerhalb der Christenheit derzeit aus Gemeinschaften, die direkt und offen missionieren und damit auch messbare Erfolge erzielen. Muss das nicht auch der katholischen Kirche hierzulande zumindest zu denken geben?

SCHÖNEMANN: In Deutschland mit seinem Stand an theologischer Bildung können wir hinter bestimmte Standards nicht zurückfallen. Sicher gibt es auch hierzulande die Suche nach einfachen Antworten, vielleicht auch als ein Stück weit erklärbare Gegenbewegung zur Moderne mit ihrer Komplexität und ihrem Veränderungstempo. Aber es empfiehlt sich trotzdem, im Bereich des Glaubens auf zu einfache Wege zu verzichten und auch dem Reflexiven Raum zu geben. Der Katholik von morgen wird sicher auch ein gebildeter Katholik sein müssen, der darüber sprechen und sich damit auseinandersetzen kann, was sein Glaube ist und welche Rolle dieser in seinem Leben spielt.

HK: Evangelisierung ist in jedem Fall eine eminent ökumenische Aufgabe, auch wenn die Kirchen und Gemeinschaften ihre Schwerpunkte unterschiedlich setzen. Was heißt das für Ihre Arbeit in Sachen missionarische Pastoral?

SCHÖNEMANN: Theologisch betrachtet ist die Einheit der Kirche Jesu Christi fundamental mit der Frage nach dem Zeugnis des Evangeliums verbunden. Für ein glaubwürdiges christliches Zeugnis ist es sozusagen der Lackmustest, ob damit nur konfessionelle Interessen verfolgt werden, es also um die Auffüllung evangelischer oder katholischer Plätze oder um einen möglichst hohen Grad gesellschaftspolitischen Einflusses geht, oder ob es uns um den einen Jesus Christus und sein Evangelium zu tun ist. In Deutschland befinden sich beide großen Kirchen in einem ähnlichen Prozess, den sie allerdings unterschiedlich angehen. Die evangelische Kirche setzt mehr auf Organisationsentwicklung, die katholische legt den Akzent stärker auf die theologisch-ekklesiologische Reflexion. Wir tauschen uns als Arbeitsstelle mit den entsprechenden Institutionen auf der evangelischen Seite aus, und es gibt jedenfalls auf der wissenschaftlichen Ebene durchaus gemeinsame Bemühungen. Im praktischen Bereich dominiert allerdings nach wie vor das konfessionelle Element.

HK: Die "Arbeitsstelle für missionarische Pastoral" ist seit Anfang 2010 aktiv. Haben Sie in diesen etwas mehr als anderthalb Jahren Ihre Marktlücke im vielfältigen kirchlichen Betrieb denn schon gefunden?

SCHÖNEMANN: Unsere Aufgabe besteht zum einen in der Beobachtung und Analyse einschlägiger Entwicklungen in Gesellschaft und Kirche; zum anderen haben wir den Auftrag, Dinge zusammenzuführen. Sicher gibt es viele Institutionen, die bisher schon auf dem Feld der missionarischen Pastoral tätig waren. Die Arbeitsstelle ist der Deutschen Bischofskonferenz zugeordnet und wir versuchen dementsprechend, bestimmte Erfahrungen und Einsichten in ihre Arbeit einzuspeisen. Gleichzeitig sollen wir die einzelnen Bistümer dabei unterstützen, sich auf entsprechende Prozesse einzulassen. Es geht uns darum, in der Unterschiedlichkeit der missionarischen Entwürfe und Verstehensansätze immer wieder das große Thema der missionarischen Pastoral wachzuhalten, einen Diskurs zu moderieren, in dem den jeweiligen Partnern immer wieder deutlich wird, wie sie missionarische Pastoral kontextuell betreiben wollen.

HK: Vor wenigen Wochen hat der Weltjugendtag in Madrid stattgefunden. Diese Veranstaltungsform hat sich inzwischen fest etabliert, genauso wie in Deutschland die Katholiken- und Kirchentage mit ihren ebenfalls sehr vielen jugendlichen Teilnehmern. Welchen Stellenwert können solche Großereignisse für die missionarische Ausstrahlung von Kirche haben? Sind sie mehr als Strohfeuer?

SCHÖNEMANN: Von Großereignissen wie den Weltjugendtagen lassen sich viele Menschen ansprechen, allerdings auf eine bestimmte Art und Weise. Deshalb sind sie letztlich auch ein Beleg dafür, wie sich religiöse Ausdrucksformen wandeln. Der Trend geht heute von der kontinuierlichen Mitgliedschaft in einer Pfarrgemeinde eher zu punktuellen Begegnungen. Das zeigt sich übrigens nicht nur bei der Faszination durch Großereignisse, sondern auf andere Art auch bei der Citypastoral oder bei der Tourismuspastoral: Menschen, die sonst kaum Kontakt zur Gemeinde haben, besuchen im Urlaub plötzlich den Gottesdienst. Allgemein gilt: Bestimmte Ideen und Konzepte der Pastoral lassen sich eine Zeit lang verwirklichen und finden Anklang, aber dann muss man über neue Formen nachdenken, wie man Menschen abholen und ansprechen kann, wie sich verbindlichere Gemeinschaften des Glaubens bilden lassen.

HK: Und wie könnte die Entwicklung von Kirche in Deutschland insgesamt aussehen? Stehen uns weitere Abbrüche und Erosionsprozesse ins Haus, oder besteht die realistische Aussicht auf so etwas wie eine Trendwende, möglicherweise auch als Ergebnis einer stärker missionarischen Grundausrichtung?

SCHÖNEMANN: Die Kirche wird in zwanzig, dreißig Jahren zahlenmäßig noch mehr Minderheit sein; sie wird auch gesellschaftlich an Einfluss verlieren. Das muss aber nicht unbedingt schlecht sein. Aus einer solchen Position heraus kann die Kirche auch glaubwürdiger werden, weil sie bestimmte Machtpotenziale eingebüßt hat oder aufgeben musste. Sie wird sich dann deutlicher auf das konzentrieren, wofür sie eigentlich da ist, als Minderheit eine Art Reinigungsprozess durchmachen. Nehmen Sie die ausgehende Antike: Damals war das Christentum eine Minderheit im Römischen Weltreich, auch noch zu Zeiten von Kaiser Konstantin. Auch damals war das Christentum übrigens alles andere als uniform, sondern sehr vielgestaltig. Es war dennoch für Menschen unterschiedlicher Gesellschaftsschichten und Kulturen attraktiv. Die Kirche befindet sich heute zunehmend in einer ähnlichen Situation, mit unterschiedlichen Gesprächspartnern und entsprechend differenzierten Handlungsfeldern. Entscheidend dürfte für die weitere Entwicklung sein, dass man sich bei aller Arbeitsteiligkeit in den Grundimpulsen einig ist.

HK: Dieser Verständigung in den Grundimpulsen soll nicht zuletzt der innerkirchliche Dialogprozess dienen, der mit einer ersten Veranstaltung in Mannheim in diesem Sommer offiziell für die Kirche in Deutschland eröffnet wurde. Was kann und soll dieser Dialogprozess für das Anliegen einer missionarischen Pastoral bringen?

SCHÖNEMANN: Falls der Dialogprozess gelingt, ist er ein eminent missionarisches Unternehmen. Missionarische Pastoral meint ja letztlich Dialog mit dem Fremden, dem Anderen meiner selbst, um die Wahrheit Christi zu finden. Deshalb ist Dialog nicht Verwässerung oder ein Herlaufen hinter dem Zeitgeist, sondern eine eigenständige Weise, sich durch die Auseinandersetzung mit den Zeichen der Zeit den Glauben wieder neu schenken zu lassen. Das Evangelium ist nicht einfach ein festes Paket, das unverändert weitergegeben wird, sondern vielmehr eine lebendige Beziehungswirklichkeit, die sich in jeder neuen Situation neu konfiguriert, die sich auch dort zeigen kann, wo wir es zunächst nicht für möglich halten. Deshalb ist missionarische Pastoral als Dialog eine Entdeckungsreise, ein eminent geistlicher Prozess.


Dr. Hubertus Schönemann (geb. 1966) arbeitete nach seinem Theologiestudium als Pastoralreferent in Gemeindeseelsorge und Erwachsenenbildung, schließlich als Hochschulseelsorger in Braunschweig. 2010 übernahm er die Leitung der neu gegründeten "Katholischen Arbeitsstelle für missionarische Pastoral" der Deutschen Bischofskonferenz in Erfurt.


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
65. Jahrgang, Heft 10, Oktober 2011, S. 501-505
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Dezember 2011