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GESCHICHTE/031: Eine erste Lektüre des Philemonbriefes (Bibel heute)


Bibel heute
Zeitschrift des Katholischen Bibelwerks e.V. Stuttgart - Heft 1/2009

"Paulus ... an Philemon ..."
Eine erste Lektüre des Philemonbriefes

Von Dieter Bauer


Ein persönlicher Brief ist ein hervorragender Ausgangspunkt, um einen Menschen kennenzulernen. Vom Apostel Paulus sind uns sogar mehrere solcher Briefe erhalten. Der kürzeste dieser Briefe, der Philemonbrief, soll hier in einem ersten Durchgang vorgestellt werden.


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Jesus von Nazaret hat uns keine einzige Zeile hinterlassen. Vielen von uns ist das vielleicht gar nicht immer so bewusst. Aber: Nach allem, was wir aus dem Neuen Testament von ihm wissen, hat er nie geschrieben - mit einer Ausnahme: in den Sand (Joh 8, 6). Das heißt nun aber: Alles, was wir von Jesus wissen, wissen wir über andere, von Leuten also, die mit Jesus in irgendeiner Weise in Berührung gekommen sind.

Ganz anders ist dies bei Paulus. Auch über ihn sind wir zwar relativ gut durch andere, v. a. durch Lukas in seiner Apostelgeschichte, informiert. Doch haben wir von ihm auch Selbstzeugnisse: seine Briefe. Das ist ein absoluter Glücksfall. Denn: Um einen Menschen wirklich kennenlernen zu können, muss man wissen, was er oder sie selbst gesagt oder gedacht hat und nicht nur, was andere sagen und denken, bzw. verstanden zu haben glauben. Manches Bild von berühmten Persönlichkeiten musste schon revidiert werden, nachdem man die eigenen Aufzeichnungen (Briefe, Tagebücher ...) aus dem Nachlass zu Gesicht bekommen hatte. Die persönlichen Äußerungen des Betreffenden haben noch einmal ein ganz anderes Gewicht als die Zeugnisse selbst der besten Freunde.


Ein persönlicher Brief

Briefe geben Aufschluss über das Denken und Handeln des Schreibenden, von seinen Wünschen und Träumen, von seinen Freuden und Leiden. Es sind Zeugnisse, die aus ganz konkreten Anlässen - im Fall des Paulus sind dies meist Anfragen von Gemeinden - entstanden sind und die natürlich immer nur eine Seite des Gesprächs zwischen Paulus und den Adressaten widerspiegeln: die Position des Paulus. Was seine Briefpartner gefragt haben, was sie von Paulus gedacht haben und wie sie wohl auf seine Briefe reagiert haben, können wir oft nur sehr indirekt erschließen. Wie gesagt: Sichtbar ist nur die eine Seite des Dialogs, nämlich die des Paulus.

Das bedeutet dann auch, dass wir von den Briefpartnern des Paulus meist sehr wenig wissen, weil die konkreten Umstände in einem Brief ja nicht eigens erwähnt werden müssen, sondern als beiden bekannt vorauszusetzen sind. Nur wir Heutigen wüssten gerne manches genauer. Da wir aber außer dem Brief selbst oft nichts in Händen haben, müssen wir diesen sehr genau lesen, auch zwischen den Zeilen, um ihm die Geheimnisse zu entringen, die nicht explizit ausgesprochen werden. Dies soll an dieser Stelle mit dem Brief an Philemon versucht werden:


Die Grußadresse

Paulus, Gefesselter Christi Jesu, und Timotheus, der Bruder, an Philemon, den Geliebten und unseren Mitarbeiter, und an Aphia, die Schwester, und an Archippus, unseren Mitkämpfer, und an die Gemeinde, die in deinem Haus ist: Gnade sei euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus!(Phlm 1-3)


Wie damals üblich (s. unten: "Exkurs"), beginnt unser Brief mit einer Grußadresse (Praeskript). Die übliche Bezeichnung "Brief an Philemon" suggeriert zwar einen Privatbrief, doch sieht man auf den ersten Blick, dass weder Paulus alleine schreibt, noch dass Philemon der einzige Adressat ist: zwei weitere Personen werden genannt, an die der Brief gerichtet ist, sowie eine ganze Gemeinde, die sich offensichtlich im Haus dieses Philemon versammelt. Dass Paulus kein "Einzelkämpfer" war, wird bereits hier deutlich (vgl. den Beitrag von Sabine Bieberstein auf S. 14ff der Printausgabe). Aber auch, dass dieser Brief nicht eine Privatangelegenheit verhandelt, sondern die gesamte Gemeinde betrifft. In dieser Hausgemeinde des Philemon wurde der Brief wahrscheinlich auch vorgelesen! Und in dieser Hausgemeinde wurde dann auch darüber gesprochen, was zu tun war (Wie man sich eine solche Hausgemeinde vorstellen muss, davon handelt der Beitrag von Claudio Ettl S. 8ff der Printausgabe).

Was wir leider aus den ersten beiden Versen des Briefes nicht erfahren, ist der Ort, an dem sich diese Hausgemeinde versammelt hat, an die der Apostel Paulus schreibt: Wir wissen also nicht, wo Philemon gewohnt hat.

Aber über die persönliche Situation, in der sich der Briefschreiber Paulus gerade befindet, erfahren wir etwas im Präskript: Er stellt sich vor als "Gefesselter" Christi Jesu. Wäre dies die einzige Stelle im Brief, an der Paulus von seinen "Fesseln" spricht, könnte man das noch symbolisch verstehen. Doch innerhalb des Briefes wird das Reden von den Fesseln einen so wichtigen Raum einnehmen (V. 9 nochmals: "Gefesselter"; V. 10.13: "Fesseln"), dass wir getrost von einer Situation des Paulus in Gefangenschaft ausgehen dürfen, auch wenn er mit der Mehrdeutigkeit des Begriffes "Fesseln des Evangeliums" durchaus gespielt haben dürfte. Und er grüßt Philemon und die Gemeinde mit dem für ihn üblichen Gruß (vgl. Röm 1,7; 1 Kor 1,3; 2 Kor 1,2 u. ö.), der sich an jüdische Konvention anlehnt: Hinter dem Friedensgruß verbirgt sich das hebräische "Schalom alechem"!


Die Briefeinleitung

Ich danke meinem Gott, indem ich allezeit deiner in meinen Gebeten gedenke, da ich von deiner Liebe und von dem Glauben höre, den du an den Herrn Jesus und allen Heiligen gegenüber hast, dass die Gemeinschaft deines Glaubens wirksam werde in der Erkenntnis alles dessen, was bei uns im Hinblick auf Christus als gut gilt. Denn ich hatte viel Freude und Trost wegen deiner Liebe, weil die Herzen der Heiligen durch dich, Bruder, erquickt worden sind. (Phlm 4-7)


Seine Briefeinleitung hat Paulus ganz als Gebet gestaltet (vgl. den Beitrag von Petr Marecek S. 11ff der Printausgabe). Er konzentriert sich ganz auf sein persönliches Verhältnis zu Philemon: Er hat von dessen "Liebe und Glauben gehört". "Was bei uns im Hinblick auf Christus als gut gilt", darum geht es Paulus, und das möchte er vor allem auch bei Philemon sehen (vgl. meinen Beitrag auf S. 22ff der Printausgabe). Was das Anliegen seines Briefes aber genau ist, davon spricht er in der Briefeinleitung (noch) nicht. Bevor er das ausspricht, möchte er den "geliebten" (V. 1) "Bruder" (V. 7) ganz von sich einnehmen. Erst wenn er damit rechnen kann, lässt er "die Katze aus dem Sack":


Der Grund des Schreibens

Deshalb, obwohl ich große Freiheit in Christus habe, dir zu gebieten, was sich ziemt, bitte ich doch vielmehr um der Liebe willen als ein solcher, wie ich bin: Paulus, der Alte, jetzt aber auch noch ein Gefesselter Christi Jesu. Ich bitte dich für mein Kind, das ich gezeugt habe in den Fesseln, Onesimus, der dir einst unnütz war, jetzt aber dir und mir nützlich ist. Den habe ich zu dir zurückgesandt - ihn, das ist mein Herz. Ich wollte ihn bei mir behalten, damit er statt deiner mir diene in den Fesseln des Evangeliums. Aber ohne deinen Willen wollte ich nichts tun, damit dein Gutes nicht wie gezwungen, sondern freiwillig sei. (Phlm 8-14)


Das eigentliche Anliegen des Paulus erfahren wir innerhalb seines Briefes erst relativ spät, genau genommen erst in V. 10, wo er das Kind beim Namen nennt: "Onesimus".

Wer ist Onesimus? Paulus bezeichnet ihn als sein "Kind", das er "in Fesseln gezeugt" habe. Das heißt, dass Onesimus wohl während der Gefangenschaft des Paulus von diesem getauft oder zumindest für die christliche Gemeinde gewonnen wurde. Paulus schickt diesen Onesimus zu Philemon zurück ("diesen führe ich Dir vor"; V. 12), also muss er von dort gekommen sein. Eigentlich aber hätte ihn Paulus lieber gleich bei sich behalten, weil er ihn braucht in seiner Verkündigungsarbeit. "Damit er ... mir diene" meint nicht einfach Besorgungen im Gefängnis, sondern ist ein christlicher "Fachbegriff" für den missionarischen Dienst! Wer aber genau ist dieser Onesimus?


Denn vielleicht ist er deswegen für eine Zeit von dir getrennt worden, damit du ihn für immer besitzen sollst, nicht länger als einen Sklaven, sondern mehr als einen Sklaven, als einen geliebten Bruder, besonders für mich, wie viel mehr aber für dich, sowohl im Fleisch als auch im Herrn. Wenn du mich nun für deinen Gefährten hältst, so nimm ihn auf wie mich! Wenn er dir aber irgendein Unrecht getan hat oder dir etwas schuldig ist, so rechne dies mir an! Ich, Paulus, habe es mit meiner Hand geschrieben, ich will bezahlen; damit ich dir nicht sage, dass du auch dich selbst mir schuldig bist. Ja, Bruder, ich möchte gern Nutzen an dir haben im Herrn. Erquicke mein Herz in Christus! (Phlm 15-20)


Paulus bittet Philemon um eine brüderliche Aufnahme des Onesimus (V. 16). Und erst hier erfahren die Leserinnen und Leser des Briefes, was Philemon mit Onesimus eigentlich zu tun hat: Onesimus ist sein "Sklave" (2 x so bezeichnet in V. 16!). Paulus bittet also den Philemon, seinen eigenen Sklaven Onesimus "brüderlich" aufzunehmen. Wie ihm sein Sklave abhanden gekommen ist, sagt uns der Brief nicht, da müssen wir unsere Phantasie bemühen: Ob Onesimus geflüchtet ist, ob er mit einem Auftrag zu Paulus kam, ob er bei Paulus Zuflucht vor seinem Herrn gesucht hat, ob er etwas ausgefressen hatte (Paulus zieht eventuelle Schadenersatzansprüche des Philemon in Betracht V. 18); wir wissen es nicht. Paulus scheint das Thema auch nicht größer zu interessieren. Immerhin zieht er in Betracht, dass es eine höhere Instanz geben könnte, die diese Trennung von Herrn und Sklave verursacht hat: "er ist von dir getrennt worden" könnte nämlich auch eine vornehme Umschreibung göttlichen Handelns sein!


Der Briefschluss

Da ich deinem Gehorsam vertraue, habe ich dir geschrieben, und ich weiß, dass du auch mehr tun wirst, als ich sage. Zugleich aber bereite mir auch eine Herberge! Denn ich hoffe, dass ich durch eure Gebete euch werde geschenkt werden. Es grüßt dich Epaphras, mein Mitgefangener in Christus Jesus, Markus, Aristarch, Demas, Lukas, meine Mitarbeiter. Die Gnade des Herrn Jesus Christus sei mit eurem Geist! (Phlm 21-25)


Der Brief endet mit großen Erwartungen des Paulus an Philemon. Und diesen Erwartungen wird noch dadurch Nachdruck verliehen, dass Paulus sein Kommen ankündigt, das heißt, dass er eventuell persönlich nachschauen kann, wie die Geschichte weitergegangen ist. Und Paulus lässt auch die Grüße seiner Mitarbeiter ausrichten, die alle über den "Fall Onesimus" informiert sind. Was kann Philemon wohl anderes tun, als die Erwartungen des Paulus zu erfüllen?


Dieter Bauer leitet seit 2002 die Bibelpastorale Arbeitsstelle des Schweizerischen Katholischen Bibelwerks in Zürich. Gleichzeitig ist er als Mitglied der Redaktion "Bibel heute" verantwortlich für zwei Ausgaben im Jahr.


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EXKURS

Wie muss man sich Briefe in der Antike vorstellen?

Ein antiker Brief, im Fall des Philemonbriefes umfasste er gerade mal ein einzelnes Papyrusblatt, war gefaltet und enthielt auf der Außenseite die Grußadresse (Präskript), etwa: "Gaius Plinius grüßt seinen Sabinianus". In der orientalischen Variante, die auch Paulus im Prinzip benützt, heißt es einfach: "A an B. Friede sei mit Dir/Euch".

Im Gegensatz zu unseren heutigen Briefen, die wir mit der Post verschicken, wurden Briefe in der Antike persönlich überbracht. Die Überbringer hatten also die Adresse im Kopf. Man musste sie nicht eigens aufschreiben.

Je nach Anliegen (und Dringlichkeit) des Briefes folgte dann aus Gründen der Höflichkeit und der Reverenz für den Empfänger eine Briefeinleitung (Proömium), in welcher der eigentliche Kontakt aufgenommen und Gemeinsamkeiten erinnert wurden. In Bittbriefen findet sich hier auch schon der Versuch, den Empfänger vom (folgenden) Anliegen des Schreibenden einzunehmen, die sogenannte captatio benevolentiae (= "Erringen von Wohlwollen").

Der Hauptteil des Briefes bringt dann das eigentliche Anliegen des Briefes zur Sprache. Hier werden - je nach Anliegen - die entsprechenden Argumente untergebracht. Ein solcher Brief schließt dann wieder sehr höflich: mit einer Zusage des Vertrauens, mit Grüßen aus der Umgebung des Absenders (ein Brief war in der Antike etwas sehr Besonderes!) und schließlich mit dem Schlussgruß: "Leb wohl!"


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Die Zeitschrift ist für Blinde und Sehbehinderte auch als pdf-Datei erhältlich.
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Quelle:
Bibel heute - 1. Quartal 2009, Nr. 177, Seite 4-7
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. August 2009