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GESCHICHTE/032: 500 Jahre Johannes Calvin (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 7-8/2009

Die Goldene Regel der Gegenseitigkeit
500 Jahre Johannes Calvin

Von Andrea König


Am 10. Juli jährt sich der Geburtstag des Reformators Johannes Calvin, neben Martin Luther und Huldrych Zwingli eine zentrale Gestalt der Reformationsepoche, zum 500. Mal. Sein Jubiläum fällt in die Zeit einer weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise. Einer weit verbreiteten Auffassung zufolge wird Calvin häufig als geistiger Wegbereiter des modernen Kapitalismus bezeichnet und ein innerer Zusammenhang zwischen Calvinismus und moderner Geldwirtschaft propagiert. Angesichts dieser populären These, die auf den Soziologen Max Weber zurückgeht, bietet das Jubiläum des Reformators Gelegenheit, falsche Vorstellungen zu korrigieren und Calvins Potenzial für die Gegenwart aufzuzeigen.


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Johannes Calvin wird oft als strenger und harter Despot dargestellt, der in Genf eine tyrannische Herrschaft errichtet haben soll und als intoleranter Machtmensch über Leichen gegangen sei. Vor allem sein Verhalten im Prozess gegen den spanischen Theologen und Arzt Michael Servet hat das Bild Calvins nachhaltig geprägt, wie auch Stefan Zweigs Buch Castellio gegen Calvin. Ein Gewissen gegen die Gewalt von 1936, worin der Reformator als religiöser Terrorist gezeichnet und im Kampf gegen den aufkommenden Nationalsozialismus zur Chiffre für Hitler gemacht wird. Seither leidet Calvin vor allem in Deutschland an einem schwer behebbaren Image-Problem. Auch Konfessionsstreitigkeiten und schwerwiegende Irrtümer bei der Rezeption Calvins sind mitunter Gründe dafür. Will man deshalb tatsächlich zu dem Reformator vordringen, dann muss die Frage, wer der Mann war, der Genf zu einem "protestantischen Rom" machte und eine Bewegung entfachte, die weite Teile Europas und der Neuen Welt prägen sollte, unabhängig von Vorurteilen gestellt werden.


Die Erfahrung des Exils

Es ist nicht einfach, einen Zugang zu Calvins Persönlichkeit zu finden. Anders als Luther war er sehr zurückhaltend, und nichts lag ihm ferner als öffentliche Selbstdarstellung. "Von mir selbst spreche ich nicht gern", schreibt er in einem seiner Briefe und charakterisiert sich selbst als schüchtern.

Geboren wird er am 10. Juli 1509 als Jean Cauvin im nordfranzösischen Noyon. Als Luther in Wittenberg seine 95 Thesen über den Ablasshandel anschlägt und damit die Reformation einleitet, ist Calvin erst acht Jahre alt. Dank der angesehenen Stellung seines Vaters genießt er eine Erziehung in adeligen Kreisen und studiert Rechtswissenschaften. Er verschreibt sich den Zielen der humanistischen Bewegung, lernt Griechisch und widmet sich nach dem Tod seines Vaters dem Studium alter Sprachen. Wann Calvin sich vom "papistischen Aberglauben" abwendet, ist unklar, doch gerät er 1533 in Paris unter Verdacht, Lutheraner zu sein. Das zwingt ihn dazu, zunächst die Stadt und, im Zuge verschärfter Protestantenverfolgungen, im Jahr darauf Frankreich zu verlassen. Calvins Erfahrung der Verbannung und des Exils prägen ihn zutiefst und bilden den existenziellen Kontext, von dem aus er die Heilige Schrift zu deuten beginnt.

Calvin ist theologischer Autodidakt und Reformator der zweiten Generation. Als er sein Werk beginnt, kennt er nicht nur die Schriften der ersten Reformatoren, sondern tritt in den von ihnen bereits geschaffenen Ideenkreis ein. Dies ermöglicht ihm anders als seinen Vorgängern, das reformatorische Anliegen stärker auf die Gesellschaft auszurichten und seine Theologie in einer Kirchenorganisation umzusetzen, die sich ebenso um religiöse wie um soziale und moralische Fragen kümmert. Nach seiner Flucht aus Frankreich gerät er auf Reisen eher zufällig nach Genf. Dort nimmt sich Calvin auf Drängen des dort tätigen, ebenfalls französischen Reformators Guillaume Farel der reformatorischen Sache an und macht der Stadt einen Vorschlag zur Neuorganisation der Kirche. Die Lage eskaliert, als die Einwohner von Genf einen Eid auf das neue Glaubensbekenntnis ablegen sollen. Calvin muss die Stadt verlassen und übernimmt auf Einladung von Martin Bucer die Betreuung der französischsprachigen evangelischen Flüchtlingsgemeinde in Straßburg.


Nur die Schrift, der Glaube und die Gnade

Drei Jahre ist er dort als Pastor tätig und denkt nicht daran, nach Genf zurückzukehren. Als Genf ihn aber bittet, seine Arbeit dort wieder aufzunehmen, kommt Calvin der Bitte nach anfänglichem Zögern 1541 nach. Der Rat der Stadt genehmigt schon kurze Zeit später die hauptsächlich von Calvin ausgearbeitete Kirchenordnung, die Calvin in den folgenden Jahren auch institutionell verankert. Er rekrutiert ein Kollegium und modelliert ein Konsistorium - ein Sittengericht, nach seinen Vorstellungen.

Mit Predigt, Katechese und Konsistorium versucht er zusammen mit anderen Pastoren die Stadtbewohner im Sinne protestantischen Glaubens umzuerziehen und ihr Verhalten auf eine sittliche Lebensführung auszurichten. Es kommt jedoch immer wieder zu Protesten gegen das Konsistorium und Calvins Theologie, die über Genf hinaus Aufsehen erregen und Calvin den Ruf eines Despoten und Fanatikers eintragen. Die Widerstände, mit denen er bis an sein Lebensende zu kämpfen hat, zeigen, dass er alles andere als ein souveräner Tyrann in Genf gewesen ist. Vielmehr bleibt er bis zu seinem Tod ein Fremder in der Stadt, deren Bürgerrecht er erst fünf Jahre vor seinem Tod annimmt.

Calvins Zurückhaltung in persönlichen Äußerungen lässt vermuten, dass er den Schlüssel zum Verständnis seines Wirkens völlig in seiner Theologie sah. Sogar für seine Beerdigung ordnet er das Verbot eines Grabsteines an, um jeglichen Kult um seine Person zu vermeiden. Seine Theologie stützt sich auf die Grundprinzipien der Reformation: allein die Schrift soll Maßstab des Glaubens sein; allein der Glaube rechtfertigt und nicht die "guten Werke" (was eine Absage an die Vorstellung bedeutete, der Mensch könne durch sein Handeln seinen Stand vor Gott verbessern); allein aus Gnade erlangt der Mensch sein Seelenheil, allein Christus ist der Mittler zwischen Gott und Mensch.

Mit hoher Originalität setzt Calvin seine Überzeugung durch, dass vor Gott nicht das geringste Werk des Menschen Bedeutung hat, sondern dass sein Heil ganz von der Gnade Gottes abhängt. Seine Überlegungen sind dabei stark geprägt von seiner Erfahrung als Flüchtling und Migrant. In der politischen, wirtschaftlichen und religiös-kirchlichen Unsicherheit seiner Zeit besteht für Calvin die Größe Gottes vor allem in der Zusage seiner fürsorglichen Vorsorge. So wie die Israeliten einst fern der Heimat durch die Wüste zogen und an der Vorsehung Gottes festhielten, beschreibt Calvin aus der Erfahrung der Verbannung seine umstrittene Lehre der Prädestination. Die Erwählung Gottes ist für ihn primär eine Ermutigung, eine Antwort auf die Angst, im Zuge der Verfolgung dem Druck nicht mehr standhalten zu können. Die Vorsehung entspringt der Gewissheit, dass uns nicht voraussagbare Konsequenzen erwarten. Nicht der menschliche Glaube bestimmt diese, sondern das dem Glauben vorausgehende Handeln Gottes.


Die Verantwortung des Menschen

Aus dieser Vorsorge Gottes zum Heil und Dienst entsteht für Calvin ganz selbstverständlich die ethische Verantwortung des Menschen. Damit werden Missstände in Kirche, Staat und Gesellschaft aus dem Bereich des Schicksalhaften in einen Bereich hinein verlagert, in dem der Mensch auf Herausforderungen reagieren kann. Da der Mensch als verantwortliches Wesen betrachtet wird, wird ihm auch die Verantwortung für wirtschaftliche oder politische Mängel zugeschrieben, die früher als Handlungen Gottes erduldet werden mussten. Calvin drängt darauf, die von Gott gesandten Katastrophen von menschlich verursachten Übeln zu unterscheiden. Mit dieser Fähigkeit zur begründeten Kritik und Unterscheidung übt er an der Schwelle zur Neuzeit großen Einfluss auf die Entwicklung des modernen Bewusstseins aus. Die ethische Verantwortung spielt jedoch nicht nur bei der Gestaltung des sozialen Lebens eine wichtige Rolle, sondern wirkt sich auch ökonomisch aus. Dabei sind Calvins Überlegungen zutiefst theologisch verwurzelt und entspringen nicht einem opportunistischen Zeitgeist.

Besitz und Wohlstand betrachtet Calvin als Gaben Gottes, die zur gegenseitigen Unterstützung verwendet werden sollten. Er betont jedoch auch, dass die Sündhaftigkeit des Menschen diese Gaben Gottes verdirbt, so dass sie, statt zur Unterstützung der Armen und Notleidenden, zu Materialismus, Habgier, Ungerechtigkeit, übertriebenem Luxus und Unterdrückung der Armen führen.

Calvin ist überzeugt, dass nicht alle Formen des finanziellen Gewinns als ungerecht verurteilt werden dürfen, ist sich aber bewusst, wie anfällig der sündige Mensch dafür ist, den mit Geld verbundenen Versuchungen zu erliegen.

Seine Überlegungen verbindet er daher mit strengen Regeln und fordert einen fairen Zins u. a. unter folgenden Auflagen: zinsloses Darlehen für Arme und keine Rückzahlungsforderung in extremer Not; die Goldene Regel der Gegenseitigkeit darf bei der Aufnahme eines Zinsdarlehens nicht verletzt werden; die Summe, die der Schuldner mit dem Darlehen erwirtschaftet, soll mindestens so viel Gewinn einbringen, wie der Zins für den Gläubiger; nicht wirtschaftliche oder politische Kriterien bilden den Maßstab für Zinsregelungen, sondern allein, was Gottes Willen entspricht; nicht nur der persönliche Nutzen ist zu beachten, sondern das, was der Allgemeinheit nützlich ist, d.h. ein Vertrag muss dem allgemeinen Wohl mehr nützen als schaden.

Schon diese knappe Skizze zeigt, dass Calvin nicht das kapitalistische Erwerbsstreben begründete, sondern darum bemüht war, das am ausgehenden Mittelalter aufkommende Erwerbsstreben ethisch zu bändigen. Von besonderem Wert ist deshalb, dass Calvin im Gegensatz zu seinen Zeitgenossen den neuen Aspekt der sozialen Beziehungen moderner Zeit, an deren Schwelle er sich befand, vorausgeahnt zu haben scheint. Nicht das Wohl des Einzelnen, sondern das Wohl des Gemeinwesens steht im Zentrum seiner Überlegungen. Nicht nur gesetzliche Regelungen müssen beachtet werden, sondern auch die Grenzen, die das Gewissen aufzeigt.

Und so zeigt sich, auch wenn uns 500 Jahre von Calvin trennen und manche seiner Züge dem modernen Menschen fremd bleiben, eine Persönlichkeit, die uns in wirtschaftsethischer Hinsicht noch heute etwas zu sagen hat. Es zeigt sich aber auch, dass das kapitalistische Desaster von heute gewiss nicht auf Calvin zurückgeht: denn nach ihm stellt nicht Geld Sicherheit her, sondern einzig und allein Gottvertrauen.


Andrea König (* 1975) ist Wissenschaftliche Assistentin am Institut für Evangelische Theologie der Universität Regensburg.


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 7-8/2009, S. 86-89
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Anke Fuchs,
Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. September 2009