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GESCHICHTE/033: Zum 500. Geburtstag Johannes Calvins (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion 7/2009

Prophet der Ehre Gottes
Zum 500. Geburtstag Johannes Calvins

Von Michael Becht


Die Kirchen der Reformation gedenken in diesem Jahr des 500. Geburtstags des Genfer Reformators, an dessen Person sich auch heute noch die Geister scheiden: Während die einen in ihm den Verfechter unbarmherziger Sittenstrenge und religiöser Intoleranz sehen, gilt er den anderen als Wegbereiter der Moderne. Das Jubiläum lädt dazu ein, einen neuen und differenzierten Blick auf den Reformator Westeuropas zu richten.


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Zahlreiche Veranstaltungen und Publikationen befassen sich in diesem Jahr mit Johannes Calvin, der als Gründungsvater des reformierten Protestantismus gilt. Nicht nur für die Festigung und Ausgestaltung der Reformation, sondern auch für die Herausbildung der westlichen Kultur im 16. und 17. Jahrhundert hat der Reformator Entscheidendes geleistet. Und doch mutet ein Calvin-Jahr mit seinen Gedenkveranstaltungen in gewisser Weise befremdlich an, tritt doch der Reformator viel stärker als Luther hinter seinem Werk zurück. Auf seinen ausdrücklichen Wunsch hin wurde er nach seinem Tod in einem namenlosen Grab in Genf bestattet, so dass kein Grabstein seine Ruhestätte bezeichnet.

Gerade im deutschen Sprachraum steht seine Person auffällig im Schatten anderer Reformatoren wie Martin Luther, Ulrich Zwingli, Philipp Melanchthon oder Martin Bucer. Die so mit einem Calvin-Gedenkjahr verbundene Schwierigkeit erhält insofern noch einen besonderen Akzent, als das Bild des Reformators schon zu seinen Lebzeiten erhebliche und bis heute nachwirkende Verfälschungen und Verleumdungen erfuhr. In diesem Sinne diente er auch Stefan Zweig in seinem in der NS-Zeit geschriebenen Buch "Castellio gegen Calvin oder Ein Gewissen gegen die Gewalt" als Symbolfigur für all das, was der aus Hitlerdeutschland vertriebene Schriftsteller zutiefst verabscheute.


Ein theologischer Autodidakt

Als Jean Cauvin (latinisiert: Calvinus) am 10. Juli 1509 in Noyon in der Picardie als Sohn eines Notars des dortigen Domkapitels geboren wurde, standen ihm dank einer kirchlichen Pfründe die besten Bildungsmöglichkeiten seiner Zeit offen. Seine Jugendzeit verbrachte er nicht wie Luther im Kloster, sondern in den städtischen Zentren der französischen Kultur, in denen er zunächst die Artes liberales und danach die Rechte studierte. Prägend wurde für ihn die Begegnung mit dem Humanismus, der ihm nicht nur profunde philologische Kenntnisse vermittelte, sondern auch sein Interesse an der Heiligen Schrift weckte, die er als "Schule des Heiligen Geistes" verstand und deren Auslegung er als seine vornehmste Aufgabe betrachtete.

Wie Zwingli hat Calvin nie eine reguläre theologische Ausbildung genossen, sondern eignete sich seine theologischen Kenntnisse unbelastet von der scholastischen Tradition auf dem Weg eigener Lektüre an. Seine Hinwendung zur Reformation vollzog sich nicht in geistlichen Nöten, sondern scheinbar ruhig und geradlinig als Folge seiner intellektuell gewonnenen Überzeugung von der Allmacht Gottes, der ihn "aus dem Abgrund des Götzendienstes" befreit und "zur Klarheit seiner frohen Botschaft" geführt hatte.

Im Zuge der Protestantenverfolgungen 1534/35 musste er aus Paris fliehen und führte über einige Monate an verschiedenen Orten Frankreichs eine Untergrundexistenz, bis er schließlich nach Basel auswich. Dort veröffentlichte er zur Stärkung der französischen Glaubensbrüder einen Erwachsenenkatechismus mit dem Titel "Institutio Christianae Religionis", der ihn in kurzer Zeit berühmt machen sollte und den er zeitlebens überarbeitet und ergänzt hat.

1536 gelangte er eher zufällig nach Genf, das ein Handelszentrum von regionaler Bedeutung war und rund 10000 Einwohner zählte. Wenige Jahre zuvor war es der Bürgerschaft gelungen, die Oberherrschaft ihres Bischofs abzuwerfen und sich der Reformation anzuschließen, die aber noch keineswegs gefestigt war. Daher sah der Genfer Reformator Guillaume Farel in dem jungen protestantischen Gelehrten die ideale Persönlichkeit, um ihm bei der reformatorischen Umgestaltung der Stadt zu helfen; und so bat er Calvin zu bleiben.

Dieser erste Aufenthalt in Genf sollte aber nur zwei Jahre dauern, denn der Rat der Stadt befürchtete Calvins wachsende Einflussnahme auf das öffentliche Leben und verwies ihn der Stadt. Die folgenden, in Straßburg verbrachten Jahre, wo ihn Bucer für die Betreuung der französischen Flüchtlingsgemeinde gewonnen hatte, wurden ihm zu wichtigen Lehrjahren: In diesem Zentrum der oberdeutschen Reformation lernte er ein wohlgeordnetes Kirchenwesen kennen, hielt exegetische Vorlesungen, war literarisch tätig und nahm an mehreren katholisch-evangelischen Religionsgesprächen teil, bei denen er die Bekanntschaft mit führenden deutschen Reformatoren machte. Der 1541 an ihn ergangene Rückruf nach Genf, wo das kirchliche Leben weiterhin einer Neuordnung harrte, eröffnete ihm eine neue Chance, in dieser Stadt eine wahre christliche Gemeinde zu schaffen.


Unmittelbar nach seiner Ankunft erarbeitete er einen Entwurf für eine Kirchenordnung (die "Ordonnances ecclésiastiques"), die später zum Vorbild vieler reformierter Gemeindeordnungen in aller Welt wurde. Im Gegensatz zu Luther dachte Calvin stärker von der sichtbaren Gestalt der Kirche her, die er als den konkreten Ort der Christusgemeinschaft verstand und deren evangeliumsgemäße Ordnung ihn je länger je mehr beschäftigte. Die Christozentrik seines Denkens prägt auch die Ordonnances, deren Leitidee die Überzeugung ist, dass Christus in seiner Kirche allein durch sein Wort herrschen müsse. Demgemäß sahen sie eine gegliederte Gemeindeleitung vor, in der der geistliche Dienst nach biblischem Vorbild in die vier Ämter der Pastoren, Lehrer, Ältesten und Diakone aufgeteilt war und in denen die grundlegenden Funktionen der Kirche zum Ausdruck kamen: die Verkündigung und Sakramentsverwaltung, die religiöse Unterweisung, die Zucht und die soziale Fürsorge.

Wichtigstes Instrument der Kirchenleitung war das Konsistorium, in dem ausgewählte Pastoren und Älteste mit der Reinhaltung des Glaubens und der Lebensführung der Bürger betraut waren und dem auch das Recht zukommen sollte, Sünder im äußersten Fall von der Abendmahlsgemeinschaft auszuschließen. Neu war nicht die Akzentuierung der Kirchenzucht, die in der Überzeugung wurzelte, die Lebensgestalt der Kirche müsse auch ihrem Bekenntnis entsprechen, sondern die Entschiedenheit, mit der Calvin ihre Durchsetzung forderte, und das Bemühen, das Konsistorium als ein rein kirchliches Gremium zur Regelung des Zusammenlebens der unter dem Wort Gottes stehenden Gemeinde zu konzipieren.

Denn entgegen der verbreiteten Ansicht, er habe in Genf eine Theokratie errichten wollen, strebte Calvin eine Entflechtung von geistlicher und weltlicher Herrschaft an, die jeweils auf ihre Weise dem einen Gebot Gottes dienen sollten. Es gelang ihm jedoch nicht, sich mit diesem Anliegen ganz durchzusetzen, da der Rat der Stadt nicht bereit war, auf seine Kompetenzen im Bereich der Kirchenordnung und Sittenzucht zu verzichten.

So musste sich Calvin immer wieder gegen die Einmischung der Politik in die Angelegenheiten der Kirche wehren und stand über viele Jahre hinweg in harten Auseinandersetzungen um die Reinheit der Lehre und die Kirchenzucht. Auch die Verurteilung und Verbrennung des Antitrinitariers Michael Servet im Jahr 1553, an der Calvin mitbeteiligt war und die sein Ansehen bis heute belastet, kann nicht als Indiz einer von ihm ausgeübten diktatorischen Macht gewertet werden, erfolgten sie doch auf Betreiben der Stadtregierung.


Erst 1555 war seine Stellung so weit gefestigt, dass er sich verstärkt seiner schriftstellerischen Tätigkeit widmen konnte. Sein immenses theologisches Werk umfasst neben der erwähnten Institutio Traktate, Gottesdienst- und Kirchenordnungen, Predigten, Bibelkommentare und Katechismen. Überdies führte er auch eine umfangreiche und weitgespannte Korrespondenz mit Fürsten, Politikern, Schülern, Gelehrten und anderen Reformatoren. In seinen Briefen, in denen er den Gläubigen Rat und Trost in den verschiedensten Glaubens- und Lebensfragen zusprach, begegnet uns auch der Mensch und Seelsorger Calvin.

In seinen letzten Jahren widmete er sich vor allem dem Aufbau der 1559 gegründeten Genfer Akademie, in der Theologen aus vielen Ländern ihre Ausbildung erhielten und die seinem Gedankengut eine europäische Ausstrahlung sicherte. Als der durch eine ungeheure Arbeitsleistung geschwächte und von Krankheiten gezeichnete Reformator am 27. Mai 1564 starb, konnte sein Tod sein Aufbauwerk nicht erschüttern.


Eine zweite Reformationswelle

War der von Calvin maßgeblich geprägte reformierte Protestantismus im Augsburger Religionsfrieden von 1555 noch nicht einmal genannt worden, so entwickelte er sich in wenigen Jahren zur bedeutendsten religiösen Alternative des nachtridentinischen Katholizismus und breitete sich in einer Art zweiter Reformationswelle in weiten Teilen Europas aus. Calvins Lehre erreichte über die Vermittlung von Exilanten und Studenten zunächst seine Heimat, wo sie vor allem im Bürgertum und beim Adel Anhänger fand und im Widerstand gegen den König auch politische Dimensionen annahm. Trotz schärfster Verfolgungen durch die Krone, die in der Bartholomäusnacht 1572 einen blutigen Höhepunkt erreichten, und jahrelanger kriegerischer Auseinandersetzungen konnten sich die als Hugenotten bezeichneten Calvinisten (rund 10 Prozent der Gesamtbevölkerung) in ihren oft zerstreuten Gemeinden behaupten und im Edikt von Nantes von 1598 eine gewisse Duldung erlangen.

Ihre Privilegien wurden aber im Verlauf des 17. Jahrhunderts nach und nach eingeschränkt und durch die 1685 erfolgte Revokation des Edikts schließlich ganz aufgehoben. Die anschließende Massenauswanderung und die Repressalien gegenüber den bekehrungsunwilligen Hugenotten führten schließlich zur weitgehenden Auslöschung des französischen Calvinismus. In den Niederlanden verband sich der reformierte Glaube mit dem Freiheitskampf gegen die spanische Herrschaft und fand besonders in der Situation der Verfolgung in breiten Bevölkerungsschichten Gehör. Nach Erlangung der Unabhängigkeit entwickelten sich die nördlichen Niederlande zu einem Zentrum des europäischen Calvinismus, wenngleich es dort in der Folgezeit zu heftigen theologischen Meinungskämpfen über die Fragen von Dogma, Sittenzucht und Toleranz kam.

In Deutschland entstanden die ersten reformierten Gemeinden als Gründungen flämischer und wallonischer Emigranten am Niederrhein. Später kamen auch Asylsuchende aus England hinzu, die sich in Handelsstädten wie Emden, Wesel oder Frankfurt am Main niederließen. Nur in wenigen Fällen wandten sich auch einzelne Fürsten mit ihren Territorien dem Calvinismus zu wie in Lippe, Anhalt, Nassau, Hessen-Kassel und Brandenburg. Folgenreich wurde der Übertritt des Kurfürsten Friedrich III. zum reformierten Glauben, unter dem sich die Kurpfalz in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zu einem Zentrum des deutschen Calvinismus und zu einem Asyl für reformierte Glaubensflüchtlinge entwickelte.

Die Wellen des Calvinismus erreichten auch osteuropäische Länder, wo er sich aber nur in Ungarn dauerhaft etablieren konnte. Über den Calvinschüler John Knox verbreitete sich der Calvinismus in Schottland, wo er sich mit dem Widerstand gegen das katholische, politisch an Frankreich orientierte Königtum verbündete. Calvins Kirchenmodell fand im schottischen Presbyterianismus seine vollkommenste Form. Schließlich gelangten Calvins Lehren über Schottland und England, wo sie in der puritanischen Bewegung Einfluss gewonnen hatten, auch in die Neue Welt, in der sie bei der Schaffung einer neuen, auf der Anerkennung der Menschenrechte beruhenden Gesellschaftsordnung wirksam wurden.


Die Reformation der Flüchtlinge

Die enorme Ausstrahlung von Calvins Ideen, die sich gerade in Ländern ausbreiteten, in denen der Protestantismus verfolgt wurde, lässt sich nur verstehen, wenn man sich sowohl die Grundzüge seiner Theologie als auch die Zeitsituation, in die Calvin hineingesprochen hat, vergegenwärtigt. Um die Mitte des Jahrhunderts befand sich der Protestantismus insofern in einer Krise, als das Luthertum, das bislang die Reformation geprägt hatte, weitgehend in obrigkeitlich regierten Landeskirchen erstarrt und überdies von inneren Lehrstreitigkeiten geschwächt war. Es verfügte somit nicht über die nötige Kraft und Dynamik, um dem Elan der nach dem Trienter Konzil wieder erstarkten katholischen Kirche entgegenzutreten. Daher konnten sich gerade die von einem aggressiven Katholizismus bedrängten Untergrund- und Diasporagemeinden in Frankreich und den Niederlanden vom deutschen Protestantismus nur wenig Unterstützung erhoffen.

Umso wichtiger wurde nun das Wirken Calvins in Genf, in dem der europäische Protestantismus ein neues geistiges Zentrum fand. Der Reformator, der Verfolgung und Exil am eigenen Leib erfahren hatte und der das reformierte Genf immer nur als Vorbild "für das weit umfassendere Königreich Christi in Frankreich und Europa" betrachtete, war gleichsam die berufene Gestalt, um diese neue Phase der Reformation, die man auch als die "Reformation der Flüchtlinge" (Heiko O. Oberman, Zwei Reformationen. Luther und Calvin - alte und neue Welt, Berlin 2003, 151 und 218) bezeichnet hat, anzuführen.

Der existentielle Erfahrungshintergrund von Flucht und Verfolgung bildet auch den Quellgrund von Calvins Theologie mit ihrer Zuspitzung der biblischen Heilsbotschaft in "Vorsehung, Erwählung und Fürsorge angesichts eines Ausgeliefertseins an diese Welt" (Christoph Strohm, Johannes Calvin. Leben und Werk des Reformators, München 2009, 120). So ist der Ausgangspunkt seiner Theologie nicht die innere Not des Menschen aufgrund seiner Schuldverfallenheit, sondern die Ungesichertheit seiner Existenz, die ständig vom Tod umgeben ist. Angesichts der selbst erlebten Bedrohtheit menschlicher Existenz ging es Calvin darum, den Glauben der angefochtenen Christen zu stärken, den er als "starke und unerschütterliche Zuversicht des Herzens" verstand, "durch die wir sicher in der Barmherzigkeit Gottes ruhen, die uns durch das Evangelium verheißen ist."

Vor diesem Horizont ist auch seine Prädestinationslehre zu verstehen, deren Sinnspitze die Botschaft vom Gehaltensein des Menschen in Gottes "unerschütterlichem Ratschluss" trotz anhaltender Anfechtungen und Nöte ist. Im Vertrauen darauf, dass "die Erwählten trotz dieser großen Schwäche des Fleisches nicht in Gefahr sind, denn sie sind nicht allein auf ihre Kraft angewiesen, sondern können sich auf Gott verlassen", fanden die "Kirchen unter dem Kreuz" in der von Calvin verkündeten biblischen Botschaft von Erwählung und Vorsehung Trost.


Der Dienst an Gott in seiner Schöpfung

Diese Heilsgewissheit sollte aber nicht nur in eine "freudige Ruhe", sondern auch in "die dankbare Rückwendung zu Gott" (Eva-Maria Faber, Johannes Calvin. Theologe und Prediger des Lebens aus Heilsgewissheit, in: Martin H. Jung und Peter Walter [Hg.], Theologen des 16. Jahrhunderts: Humanismus - Reformation - Katholische Erneuerung. Eine Einführung, Darmstadt 2002, 227-243, 239) münden, die in einer Gottes Gebot gemäßen Lebensgestaltung ihren Niederschlag fand. Klarer als Luther legte Calvin Wert darauf, dass die in der Rechtfertigung geschenkte Erneuerung des Gläubigen, "den Eifer zu einem heiligen und frommen Leben" bedeutet und daher auch in seinem Leben Früchte zeigen muss.

Mit seiner Forderung, der Reformation der Lehre müsse noch eine Reformation des Lebens folgen, traf er gleichsam den Nerv seiner Zeit, in der der Wunsch nach einer evangeliumsgemäßen Lebensgestaltung noch in weiten Kreisen lebendig war. Allerdings hat Calvin die Zielrichtung dieses Bemühens anders akzentuiert, als dies Luther tat: Nicht die Erlangung des persönlichen Seelenheils, sondern die Verherrlichung Gottes bildet das eigentliche Motiv des religiösen Strebens des Menschen, dessen Lebenssinn es ist, "Gottes Ehre ans Licht zu bringen". In dem unserer Zeit so fremd gewordenen Gedanken der Verherrlichung Gottes begegnet uns ein Leitmotiv seiner Theologie, das Calvin ganz lebenspraktisch verstand: Denn Gott, der seine Herrlichkeit in Jesus Christus offenbart hat, wird vom Menschen dann in rechter Weise geehrt, wenn dieser ihm Vertrauen, Gehorsam, Gebet und Dank entgegenbringt.

Diese theologische Verklammerung der Existenz des Menschen und der Verherrlichung seines Schöpfers hatte zur Folge, dass der Mensch in Calvins Lehre einerseits ganz auf den majestätischen und jenseitigen Gott bezogen und andererseits doch tief in die Welt hineingeführt wird, die das "Schauspiel seiner Herrlichkeit" ist. Indem seine Theologie den Dienst an Gott in seiner Schöpfung als die eigentliche christliche Lebensaufgabe bestimmte, eröffnete sie gerade den Eliten seiner Zeit eine überzeugende christliche Lebensperspektive, die der wachsenden Dynamik und der Weltzugewandtheit seiner Epoche gleichermaßen Rechnung trug wie dem Verlangen nach einer Verchristlichung des Lebens.

Der juristisch geschulte Reformator forderte aber nicht nur eine Heiligung des Lebens, sondern gab dazu auch in Gestalt von Gemeinde- und Gottesdienstordnungen konkrete Anweisungen, die dem "Reglementierungsbedarf einer sich im Umbruch befindenden Welt" entsprach (Strohm, 119). Insbesondere das von ihm entworfene Kirchenmodell trug zum Erfolg seines Werks bei, mit dem ihm die Schaffung eines neuen Kirchentyps gelang, der die Strukturen einer Volkskirche mit der Entschiedenheit einer Bekenntniskirche verband. Ihre flexible und selbstverwaltete Ordnung entsprach nicht nur den institutionellen Notwendigkeiten der Diaspora- und Flüchtlingsgemeinden und verlieh ihnen die nötige Unabhängigkeit von der weltlichen Obrigkeit, sondern erforderte auch ein hohes Maß an Mitverantwortung der Gläubigen, was gerade auf religiöse Nonkonformisten anziehend wirkte.

Der Wirkung dieser biblisch fundierten, auf die christliche Lebensführung ausgerichteten und trotz ihrer systematischen Kraft Spekulationen vermeidenden Theologie, die sich in Calvins Person mit einem ausgeprägten Organisationstalent, einer starken Willenskraft und einem fast soldatischen Pflichtbewusstsein verbanden, war es im Wesentlichen zuzuschreiben, dass der ins Stocken geratenen reformatorischen Bewegung neue Kräfte zuwuchsen und sie so nach einer Formulierung des Lutherforschers Karl Holl "vor dem Versanden gerettet" wurde (Johannes Calvin, Tübingen 1909, 19f.).


Heute stellt die Reformierte Kirche, deren Lehre neben Calvin auch von Zwingli, Bucer, Heinrich Bullinger und Theodor Beza beeinflusst ist, eine sehr vielgestaltige Konfessionsgemeinschaft dar, der rund 85 Millionen Christen in etwa 750 Einzelkirchen angehören. Obwohl die reformierten Kirchen somit weltweit die größte Kirchenfamilie im Protestantismus bilden, sind sie in den meisten Ländern der Welt Minderheitenkirchen. Sie sind nicht durch ein gemeinsames Bekenntnis miteinander verbunden, sondern vielmehr durch die besondere Wertschätzung der Heiligen Schrift und ein Kirchenverständnis, das die Kirche primär von der Gemeinde her und in ihrer Sichtbarkeit als gottesdienstliche Versammlung versteht.

Trotz der bestehenden Vielfalt in Kirchenverfassung und Gottesdienstordnung sind Leben und Lehre der reformierten Kirchen von gemeinsamen Charakteristika gekennzeichnet: ein nüchterner Kirchenraum, eine schlichte, vor allem aus Predigt und Psalmengesang bestehende Liturgie, die Leitung der Gemeinden und Gesamtkirchen durch Presbyterien und Synoden sowie - bis auf wenige Aufnahmen - der Verzicht auf das Bischofsamt. Ekklesiologisch hält die Reformierte Kirche somit die Mitte zwischen einem basisdemokratischen und einem hierarchisch-anstaltlichen Kirchenverständnis.


Ein kostbares Erbe

Die meisten reformierten Kirchen sind in dem 1875 gegründeten Reformierten Weltbund vertreten, der sich in den letzten Jahrzehnten stark an der Entwicklung der Ökumenischen Bewegung beteiligt hat. Hatten noch die großen theologischen Systembildungen des 17. Jahrhunderts die konfessionellen Unterschiede zwischen Lutheranern und Reformierten stark betont, so traten diese im Zuge des Pietismus und der Aufklärung zunehmend in den Hintergrund. Daher kam es in Deutschland im Reformationsjubiläumsjahr 1817 unter dem Einfluss des Staates zu Kirchenunionen, in denen Landeskirchen geschaffen wurden, die sowohl lutherische wie reformierte Gemeinden umfassten. Doch erst im Zuge des nationalsozialistischen Kirchenkampfes, in dem gerade reformierte Christen wie Karl Barth innerhalb der Bekennenden Kirche eine große Rolle spielten, gingen die beiden Konfessionen aufeinander zu.

Heute bilden die Reformierten in Deutschland zahlenmäßig eine Minderheit des organisierten Protestantismus und sind seit 1884 im Reformierten Bund zusammengeschlossen, der rund 2 Millionen Christen und etwa 430 Kirchengemeinden innerhalb der EKD vertritt. Seine Mitglieder sind die Evangelisch-reformierte Kirche (Synode evangelisch-reformierter Kirchen in Bayern und Nordwestdeutschland), der Bund Evangelisch-reformierter Kirchen Deutschlands, die Evangelisch-altreformierte Kirche in Niedersachsen, deren Gemeinden in Ostfriesland und in der Grafschaft Bentheim liegen, sowie die überwiegend reformierte Lippische Landeskirche.

Hinzu kommen noch rund 200 reformiert geprägte Gemeinden aus den unierten Landeskirchen Rheinland, Westfalen, Kurhessen-Waldeck, Hessen und Nassau und Bremen. Seit der 1973 von mehr als 100 reformatorischen Kirchen in Europa unterzeichneten Leuenberger Konkordie gewähren Lutheraner und Reformierte einander Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft.

Gedenktage sind Gelegenheiten, bedeutende Ereignisse oder Gestalten der Vergangenheit in Erinnerung zu rufen und in der Auseinandersetzung mit ihnen Zukunft zu gewinnen. Wer nach solchen zukunftsweisenden Momenten im Werk Johannes Calvins sucht, der sich eher als Prediger und Lehrer des Wortes Gottes denn als systematischer Theologe verstand, der wird weniger nach den Buchstaben fragen als nach den Erfahrungen, in denen es gründet, und nach dem Geist, der es durchzieht. Und so wird man seine Lehre von der Erwählung und Vorsehung neu in den Blick nehmen müssen, die uns heute so fremdartig anmutet, ohne die man aber Calvin nicht verstehen kann.

Nach Jürgen Moltmann ist diese biblische Lehre, um die es in der gegenwärtigen Theologie still geworden ist, als Ausdruck der Treue Gottes und der Beharrlichkeit des Glaubens zu verstehen, deren Wirkkraft sich sowohl in der Standhaftigkeit der französischen Hugenotten als auch in der freimütigen Weltgestaltung der nordamerikanischen Puritaner zeige: "Es ist gerade diese Zukunftsperspektive des Glaubens, die Calvins ganze Theologie prägt und um derentwillen man ihn den 'Theologen der Hoffnung' unter den Reformatoren genannt hat. Glauben ist 'meditatio vitae futurae', ein Trachten nach dem zukünftigen Leben, eine leidenschaftliche Erwartung der Treue Gottes, aus welcher die Kraft zum Stehen und Bleiben in den zeitlichen Anfechtungen entspringt" (Erwählung und Beharrung der Gläubigen, in: Moltmann [Hg.], Calvin-Studien 1959, Neukirchen 1960, 45). Im Licht dieser Ausführungen wird man in Calvins gleichermaßen tröstenden, wie befreiender Botschaft ein kostbares Erbe entdecken können, das es im Blick auf eine ungewisse Zukunft des Glaubens zu bewahren gilt.


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Michael Becht (geb. 1967) ist wissenschaftlicher Bibliothekar an der Universitätsbibliothek Freiburg und Lehrbeauftragter der Katholisch-Theologischen Fakultät. Im Jahr 1999 wurde er in Freiburg mit einer Arbeit über den Konsensbegriff im Werk von Erasmus von Rotterdam, Philipp Melanchthon und Johannes Calvin zum Dr. theol. promoviert.


Literatur zum Thema:

Faber, Eva-Maria: Johannes Calvin. Theologe und Prediger des Lebens aus Heilsgewissheit, in: Martin H. Jung und Peter Walter (Hg.), Theologen des 16. Jahrhunderts: Humanismus - Reformation - Katholische Erneuerung. Eine Einführung, Darmstadt 2002, 227-243

Oberman, Heiko A.: Zwei Reformationen. Luther und Calvin - alte und neue Welt, Berlin 2003

Plasger, Georg: Johannes Calvins Theologie. Eine Einführung, Göttingen, 2008

Strohm, Christoph: Johannes Calvin. Leben und Werk des Reformators, München 2009


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
63. Jahrgang, Heft 7, Juli 2009, S. 359-364
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. September 2009