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GESCHICHTE/035: Europa wird christlich (epoc)


epoc 1/11
Geschichte · Archäologie · Kultur

Europa wird christlich

Von Niklot Krohn und Sebastian Ristow


Das Christentum begann als kleine jüdische Sekte in Palästina. 1000 Jahre später hatte die neue Religion ganz Europa durchdrungen. Forscher streiten darüber, wann und wie der Glaube in den einzelnen Regionen des Kontinents tatsächlich Fuß fasste.


AUF EINEN BLICK

Europa wird christlich

1. Archäologische Methoden geben keine Auskunft darüber, ab wann einzelne Menschen den christlichen Glauben annahmen oder wie ein Volk im Einzelnen missioniert wurde.

2. Archäologen können jedoch zeigen, ab wann sich die neue Religion in einer bestimmten Region Europas etabliert hat.

3. Die Erforschung von Kirchen, Gräbern und Alltagsgegenständen gibt Aufschluss über den Anteil von Christen in der Bevölkerung einer bestimmten Epoche.


Im Jahr 165 verhörte der römische Stadtpräfect Rusticus den Philosophen Iustin. Dieser war eben erst zum Tod verurteilt worden, denn er bekannte sich zum Glauben an Jesus Christus. Vor der Hinrichtung wollte Rusticus aber noch von Iustin wissen, wo sich seine Glaubensbrüder und -schwestern heimlich versammelten. Der Verurteilte wich ihm geschickt aus: »Dort, wo ein jeder will und kann, auch wenn du sicher meinst, wir würden alle an demselben Ort zusammenkommen. Denn der Gott der Christen ist nicht auf einen bestimmten Ort eingeschränkt. Unsichtbar ist er und erfüllt Erde und Himmel. Darum kann er von seinen Getreuen überall angebetet und verherrlicht werden.«

Iustins Antwort dürfte einigen seiner Glaubensgeschwister das Leben gerettet haben - und sie entsprach den Tatsachen: Um nicht aufzufallen, gaben sich die Christen bis Anfang des 3. Jahrhunderts vor allem in Rom, aber auch andernorts meist nicht zu erkennen. Sie bauten keine Kirchen, sondern feierten ihre Gottesdienste heimlich in Privathäusern und unter irdischen Gewölben. Sie verzierten ihre Alltagsgegenstände auch nicht mit typisch christlichen Symbolen, wie wir das aus der späteren Kunstgeschichte gewohnt sind. Schuld daran war die Christenverfolgung im Römischen Reich. Schon um das Jahr 50 n. Chr. wurden Anhänger des neuen Glaubens unter Kaiser Claudius aus Rom vertrieben. Davon berichtet jedenfalls die biblische Apostelgeschichte: In Korinth traf der Apostel Paulus römische Christen, die in die griechische Stadt geflohen waren. Auch der Historiker Tacitus erwähnt die Anhänger Jesu als ungeliebte Minderheit.

Im Jahr 64 ließ Kaiser Nero die Christen der Hauptstadt zum ersten Mal in großer Zahl verbrennen - er machte sie für einen verheerenden Brand verantwortlich, bei dem 10 von 14 Stadtteilen in Flammen aufgingen. Tacitus schreibt darüber: »Man verhaftete zuerst Leute, die bekannten, dann auf ihre Anzeige hin eine riesige Menge. Sie wurden nicht gerade der Brandstiftung, wohl aber »des allgemeinen Menschenhasses« überführt. Die Todgeweihten nutzte man für ein Schauspiel. Man steckte sie in Tierfelle und ließ sie von Hunden zerfleischen, man schlug sie ans Kreuz oder zündete sie an und ließ sie nach Einbruch der Dunkelheit als Fackeln brennen.« Unklar ist, was die Verhafteten laut Tacitus bekannten - den Brand oder ihren Glauben. Da der Geschichtsschreiber jedoch kurz zuvor von den »Chrestianern« berichtet - einer jüdischen Sekte, die auf den Jesus zurückgehe, der von Pilatus hingerichtet worden war -, nehmen die meisten Forscher an, dass das Bekenntnis des Glaubens gemeint ist. Zumal Tacitus auch erwähnt, dass man die Christen offenbar nicht der Brandstiftung überführen konnte.

In den folgenden knapp 250 Jahren kam es immer wieder zu Verfolgungen. Für die Forschung ist das ein Desaster. Bauten und Symbole sind die wichtigsten Kriterien, anhand deren Archäologen die Verbreitung und den Organisationsgrad der neuen Religion in den verschiedenen Regionen des Römischen Reichs ablesen können. Und da die ersten Christen gezwungenermaßen im Verborgenen lebten, wissen wir fast nichts über sie.

Diese Situation änderte sich im Jahr 311 grundlegend, weil Kaiser Galerius das Christentum im Osten des Römischen Reichs als gleichberechtigte Religion anerkannte. 313 bestätigte sein Nachfolger Licinius diesen Beschluss - zusammen mit dem Herrscher des Westens, Konstantin dem Großen. Fortan wurden die Christen überall im Imperium toleriert und begannen - zunächst an bedeutenden Glaubensstätten - Sakralbauten zu errichten. Die kaiserliche Familie selbst bekannte sich nun zu Jesus Christus und errichtete an vielen zentralen Orten des Reichs Kirchen. Viele archäologische Befunde bezeugen seitdem einen institutionell verankerten, gesellschaftlich etablierten und staatsrechtlich abgesicherten christlichen Glauben in der Spätantike.

Aber wann nahm die Bevölkerung den christlichen Glauben in den einzelnen Regionen wirklich an? Mit welchen Mitteln und Methoden gewann die neue Religion Anhänger? Zu welchem Zeitpunkt entstand das Christentum als uns bekannte, kirchliche Institution?


Die neue Religion erobert den nordalpinen Raum

Nördlich der Alpen gewann das Christentum besonders im Rhoneraum schon früh Anhänger. Aus Lyon sind zwei Bischöfe namentlich überliefert, die bereits im 2. Jahrhundert dort residierten. Der eine - Irenäus - beschrieb, dass es seinerzeit überall im Römischen Reich und auch in den benachbarten Provinzen Christen gegeben habe. Archäologische Belege kennen wir dafür nicht. Gerade in Gallien und Germanien werfen zunächst nur einzelne Funde ein spärliches Licht auf die Anwesenheit der Jesusgläubigen - etwa christliche Symbole, Inschriften oder Bilder. Die ältesten Nachweise stammen aber erst aus dem frühen 4. Jahrhundert; sie sind also rund 200 Jahre jünger als die Schriftzeugnisse. Was bedeutet das? Um Schlüsse aus den wenigen, späten Hinterlassenschaften der Christen zu ziehen, muss man zweierlei berücksichtigen. Zum einen sind Gegenstände beweglich, sie können ganz einfach zufällig verloren gehen. So beispielsweise der goldene Siegelring eines Christen mit der Aufschrift "vivas in deo" (Lebe in Gott!), den man im Rhein bei Bingen gefunden hat (siehe Bild). Zum andern sagt das bloße Vorhandensein eines "christlichen" Funds noch nichts über die dahinterstehenden Personen, Glaubenshaltungen oder gar Kirchenstrukturen aus.

Solch eine schwer zu deutende Entdeckung machten zwei Knechte im Jahr 1904, als sie ein römisches Grab in der Nähe von Köln beim Pflügen aufdeckten. Darin lag neben anderen Beigaben der "Fisch aus Wesseling" - eine Öllampe aus dem 4. Jahrhundert mit christlichen Verzierungen (siehe Bild). Der Fisch kann aus verschiedenen Gründen ein Symbol für den christlichen Glauben sein. Eine Assoziation liegt auf der Hand: Fische schwimmen im Wasser - dem Element der Taufe. Bereits im 2. und 3. Jahrhundert entstanden Wandmalereien, in denen ein Fisch an die wundersame Speisung der 5000 durch fünf Brote und zwei Fische aus den Evangelien erinnern sollte. Am wichtigsten ist aber, dass der Fisch bei den ersten Christen ein Geheimzeichen war, das nur Eingeweihte als solches erkannten. Denn "Fisch" heißt auf Griechisch ichthys. Die Buchstaben bildeten ein Akrostichon ihres Glaubensbekenntnisses, einen Satz, bei dem die Anfangsbuchstaben der Worte einen neuen Sinn ergeben. Hier steht also Iesous (Jesus) Christos (Christus), Theou (Gottes) Yios (Sohn), Soter (unser Erlöser).


Der Fund der Lampe sagt allerdings nichts darüber aus, ob sein Besitzer die frühchristliche Symbolik tatsächlich verstand. Zwar wurde sie in einem Grab gefunden, was immerhin zeigt, dass er für die mit ihm bestattete Person einen gewissen Wert besaß. Aber ob der Verstorbene wirklich an Jesus glaubte, wissen wir nicht. Unklar bleibt auch, ob der Fisch zumindest ein Indiz dafür ist, dass in der Gegend um Köln bereits Anfang des 4. Jahrhunderts Christen lebten. Die Lampe - und das ist in diesem Fall sogar sehr wahrscheinlich - könnte ja auch in beträchtlicher Entfernung von ihrem Fundort hergestellt worden sein. Die Gestaltung als Fisch belegt daher in erster Linie, dass ein Handwerker jener Zeit hoffte, sein Produkt als christliches Symbol gut verkaufen zu können.

So müssen sich Archäologen für das 4. Jahrhundert auf die Gesamtschau der Befunde beschränken, um die Konsolidierung des neuen Glaubens für eine Region abzuschätzen: die Zahl der Grabinschriften, die eindeutig belegen, dass Teile der Bevölkerung an Christus glaubten, Schriftzeugnisse über Kirchen, Bischöfe und Gemeinden sowie als christlich erkennbare Bauten, also Kirchen, Klöster, Taufkirchen oder auch christliche Grab- und Memorialbauten sowie bischöfliche Residenzen. All dies zusammengenommen, kann man sagen: In der Spätantike hatte das Christentum im weströmischen Gebiet Italien und die Adria, die Iberische Halbinsel und vor allem Frankreich, also das antike Gallien, definitiv durchdrungen. Ab jetzt gibt es eine relativ dichte Konzentration von kirchlichen Amtsträgern, Quellen und Funden. Deshalb sprechen Experten von dieser Region als »altchristianisiert«.


Frühes Christentum in Ostgallien und Germanien

Anders stellt sich die Situation an der Reichsgrenze, beispielsweise in den germanischen Provinzen, dar. Hier war die überwiegende Zahl der Menschen im 4. Jahrhundert sicher noch nicht christlich. Zwar gibt es Berichte über Kirchen aus den Jahren um 350, etwa in Köln, Trier und Mainz, aber nachdem Forscher der rheinischen Universitäten in Köln, Bonn und Trier die Quellen in den letzten Jahren erneut kritischer durchgesehen haben, ist klar: Es wurden bislang keine entsprechenden archäologischen Erkenntnisse über Befunde dieser frühen Zeit gewonnen. Lediglich unter dem Trierer Dom gibt es architektonische Zeugnisse aus der Mitte des 4. Jahrhunderts, die belegen, dass Christen einen gewaltigen Baukomplex der spätantiken Kaiserresidenz für ihre Zwecke in Besitz genommen hatten. Funde, vor allem aus Glas und Metall, sowie Grabinschriften belegen aber andererseits, dass es auch in den Grenzregionen Christen gab. Teile der Bevölkerung scheinen jedoch den althergebrachten Religionen angehört zu haben.

Im Rheinland hatte der neue Glaube also damals schon Fuß gefasst. Doch Mitte des 5. Jahrhunderts zogen immer mehr Franken aus dem germanischen Kulturraum in die Gegend und übernahmen schließlich die politische und militärische Macht. Seitdem finden sich für einige Jahrzehnte keine Hinweise mehr auf christliche Aktivitäten. Nicht einmal im östlichen Zentrum Galliens, der ehemals christlichen Kaiserstadt Trier, blieben die sakralen Bauten am Ort des heutigen Doms in Benutzung - fast 100 Jahre lang betete hier niemand mehr. Erst Bischof Niketius baute die in den Auseinandersetzungen mit den Franken und vielleicht auch den Hunnen zerstörten Kirchen in den 560er Jahren in großem Stil wieder auf.

Die zweite Hälfte des 5. Jahrhunderts stellt einen tiefen Einschnitt in der Entwicklung der Religionsgeschichte zwischen Rhein, Mosel und Maas dar. Der Wendepunkt für den weiteren Verlauf der Ereignisse war die Taufe des fränkischen Königs Chlodwig, der um 500 fast ganz Gallien beherrschte und sich in jenen Jahren - das genaue Datum ist umstritten - von Bischof Remigius von Reims katholisch taufen ließ. Ob er sich aus persönlicher Überzeugung für das Christentum entschied, lässt sich archäologisch freilich nicht klären. Auf dem Prüfstand steht vielmehr die politische Motivation für seine Konversion: Die neue Religion war eine wichtige Voraussetzung, um mit einer Minderheit von Franken wirksam die Mehrheit der romanisch-altchristianisierten Bevölkerung beherrschen zu können. Deshalb ordnete Chlodwig auch für die gesamte fränkische Elite an, den christlichen Glauben anzunehmen.

Nach dieser »Massentaufe« erblühte die Kirche Galliens neu. Lediglich in den germanischen Provinzen, wo die neue Religion auch vorher noch nicht die ganze Bevölkerung erfasst hatte, musste der Staat etwas nachhelfen: Anfang des 6. Jahrhunderts sandte König Theuderich I. Kleriker aus christlichen Zentren in der Auvergne nach Trier, um die geschwächte Kirche der Metropole zu stärken und von dort aus auch die darniederliegenden Bistümer des Rheinlands wieder aufzurichten. Mit Erfolg! In der zweiten Hälfte jenes Jahrhunderts entstanden wieder repräsentative Kirchenbauten (siehe S. 64).

Welche Dynamik die von den ersten Merowingerkönigen begonnene Kirchenpolitik mit der Zeit entfaltete, zeigt die Sorge von König Chilperich I. Der Enkel Chlodwigs klagte wie folgt: »Siehe: Arm bleibt unsere Kasse zurück, unser Vermögen wird an die Kirchen überführt; überhaupt niemand außer den Bischöfen herrscht. Unsere Ehre ist untergegangen, und sie ist auf die Bischöfe der Gemeinden übertragen worden.« Selbst wenn Chilperich hier ein wenig übertreibt, belegt der Ausspruch, was auch die archäologischen Quellen nun zeigen: Ausgehend von den Zentren des Frankenreichs erreichte die neue Religion im Verlauf des 7. und 8. Jahrhunderts auch die ländlichen Regionen. Ab jetzt kann man von der Institutionalisierung des Christentums sprechen (siehe Kasten).


CHRISTLICHE INSTITUTIONALISIERUNG

Um zu erklären, wie Europa christlich wurde, greift man üblicherweise auf ein theologisches Bekehrungsmodell zurück. Demnach lassen sich drei Phasen voneinander abgrenzen: Heidentum, Christentum und eine dazwischenliegende Periode des Synkretismus, also der Vermischung von beidem. Archäologische Erkenntnisse bestätigen diese Vorstellungen in der Regel nicht. Methodisch sicheren Boden betreten Forscher erst mit dem Nachweis früher Kirchenbauten. Da in vielen Fällen jedoch angenommen werden muss, dass einige Menschen bereits vorher den neuen Glauben angenommen haben, gab es auch schon früher ein wie auch immer geartetes Christentum. Archäologen können aber nichts über dessen religiöse Qualität sagen. Der Bau von Kirchen kennzeichnet also lediglich den entscheidenden organisatorischen Schritt, nicht die Anfänge der Christianisierung. Der archäologisch nachgewiesene, religionsgeschichtliche Prozess beginnt mit den ersten Gotteshäusern und wird als christliche Institutionalisierung bezeichnet.


Der Christliche Glaube bei Alamannen, Bajuwaren und Thüringern

Obwohl die Regionen rechts des Rheins seit Chlodwigs Taufe de facto Teil eines christlichen Königreichs waren, wissen wir nur sehr wenig über ihre religiöse Struktur. Die überaus dürftigen Schriftquellen - etwa die in späterer Zeit verfassten Lebensbeschreibungen (Viten) irischer und angelsächsischer Missionare - scheinen die landläufige Vorstellung zur Geisteshaltung der Bevölkerung in den rechtsrheinischen Gebieten des Merowingerreiches zu bestätigen. Sie vermitteln das Klischee von einer noch lange an den alten heidnischen Kulten festhaltenden Bevölkerung, die sich nur oberflächlich dem neuen Glauben zuwandte. Auch die ar chäologischen Zeugnisse geben zunächst keinerlei Hinweise auf die Existenz christlicher Gemeinden. Der traditionelle Bestattungskult verlief ungebrochen weiter: Verstorbene fanden, je nach Vermögen der Hinterbliebenen, mit reichen Beigaben auf den abseits der Siedlungen gelegenen Bestattungsplätzen ihre letzte Ruhe. Einige Gräber, vor allem die waffenstarrenden Männergräber, wirken dabei alles andere als christlich. Viele Forscher schließen daraus, dass die Christianisierung in der Peripherie des Merowingerreichs nur langsam voranschritt. Diese Archäologen billigen den Völkern jenseits der alten römischen Traditionszentren allenfalls einen Mischglauben zu, der sich den Schutz sowohl der alten als auch der neuen Religion sichern wollte.

Wie widersprüchlich die Interpretation von archäologischen Funden im Zusammenhang mit dem Nachweis des frühen Christentums sein kann, mag auch hier ein Beispiel verdeutlichen. In der romanischen Peterskirche von Lahr-Burgheim im Ortenaukreis (Baden-Württemberg) fand man 1953 bei Renovierungsarbeiten den Grundriss der Vorgängerkirche aus dem 7. Jahrhundert. In diese Zeit datiert auch ein neben der Kirche angelegtes Frauengrab mit reichen Beigaben. Das Gewand der Toten war mit einer Brosche aus silbernem Pressblech (einer so genannten Scheibenfibel) verschlossen, die mit einem Kreuz und rätselhaften, wirbelförmigen Gebilden verziert ist (siehe Kasten). Handelt es sich bei diesen vier Wirbeln in den Zwickeln des Kreuzes um die letzten Reste heidnischer Motivik, etwa um stark verfremdete Formen des »traditionell-germanischen« Tierstildekors? Oder stehen sie für die vier Winde, Himmelsrichtungen, Elemente oder gar die vier Evangelien? Manche Archäologen sehen in solchen Schmuckstücken Missionsabzeichen im Stil heutiger Pins und Buttons, die den Stolz des Trägers auf seine christliche Gesinnung bezeugen sollten. Andere halten sie für Belege eines »Synkretismus«, also für die Vermischung von Christentum und Heidentum.


Heidnische Symbole?

Schwer zu deutende Ornamente werden in der archäologischen Interpretation nicht selten mit allzu bedeutungsschweren Erklärungen überfrachtet. Das betrifft auch diese scheibenförmige Fibel aus einem in der Peterskirche von Lahr-Burgheim im Ortenaukreis entdeckten Grab des 7. Jahrhunderts. Handelt es sich bei den vier wirbelförmigen Gebilden in den Zwickeln des dargestellten Kreuzes um die letzten Reste »heidnischer« Motivik? Sind es die vier Winde, Himmelsrichtungen, Elemente oder gar die vier Evangelien?

(Im Schattenblick nicht veröffentlichte Abbildung der Originalpublikation.)


In den Medien wird die Synkretismustheorie, und damit auch der Übertritt der Alamannen zum Christentum, gerne mit Slogans wie »Zwischen Heidenopfer und Christenglauben«, »Vom Walhall zum Paradies« oder »Von Wodan zu Christus» propagiert. Man stellt sich dabei vor, dass die Religionswelt der Germanen der Merowingerzeit mit den Göttern der skandinavischen Heldensagen bevölkert gewesen sei. Doch diese Geschichten wurden erst viel später, nämlich bereits in christlicher Zeit, niedergeschrieben. Und abgesehen von einzelnen und zudem umstrittenen Hinweisen - etwa Runeninschriften mit der Nennung germanischer Gottheiten - existieren so gut wie keine zuverlässigen Hinweise, die über das religiöse Leben während der Merowingerzeit so sicher Auskunft geben wie die Gegenstände mit christlichem Symbolgehalt.

Eine besondere Eigenart christlicher Bestattungspraxis bei den Alamannen wie auch bei den Bajuwaren ist beispielsweise die so genannte Goldblattkreuzbeigabe - eine Sitte, die spä testens um 600 möglicherweise aus dem südalpinen, langobardisch-byzantinischen Raum in die Gebiete nördlich der Alpen gelangte. Vor allem im 7., aber auch noch zu Beginn des 8. Jahrhunderts begrub man die Verstorbenen mit Kreuzen aus dünnem Silber- oder Goldblech, die stets in der Nähe des Kopfs oder der Brustgegend lagen (siehe Bild). Offenbar waren sie ursprünglich auf einem Leichentuch befestigt, welches das Gesicht des Toten bedeckte, damit der Mund mit dem Kreuz in Berührung kam. Über 100 solcher Kreuze sind bis heute aus dem nordalpinen Raum bekannt. Weit über die Hälfte von ihnen fanden Archäologen im alamannischen Siedlungsgebiet, vor allem zwischen Neckar und oberer Donau.

Im Gegensatz zu anderen Objekten mit christlichem Symbolgehalt, die bereits in der Welt der Lebenden benutzt wurden, dienten diese Folienkreuze ausschließlich dem Grabbrauch. Sie wurden hierfür nicht etwa aus dem altchristianisierten, italischen Raum importiert, sondern offenbar bei Bedarf jeweils individuell vor Ort hergestellt. Dafür spricht, dass die Gold- oder Silberkreuze oft nur sehr nachlässig mittels Pressblechstempeln verziert wurden, was wiederum im krassen Gegensatz zum Materialwert der Kreuze steht.

Forscher untersuchen auch eine recht stattliche Zahl von Kirchen im heutigen Mittel- und Süddeutschland archäologisch. Deshalb lässt sich mit großer Sicherheit sagen, dass die ersten christlichen Bauten bei Alamannen, Bajuwaren und Thüringern vereinzelt bereits im letzten Drittel des 6. Jahrhunderts gebaut wurden - parallel zu den vermeintlich »heidnischen« Beigabenritualen auf den alten Gräberfeldern.

Die ersten ländlichen Sakralbauten waren allerdings alles andere als prächtige Gotteshäuser. Die meist schlichten, rechteckigen Holzpfostenbauten maßen selten mehr als 15 Meter in der Länge und zehn Meter in der Breite. Ihr Grundriss unterschied sich kaum von den damaligen Wohnbauten, da sie oft noch keinen Altarraum besaßen, der das Gebäude als Sakralbau kennzeichnen würde. Im Verlauf des 7. Jahrhunderts wurden diese Holzkirchen mitunter durch Steinkirchen mit annährend gleichen Proportionen ersetzt (siehe S. 68). Mancherorts wurde die erste Kirche auch gleich in Stein errichtet, doch baute man parallel dazu weiterhin Holzkirchen.

Auffällig selten finden Forscher archäologische Überreste einer liturgischen Grundausstattung - etwa Altäre oder Taufsteine. Charakteristisch sind hingegen sehr reich und kostbar ausgestattete Gräber im Innern sowie unmittelbar außerhalb der frühmittelalterlichen Gotteshäuser. Diese waren im persönlichen Besitz jener Eliten, deren Angehörige hier an exponierter Stelle bestattet wurden. Forscher bezeichnen sie deshalb als Eigenkirchen. Vorrangig dienten sie dem privaten Seelenheil ihrer Erbauer und dem Gedenken an deren Ahnen. Damit illustrieren sie die anfängliche Anpassungsfähigkeit des frühmittelalterlichen Christentums, das die traditionellen Bestattungssitten schlicht adaptierte. Für die einfache Bevölkerung waren diese privaten Sakralbauten allerdings tabu: Erst viel später, während der Karolingerzeit im 8. und 9. Jahrhundert, wurden die privaten Landkirchen mit den begehrten Pfarrrechten versehen und erhielten ihre uns heute bekannte Funktion. Die ehemaligen Besitzer wurden zu Pfarrherren, was ihnen mit dem Kirchenzehnt stattliche Einkünfte sicherte. Zugleich bestimmte die karolingische Gesetzgebung auch, für wen die jeweilige Kirche zuständig war und zu welchem Bistum sie gehörte.

Die christliche Organisation in den östlichen Gebieten des Frankenreichs geht also nicht auf das Wirken einzelner Missionare oder Heiliger zurück, wie allgemein angenommen wird, sondern hauptsächlich auf die merowingischen Eliten. Allerdings entdeckten Forscher in den Kirchen des alamannischen Raums immer wieder auch Gräber von Geistlichen, deren Kleidungsbestandteile dem linksrheinisch-burgundischen Trachtenkreis angehören. Dort hatte Columban das Vogesenkloster Luxeuil gegründet, womit die Entwicklung des so genannten irofränkischen (besser: merowingischen) Mönchtums ihren Anfang nahm. Doch nicht der Gründer selbst, sondern die dem Kloster entwachsenen und in deren Regeln geschulten Nachfahren sorgten für die institutionelle Festigung der Kirche in der Peripherie des Frankenreichs.


Christentum bei Sachsen und Wikingern

Unter Karl dem Großen expandierte das Reich gen Osten. Er eroberte Sachsen und führte die neue Religion gewaltsam ein. Während die Karolinger das Land erschlossen, errichteten sie gleichzeitig überall Kirchen. Dies erleichterte Karls Sohn Ludwig I. den weiteren Ausbau des Reichs. Dank dessen geballter Wirtschaftskraft drang der bezeichnenderweise »der Fromme« genannte Kaiser bis weit in die Gebiete der Wikinger vor.

Schon im 9. Jahrhundert erreichte die neue Religion das ferne Schweden - sozusagen im Gepäck von christlichen Kaufleuten. Mit ihnen reiste Bischof Ansgar von Bremen an den Handelsplatz Birka und legte hier den Grundstein für die Christianisierung Skandinaviens. Die Ausbreitung des Glaubens bei den Wikingern markiert somit den Beginn einer ganz neuen Art von Mission - die Bekehrung aus Handels- und Wirtschaftsinteressen.


Ringen um politische Autonomie: Mission an der Ostsee

Im 10. Jahrhundert ließen sich mehrere Herrscher taufen - darunter der dänische König Harald Blauzahn, Norwegens König Olav I. Tryggvason, der Schwedenkönig Olaf Schoßkönig sowie Polens König Mieszko I. Zur selben Zeit schlossen diese Länder Bündnisse, die ihre Macht gegenüber den Franken und anderen Großreichen stärken sollten. Die Herrschertaufen beschleunigten die Ausbreitung des Christentums in Skandinavien, Polen und Nordostdeutschland, was schließlich zum Zusammenschluss von ursprünglich autonomen Gebieten führte. Dies wird häufig mit der Vereinigung heutiger Länder im Sinn des EU-Abkommens verglichen. Doch während die gegenwärtigen Bestrebungen auf eine Vereinheitlichung des Wirtschaftsraums zielen, ruhte das mittelalterliche Europa auf der geistigen und ideologischen Basis des lateinischen Christentums. Zwar scheint der Christianisierungsprozess auf den ersten Blick zu einer strukturellen Vereinheitlichung der Gebiete zu führen. Eine genauere Betrachtung zeigt aber, dass die neue Religion regional sehr unterschiedlich angenommen wurde. Das bezeugt insbesondere der Slawenaufstand von 983 in Vorpommern. Damals wehrten sich die ansässigen Stämme gegen die Eingliederung in das Frankenreich und die damit verbundenen Missions versuche. Sie lehnten den neuen Glauben nicht zuletzt deshalb ab, weil sie politisch autonom bleiben wollten. Die Taufe eines Herrschers konnte grundlegende gesellschaftliche Veränderungen bewirken - sein Hoheitsgebiet war damit offiziell christlich. Die Konversion eines Königshauses schlägt sich aber nicht unmittelbar im archäologischen Fundgut nieder. Erst wenn eine Religion alle Bevölkerungsschichten erreicht und institutionelle Strukturen ausgebildet hat, können wir sie archäologisch fassen: Dann zeugen Gebäude und Alltagsgegenstände von den neuen religiösen Praktiken.

Sunhild Kleingärtner ist Archäologin an der Universität Kiel.

(Im Schattenblick nicht veröffentlichte Abbildung der Originalpublikation.)

Der Stein von Jellinge wurde nach 960 vom dänischen König Harald Blauzahn gestiftet, nachdem er zum Christentum übergetreten war.


Der Einzug des Christentums in Europa verlief also keinesfalls homogen. Es dauerte mehr als 1000 Jahre, bis die Religion, die unsere abendländische Kultur in den letzten beiden Jahrtausenden bestimmte, unseren Kontinent vollständig eroberte.


Wechselvolle Religionsgeschichte in Ungarn

»Das Schicksal der dem Untergang geweihten römischen Bevölkerung kann nicht von der Geschichte des Christentums getrennt werden.« Mit diesen dramatischen Worten leitete András Alföldi 1938 seine Studie über die völkerwanderungszeitlichen Spuren des Christentums in Pannonien (Gebiete des heutigen Ungarn, Serbien, Slovenien und Kroatien) ein. Seither sind diese beiden Aspekte - der Verbleib romanisierter Gruppen in der Provinz Pannonien und die Rolle des frühen Christentums - in der Forschung engstens miteinander verbunden. Diese Sicht ist allerdings vor allem in der ungarischen Forschung bestimmend, wo die Römerherrschaft mit der Übergabe der Provinzen Valeria und Pannonia Prima an die Hunnen um das Jahr 430 endete. In Pannonia Secunda und Savia (heute zu Serbien, Kroatien und Slowenien gehörig) dagegen wird dieses Ereignis nicht als ein Einschnitt, sondern als ein Abschnitt im Prozess der spätantiken Umwälzungen angesehen.

Die Voraussetzungen der spätrömischen Zeit für die anschließende Entwicklung des frühen Mittelalters sind sowohl historisch als auch archäologisch intensiv erforscht. Über die Bedeutung der Bischofsstädte wird ebenso diskutiert wie über die Folgen der kriegerischen Auseinandersetzungen, die zur Verlegung von Bischofssitzen und zum Transfer von Reliquien führten. Während im Süden der Provinz, in Sirmium und Siscia, zwar mit Unterbrechungen, aber bis zum 6. Jahrhundert Bischöfe überliefert sind, gingen andere Bischofssitze nördlich der Drau, wie Savaria, Scarbantia und Sopianae, bereits 150 Jahre früher unter. Für die nachfolgenden Jahrhunderte blieb das Christentum nur an wenigen Orten präsent. Das wichtigste Zentrum dieser Zeit liegt in Keszthely-Fenékpuszta, wo neben Gräbern eine dreischiffige Basilika die Existenz einer christlichen Gemeinde im 6. Jahrhundert belegt.

Orsolya Heinrich-Tamaska ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Geisteswissenschaftlichen Zentrum für Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO) Leipzig.

(Im Schattenblick nicht veröffentlichte Abbildung der Originalpublikation.)

Diese Fibel vom Anfang des 7. Jahrhunderts stammt aus dem Grab 14 des Horreum-Gräberfelds im ungarischen Keszthely-Fenékpuszta. Forscher deuten sie auf Grund ihrer christlicher Ornamentik als Pilgerandenken.


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Niklot Krohn, Archäologe aus Freiburg, und Sebastian Ristow, Privatdozent an der Universität zu Köln, sind Spezialisten für Kirchenarchäologie und Kontinuitätsforschung.


LITERATURTIPP

Sebastian Ristow
Frühes Christentum im Rheinland
Die Zeugnisse der archäologischen und historischen Quellen an Rhein, Maas und Mosel
[Aschendorff, Münster 2007, 540 S. EUR 49,-]

www.science-shop.de/epoc

WEBLINK

Internationale Tagung

»Die Christianisierung Europas: Entstehung, Entwicklung und Konsolidierung im archäologischen Befund«
16. bis 18. Dezember 2010, Thomas Morus Akademie in Bergisch Gladbach-Bensberg bei Köln
http://christeu.web.office-live.com/default.aspx

LITERATURHINWEISE IM INTERNET
www.epoc.de/artikel/1053916


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Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Abb. S. 59:
Die ersten Christen bauten keine Kirchen. Sie trafen sich in Privathäusern oder Gewölbekellern wie dieser Katakombe in Rom, denn ihr Glaube war bis Anfang des 4. Jahrhunderts im Imperium verboten.

Abb. S. 60:
»Vivas in deo« (Lebe in Gott!) - nicht immer kennzeichnen Inschriften christliche Funde so eindeutig wie diesen Goldring aus dem 4. Jahrhundert, der im Rhein bei Bingen gefunden wurde.

Abb. S. 61:
Die Öllampe in Fischform wurde in einem Grab aus dem 4. Jahrhundert in Wesseling bei Köln gefunden und ist heute im Bonner Landesmuseum zu sehen. Durch Vergleiche mit ähnlichen Funden fanden Forscher heraus, dass sie wohl im östlichen Mittelmeerraum hergestellt wurde. Der nicht erhaltene Bauch des Fischs war ursprünglich mit einem Christogramm verziert. Ob der wohlhabende Römer aus Wesseling wusste, was diese Zeichen bedeuten, und wie er in den Besitz der Lampe gekommen war, die schließlich als Beigabe in sein Grab gelangte, wissen wir nicht.

Abb. S. 62-63:

Das Christentum erlangt Bedeutung ... (Europa-Karte)

Abb. S. 64:
Teile dieser merowingerzeitlichen Taufkirche in Poitiers stammen aus dem 6. Jahrhundert. Das Baptisterium ist einer der ältesten erhaltenen christlichen Sakralbauten in Frankreich.

Abb. S. 67:
Im 7. und zu Beginn des 8. Jahrhunderts bestatteten die Alamannen ihre Verstorbenen oft mit solchen Kreuzen aus Gold- oder Silberblech.

Abb. S. 68:
Neue Ausgrabungen, wie hier auf dem Frauenberg bei Jechaburg in Thüringen, bezeugen eindrucksvoll, dass auch in der sagenumwobenen Landschaft im Schatten des Kyffhäusers bereits deutlich vor der historisch überlieferten Mission durch den »Apostel der Deutschen« Bonifatius im Jahr 714 erste Kirchen existierten. Die Sage, dass sich am Standort des merowingerzeitlichen Gotteshauses und dessen als Wallfahrtskirchen genutzten Nachfolgebauten einst ein heidnisches Heiligtum befunden haben soll, macht die Befundsituation für die Erforschung der christlichen Institutionalisierung besonders interessant - zumal das im Jahr 989 am Fuß des Bergs gegründete Benediktinerkloster bis zur Reformation die Funktion eines Archidiakonatsitzes des Bistums Mainz besaß.


© 2011 Niklot Krohn, Sebastian Ristow, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg


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Quelle:
epoc 1/11, Seite 58 - 69
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. März 2011