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KIRCHE/1247: Jahresschlusspredigt von Erzbischof Dr. Robert Zollitsch (DBK)


Pressemitteilungen der Deutschen Bischofskonferenz vom 31.12.2011

Jahresschlusspredigt von Erzbischof Dr. Robert Zollitsch

"Das Ansehen der Kirche hängt von der Überzeugungskraft jedes einzelnen Christen ab"


Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Dr. Robert Zollitsch, hat in seiner Silvesterpredigt zu einem sichtbaren Glaubensbekenntnis in der Öffentlichkeit ermutigt. "Das Ansehen der Kirche hängt von der Überzeugungskraft jedes einzelnen Christen ab, von Menschen, die mit demütigem Selbstbewusstsein ihren Glauben bekennen, die sich für andere stark machen und sich für die Schwachen einsetzen, die tapfer zu ihren Gewissensüberzeugungen stehen, auch dann wenn sie dafür nicht öffentlich gelobt werden", so Zollitsch im Freiburger Münster. Dabei müsse der Mensch seine Verantwortung in der Gesellschaft und für die Schöpfung ernst nehmen: "Der Glaube an Gott macht dankbar für das Geschenk der Schöpfung, er macht sensibel für einen verantwortungsvollen und nachhaltigen Umgang mit der Natur."

Notwendig sei, so Erzbischof Zollitsch, die bewusste Hinwendung zu jenen Menschen, die der Hilfe bedürften: "Mit Jesus Christus und dem Eintritt des Christentums in unsere Welt sind Respekt vor dem Leben in allen Situationen, Solidarität, Hinwendung zu den Kranken, Fürsorge für Arme und Notleidende, für Ausgegrenzte und Verachtete in diese Welt eingetreten. Gott schenkt unserem Leben seine unantastbare Würde. Er ist das Licht, das jeden Menschen erleuchtet." Eine Gesellschaft, die Gott in ihrer Mitte wisse, habe auch in größten Sorgen und Herausforderungen nie einen Grund zur Trostlosigkeit. "Damit werden kein Leid und keine Not schön geredet. Zu viele Menschen auf unserem Erdball leben in einer Situation, die wirklich trostlos erscheint", sagte Zollitsch. Erneut verurteilte er die Gewalt gegen Christen in Nigeria und im Irak und forderte zur Unterstützung für die Menschen in den Hungergebieten Ostafrikas auf. Um dem Elend in der Welt zu begegnen, sei eine Verantwortung für die kommenden Generationen notwendig: "Es braucht den Schulterschluss aller Verantwortlichen in Staat und Gesellschaft, in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft. Wir dürfen nicht nachlassen, Mittel und Wege zum Abbau der immensen Staatsverschuldung in Deutschland zu suchen. Dazu braucht es realistische Lösungen, keine einbalsamierende Rhetorik für die Wähler. Dazu braucht es ethische Leitplanken."

Ausdrücklich würdigte Erzbischof Zollitsch das erfolgreiche, von der Europäischen Union ins Leben gerufene "Jahr des Ehrenamtes". Er sei dankbar für das Engagement unzähliger Frauen und Männer in der Kirche, die miteinander den Glauben teilen und die Gesellschaft im Geiste Jesu prägten. Dieser Einsatz mache froh und zeige: "Die Kirche lebt und hat die Kraft zum Aufbruch in die Zukunft und für die Veränderungen, die damit verbunden sind. Gemeinsam, aktiv und innovativ wollen wir in die Zukunft gehen - aus jener Kraft und jener Haltung, die in der grenzenlosen Solidarität und Liebe des Sohnes Gottes aufleuchtet."


Hinweis: Den Wortlaut der Predigt von Erzbischof Zollitsch finden Sie im Anhang und unter www.dbk.de


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Es gilt das gesprochene Wort!

Predigt zum Jahresschluss
von Erzbischof Dr. Robert Zollitsch,
Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz,
im Münster Unserer Lieben Frau in Freiburg
Samstag, 31. Dezember 2011

Mach's wie Gott: Brich auf zu den Menschen
und verwandle die Welt durch die Liebe
Schrifttexte: Les: 1 Joh 2, 18-21 Ev: Joh 1, 1-18

Liebe Schwestern und Brüder in der Gemeinschaft des Glaubens!

Seit vier Jahrzehnten kürt die Gesellschaft für deutsche Sprache ein "Wort des Jahres". Sie sucht nach Begriffen, die das gesellschaftliche Leben und die öffentliche Diskussion widerspiegeln. Sie will damit anregen, über das zu Ende gehende Jahr nachzudenken und das in den Blick zu nehmen, was es prägte und kennzeichnet. Es lohnt sich, den bevorstehenden Jahreswechsel zu nutzen, um im persönlichen Rückblick zu bedenken, wie wohl mein eigenes Wort des Jahres 2011 lauten könnte: Was hat mein privates und berufliches Leben in den vergangenen 12 Monaten entscheidend geprägt und bestimmt? In welchem Wort spiegelt sich das in wenigen Stunden zu Ende gehende Jahr in besonderer Weise wider?

Wenn Sie mich nach einem solch kennzeichnenden Wort des Jahres für unser Erzbistum fragen, so fällt mir die Antwort nicht schwer. Für mich heißt unser Wort des Jahres 2011 'Papstbesuch'. Nach 1.600 Jahren Christentum hier am Oberrhein besuchte zum ersten Mal ein Papst Freiburg. "Ich bin gerne gekommen in diese schöne Stadt", so sagte Papst Benedikt sichtlich gerührt und von der Sonne verwöhnt hier bei seiner Ankunft auf dem Münsterplatz, "um mit euch gemeinsam zu beten, das Wort Gottes zu verkünden und gemeinsam die Eucharistie zu feiern".

Wir dürfen von Herzen dankbar sein, dass unser Heiliger Vater diese Reise - die mit einem anstrengenden Programm verbunden war - auf sich genommen hat und uns unter dem Leitwort "Wo Gott ist, da ist Zukunft" ermutigte, unser Leben und Zusammenleben noch stärker an Gott auszurichten, unsere Kraft und Hoffnung aus dem Glauben an Jesus Christus zu schöpfen. Dieser Glaube, liebe Schwestern, liebe Brüder, hängt nicht vom gesellschaftlichen Kurswert der Kirche ab. Doch umgekehrt gilt: Das Ansehen der Kirche hängt von der Überzeugungskraft jedes einzelnen Christen ab, von Menschen, die mit demütigem Selbstbewusstsein ihren Glauben bekennen, die sich für andere stark machen und sich für die Schwachen einsetzen, die tapfer zu ihren Gewissensüberzeugungen stehen, auch dann wenn sie dafür nicht öffentlich gelobt werden. Deshalb hat uns Papst Benedikt neu sensibel gemacht, nicht oberflächlich zu werden, sondern Tiefgang zu bewahren, uns am Wort Gottes aufzurichten und auszurichten. Denn "das Wort des Herrn bleibt in Ewigkeit". (1 Petr 1,25) Es ist nicht toter Buchstabe aus längst vergangenen Epochen, sondern "Wort des lebendiges Gottes", wie der Lektor nach jeder Lesung bekennt; lebendiges Wort, das uns anrühren und bewegen will.

Es ist das Wort, das "im Anfang war und das bei Gott war und durch das alles wurde, was geworden ist" (vgl. Joh 1,1f) - so heißt es im Johannesprolog, den uns der Diakon eben verkündet hat. Gottes wirkmächtiges Wort hat diese, unsere Welt ins Dasein gerufen. Gerade im Augenblick, da das Jahr zu Ende geht, blickt die Kirche auf den Anfang - den Anfang, der aus Gott ist. Wir blicken auf Gott, der unsere Welt geschaffen hat. Wir blicken auf das Geschenk der Schöpfung, die heute in vielfacher Hinsicht bedroht ist - Artensterben, Ölteppiche, Atomunfälle, Überdüngung, Flächenverbrauch und Monokultur sind nur wenige Stichworte. Doch nicht nur Wirtschaft und Politik, jeder Verbraucher und damit jede und jeder von uns kann helfen, jene zu unterstützen, die ethische Maßstäbe einhalten, die dem fairen Welthandel dienen, nachhaltig wirtschaften und sich dem Wohl der Menschen, dem Schutz der Natur und der Verantwortung für die kommenden Generationen verpflichtet wissen. Der Glaube an Gott macht dankbar für das Geschenk der Schöpfung, er macht sensibel für einen verantwortungsvollen und nachhaltigen Umgang mit der Natur.

Ja, der Prolog des Johannesevangeliums ist eine ständige Herausforderung, eine Einladung, immer wieder die Schwelle des rein Empirischen zu überschreiten - hin zu Gott, zu ihm, von dem es heißt: das "Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt, und wir haben seine Herrlichkeit gesehen". Es ist wirklich Gott selbst, der in Jesus Christus Mensch geworden ist, weil - wie Papst Benedikt bei seiner Rede im Konzerthaus hervorhob - die "göttliche Liebe nicht für sich sein, sondern sich verströmen will: [...] Sie ist Mensch geworden, um unser Gefährte zu sein und um uns zu verwandeln."(1)

Und damit, liebe Schwestern und Brüder, ist Entscheidendes in unserer Welt geschehen. Mit Jesus Christus und dem Eintritt des Christentums in unsere Welt sind Respekt vor dem Leben in allen Situationen, Solidarität, Hinwendung zu den Kranken, Fürsorge für Arme und Notleidende, für Ausgegrenzte und Verachtete in diese Welt eingetreten. Gott schenkt unserem Leben seine unantastbare Würde. Er ist das Licht, das jeden Menschen erleuchtet. Er ist die Hoffnung, die alle menschliche Hoffnung übertrifft. Umso mehr dürfen wir uns in dieser Stunde fragen: Spiegelt sich diese Hoffnung auf unseren eigenen Gesichtern wider? Dringt das ermutigende und frohmachende Wort Gottes durch meine eigenen Worte und Taten zu meinen Mitmenschen? Sollten wir Christen, liebe Schwestern, liebe Brüder, nicht offensiver und mutiger aufzeigen, dass von Gott her dem Menschen immer eine Hoffnung zugesagt ist? Machen wir's wie Gott: Brechen wir auf zu den Menschen und verwandeln die Welt durch die Liebe!

Eine Gesellschaft, die Gott in ihrer Mitte weiß, die sich Zeit nimmt, auf Gottes Wort zu hören und es im eigenen Herzen wirken zu lassen, hat auch in größten Sorgen und Herausforderungen nie einen Grund zur Trostlosigkeit. Damit werden kein Leid und keine Not schön geredet. Zu viele Menschen auf unserem Erdball leben in einer Situation, die wirklich trostlos erscheint. Denken wir an die grausamen Anschläge auf Christen in Nigeria und im Irak oder an die Menschen in den Hungergebieten Ostafrikas, an die Opfer von Naturkatastrophen, von Terror, Gewalt und ungerechten Systemen. Und wir brauchen gar nicht so weit zu gehen. Auch in unserem Umfeld gibt es manche Not: Menschen, deren Ehe zerbricht, Menschen, die von einer heimtückischen Krankheit geplagt sind, die sich den Anforderung am Arbeitsplatz nicht mehr gewachsen fühlen oder einen lieben Menschen verloren haben. - Beispiele für Menschen, die ganz besonders unserer Solidarität und Nächstenliebe bedürfen.

Auf diesem Hintergrund erfährt das Wort des Jahres, das die Gesellschaft für deutsche Sprache für das Jahr 2011 gekürt hat, eine ganz neue Bedeutung: 'Stresstest'. Denn ist unser Umgang mit den In-Not-Geratenen nicht eine Art Stresstest einer solidarischen Gesellschaft?

Wir tragen nicht nur für uns selbst Verantwortung, sondern auch für unsere Mitmenschen. Ja, mehr noch: wir tragen Verantwortung für die kommenden Generationen. Es muss uns erschrecken, wenn vor wenigen Tagen wieder die Meldung zu lesen war: "Staatsschulden auf Rekordhoch". Selbst in Zeiten steigender Steuereinnahmen gelingt es nicht ansatzweise, die exorbitanten Schulden von mehr als zwei Billionen abzubauen, sondern es reicht nur dafür, den Berg langsamer wachsen zu lassen. "Staatsverschuldung" ist schon seit Jahrzehnten so etwas wie ein Dauerwort des Jahres. Umso mehr braucht es den Schulterschluss aller Verantwortlichen in Staat und Gesellschaft, in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft. Wir dürfen nicht nachlassen, Mittel und Wege zum Abbau der immensen Staatsverschuldung in Deutschland zu suchen. Dazu braucht es realistische Lösungen, keine einbalsamierende Rhetorik für die Wähler. Dazu braucht es ethische Leitplanken. Wer dermaßen Schulden macht, macht sich schuldig. In unzeitgemäßer Erwartung an wirtschaftliches Wachstum liegt ein immenser sozialer Sprengstoff, im überzogenen Anspruch auf Wohlstand tickt eine Zeitbombe. Vielleicht müssen wir in säkularer Gesellschaft neu die Haltung der Askese entdecken. Wir spüren alle, dass wir für die großen Themen keine klaren Ziele und keine ansprechenden und motivierenden Perspektiven haben. Unterschwellig bestimmen Unsicherheit und Angst nicht nur Börsen und die Aktienkurse, sondern auch Politik und Gesellschaft. Wir Deutschen scheinen dabei geradezu Meister zu sein. Nicht von ungefähr spricht man in den USA von der "German Angst". Angst und Egoismus bestimmen viele Bereiche unserer Welt.

Da tut es gut, an der Schwelle zum neuen Jahr, sich zu besinnen und den Blick zu weiten.

Denn das von der Europäischen Union zum Jahr des Ehrenamts ausgerufene Jahr 2011 hat eindrucksvoll gezeigt, welches Potential in uns Menschen steckt: Mehr als 100 Millionen Europäer beteiligen sich an ehrenamtlichen Tätigkeiten, setzen den Grundsatz der Solidarität in die Tat um. Auch in unserer Kirche setzen sich unzählige Frauen und Männer, Junge und Alte ehrenamtlich ein, teilen miteinander den Glauben und prägen unsere Gesellschaft im Geist Jesus Christi. Das weiß ich sehr zu schätzen, dafür bin ich dankbar. Zugleich macht es froh und verdeutlicht: Die Kirche lebt und hat die Kraft zum Aufbruch in die Zukunft und für die Veränderungen, die damit verbunden sind. Gemeinsam, aktiv und innovativ wollen wir in die Zukunft gehen - aus jener Kraft und jener Haltung, die in der grenzenlosen Solidarität und Liebe des Sohnes Gottes, der Mensch geworden ist, aufleuchtet und unter uns lebendig geworden ist.

Unsere christliche Solidarität, liebe Schwestern, liebe Brüder, macht auch an Ländergrenzen nicht halt. Davon konnte ich mich Anfang Dezember auf meiner Reise nach Brasilien und Peru vor Ort selbst überzeugen. Hautnah erlebte ich, wie unsere Hilfe ankommt: Kranke finden Unterkunft und Hilfe, Jugendliche und Erwachsene werden zu Katecheten ausgebildet und leiten kleine Gemeinschaften, auf den Straßen ausgesetzte Waisenkinder werden aufgenommen und gepflegt und die Priesteramtskandidaten in Peru werden in ihrem Studium und der Ausbildung unterstützt.

Als ich am vierten Dezember von Lima aus wieder in unsere Heimat aufbrach, war ich angefüllt mit Eindrücken und Erlebnissen, vor allem aber mit Freude und Dank. Das, was mir an Freude und Dank entgegenkam, galt nicht nur mir persönlich, sondern unserer ganzen Erzdiözese. Gerne gebe ich die große Freude und den herzlichen Dank für die Solidarität an Sie alle weiter. Und noch etwas darf ich aus Lateinamerika mitbringen: Sprühende Funken des Gottvertrauens, einen Glauben, der ansteckt, eine Kirche voller Dynamik, Innovationskraft und Glaubensfreude. Auch wenn wir hier in Deutschland in einem anderen kulturellen und gesellschaftlichen Klima leben, so bin ich doch der festen Überzeugung, dass wir von der ansteckenden Dynamik der lateinamerikanischen Katholiken vieles lernen können - die Erfahrung, die wir auch beim Besuch von Papst Benedikt machen durften: Wo ein Feuer der Begeisterung in einem Menschen brennt, da springt auch der Funke auf andere über.

Deshalb geht es bei unserem Weg in die Zukunft vor allen Fragen der Strukturen und Organisation, vor allen pastoralen Planungen und seelsorglichen Strategien in unseren Seelsorgeeinheiten mit ihren Gemeinden zuallererst um die flammende Leidenschaft für Gott und die Menschen.

Liebe Schwestern, liebe Brüder, wenn Gott in seinem Sohn zu uns kommt, zu uns spricht, dann heißt dies auch für uns: hören, was Gott uns sagt, und dann aufzubrechen zu den Menschen. Dann heißt dies: bereit sein, die Ohren zu spitzen und gegebenenfalls die Perspektive zu wechseln; bereit sein, mich auf Neues einzustellen im Hören auf Gott und sein Wort. Darum haben wir Bischöfe zu einem geistlichen Dialog- und Gesprächsprozess eingeladen. Wir wollen Hörende sein - verstärkt aufeinander und miteinander auf Gott hören.

Der gemeinsame deutschlandweite Auftakt fand bei einem Gesprächsforum in Mannheim statt. Es war beeindruckend, wie 300 Teilnehmer, Frauen und Männer, Junge und Ältere, Bischöfe, Priester, Ordensleute und Laien gemeinsam beteten, Gottesdienst feierten, aufeinander hörten, sich austauschten, sich gegenseitig beschenkten. Ja, wir sind bereit, wie es das Leitwort des Katholikentags im kommenden Jahr in Mannheim vorgibt: einen neuen Aufbruch zu wagen. Dabei geht es weder um eine "Jetzt-geht's-los-Rhetorik" noch darum, die Zukunft der Kirche "herbeizudialogisieren - wie kürzlich in einer Zeitung zu lesen war. Nein, es geht darum, wahrzunehmen, dass Gott selbst es ist, der den Dialog mit uns Menschen sucht und der in seinem Sohn Jesus Christus Mensch wurde und so zu uns aufgebrochen ist. Er macht uns Mut, es ihm gleich zu tun und selbst den Aufbruch zu wagen. Denn "zu Beginn des dritten Jahrtausends gibt es [...] viele Christen, denen das Wort Gottes in überzeugender Weise neu verkündet werden muss, damit sie die Kraft des Evangeliums konkret erfahren können."(2)

Was diese Kraft des Evangeliums ganz konkret bewirken will, hat Papst Benedikt bei seiner historischen Ansprache vor dem Deutschen Bundestag anhand der Frage nach dem Recht eindrucksvoll dargelegt. Käme es nur darauf an, was Menschen durch Mehrheitsentscheidung setzen und für Recht erklären, dann stünden wir in der Gefahr, in einem Rechtspositivismus Dinge für Recht zu erklären, die zutiefst Unrecht sind. Dann könnte man ungeborenen Kindern oder Demenzkranken das Lebensrecht absprechen. Dann wären tagesaktuelle, vermeintlich moderne Ideen entscheidend und könnten absolut gesetzt werden. Wie verheerend sich dies auswirken kann, haben wir in unserer deutschen Geschichte im vergangenen Jahrhundert leidvoll erfahren müssen. Gerade aus dieser Erfahrung heraus bedarf es unser aller Anstrengung, rechtsextremes Gedankengut bereits im Keim zu ersticken und Gewalt gegen Mitmenschen unmissverständlich zu verurteilen. Es ist eben im Letzten nie das allein von uns gesetzte, von Menschen gemachte Recht, das unser Zusammenleben hält und erhält. Es braucht eine tiefere Grundlage für unser Miteinander, die festen Bestand hat und nicht den vorherrschenden Stimmungen unterliegt. Papst Benedikt formulierte aus diesem Grund in seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag: "Die sich exklusiv gebende positivistische Vernunft, die über das Funktionieren hinaus nichts wahrnehmen kann, gleicht Betonbauten ohne Fenster, in denen wir uns Klima und Licht selbst geben, beides nicht mehr aus der weiten Welt Gottes beziehen wollen. [...] Die Fenster müssen wieder aufgerissen werden, wir müssen wieder die Weite der Welt, den Himmel und die Erde sehen und all dies recht zu gebrauchen lehren."

Dieses Fenster zu Gott hin, liebe Schwestern, liebe Brüder, stoßen wir in dieser Stunde ganz bewusst auf: Wir bringen Dank und Bitte, Freude und Zweifel vor Gott und bitten um seinen Segen. Wer sich Zeit nimmt für Gott, fürs Gebet, fürs Lesen der Heiligen Schrift und die Feier der Eucharistie, der tut nicht etwas, das von den entscheidenden Fragen unseres Menschseins entfernt oder ablenkt. Im Gegenteil: gerade weil wir in einer Welt leben, in der Vieles unübersichtlich wird und schnelllebig ist, brauchen wir ein Fundament, auf das wir uns verlassen und dem wir trauen können - auch dann, wenn gesellschaftliche Erdbeben uns erschüttern und unser Leben unter den Anforderungen des Alltags zu zerbrechen droht. Halten wir uns an die Erfahrung des Beters der Psalmen, der bekennt: "Herr, dein Wort bleibt auf ewig, es steht fest wie der Himmel [...] Es ist meinem Fuß eine Leuchte, ein Licht für meine Pfade". (Ps 119,89-90) Wenn wir mit IHM verbunden sind, dann machen wir die Fenster unseres Lebens auf und lassen das Licht Gottes in unser Leben. Dieses Licht des Lebens weist uns den rechten Weg und macht uns Mut, die Schwelle des neuen Jahres zuversichtlich zu überschreiten und uns den Aufgaben zu stellen, die uns das Jahr 2012 bringt. Als Glaubende taumeln wir nicht blind durch unser Leben. Wir vertrauen darauf, dass Gott uns leitet und begleitet. Jeder Tag sei daher geprägt von der immer neuen Begegnung mit Christus, dem menschgewordenen Wort des Vaters: Er steht am Anfang und am Ende, und "in ihm hat alles Bestand" (Kol 1,17). Pflegen wir die Stille, um das Wort des Herrn zu hören und darüber nachzudenken, damit es immer neu in uns wohnt, in uns lebt und zu uns spricht.(3)

Dann ist heute schon klar, wie das Wort des Jahres 2012 heißen wird: "Die Freude am Herrn ist eure Stärke" (Neh 8,10). Amen.


Anmerkungen:
(1) Papst Benedikt XVI. bei seiner Rede im Konzerthaus in Freiburg am 25.09.2011.
(2) Nachsynodales Apostolisches Schreiben "Verbum Domini" Nr. 96.
(3) Nachsynodales Apostolisches Schreiben "Verbum Domini" Nr. 124.


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Quelle:
Pressemitteilung Nr. 195 und 195a vom 31. Dezember 2011
Herausgeber: P. Dr. Hans Langendörfer SJ,
Sekretär der Deutschen Bischofskonferenz
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Januar 2012