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KIRCHE/750: Tiefgreifender Wandel - Die katholische Kirche in Deutschland (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion 5/2009

Tief greifender Wandel
Die katholische Kirche in Deutschland am Anfang des 20. und des 21. Jahrhunderts

Von Erwin Gatz


Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die katholische Kirche in Deutschland eine vitale, gut organisierte, wenn auch abgeschottete Größe in der Gesellschaft. 100 Jahre später ist sie ebenfalls eine Minderheit, aber eine, die in vieler Hinsicht verunsichert ist und mühsam ihren Weg suchen muss.


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Wie die gesamte Gesellschaft hat auch die katholische Kirche Deutschlands während des 20. Jahrhunderts einen Wandel erlebt, der dem im Zeitalter der Reformation, der Aufklärung und der Französischen Revolution in nichts nachsteht. Das Kalenderjahr 1900 bildete freilich für die kirchliche Entwicklung ebenso wenig eine Zäsur wie das Jahr 2000. Die vergleichende Betrachtung soll daher bereits mit 1890 beginnen und mit dem Rücktritt von Kardinal Karl Lehmann vom Vorsitz der Deutschen Bischofskonferenz 2008 enden.

Warum 1890? In diesem Jahr verließ der deutsche Katholizismus seine durch den Kulturkampf erzwungene Defensivhaltung und ging zur offensiven Mitgestaltung der Gesellschaft über. Im Verlauf des Kulturkampfes, von dem die meisten Katholiken heute nicht mehr wissen, dass es ihn gab, hatte die Mehrheit der deutschen Bundesstaaten versucht, ihre Hoheit über die katholische Kirche wiederherzustellen und deren von ihnen abgelehnten "Ultramontanisierung" mit ihrer dezidierten Romorientierung zu steuern. Das betraf beispielsweise die Ausbildung und Anstellung der Geistlichen, denen im Gegensatz zu allen anderen Akademikern ein staatliches "Kulturexamen" abverlangt wurde, das die Bischöfe jedoch ablehnten und die Studierenden verweigerten. Während des unter Reichskanzler Otto von Bismarck erbittert geführten Konflikts waren in Preußen zeitweise die Hälfte der Bischöfe und eine große Zahl von Seelsorgern inhaftiert und später zur Emigration gezwungen. Viele Ordensleute wurden aus Preußen beziehungsweise aus dem Deutschen Reich ausgewiesen und ein großer Teil der Gemeinden hatte keinen Seelsorger mehr.

Dieser unerträgliche Zustand wurde zwar bis 1887 allmählich beigelegt, doch blieb die Erinnerung daran noch lange lebendig. Auf Drängen ihres politischen Führers Ludwig Windthorst gaben die Katholiken jedoch 1890 ihre Abwehrhaltung auf und konzentrierten sich stattdessen auf die Mitgestaltung des Staates und vor allem auf eine Lösung der so genannten Sozialen Frage. Das geschah unter anderem durch den damals in aller Breite einsetzenden Ausbau von Vereinen, die die katholische Soziallehre umsetzen wollten, wie sie Leo XIII. 1891 in der Enzyklika "Rerum novarum" dargelegt hatte. Die "Denkfabrik" dieses reich gegliederten Vereinswesens, das vor dem Ersten Weltkrieg seinen Höhepunkt erreichen sollte, war der "Volksverein für das katholische Deutschland". Den politischen Zusammenschluss des deutschen Katholizismus bildete die zwar nicht nominell, aber faktisch katholische Zentrumspartei.


Vor dem Ersten Weltkrieg waren die deutschen Katholiken gut aufgestellt

Die Katholiken stellten um 1900 ein gutes Drittel der Reichsbevölkerung. Ihre regionale Verteilung spiegelte noch weitgehend die im Zeitalter der Konfessionalisierung entstandenen Verhältnisse, doch schritt die Konfessionsmischung infolge der Industrialisierung und Verstädterung voran. Sie machte den weiteren Ausbau der Diasporaseelsorge unabdingbar.

Das kirchliche Leben vollzog sich vor allem in den fast 12.000 Pfarrgemeinden mit ihren zahlreichen kirchlichen Einrichtungen. So gab es 1913 allein über 3.400 katholische Krankenhäuser und Heime in meist enger Anbindung an die Pfarreien. Mit diesen verbunden waren ferner die katholischen Vereine. Die Vitalität des deutschen Katholizismus zeigte sich während der damaligen wirtschaftlichen Hochblüte auch im Bau zahlreicher Kirchen, Pfarrhäuser, Pfarrheime und Sozialeinrichtungen. Die kirchlichen Institutionen und Einrichtungen finanzierten sich zu einem kleinen Teil aus jenen Staatsleistungen, die als Ausgleich für die Enteignung von Kirchenbesitz während der Säkularisation von 1803 geleistet wurden, zu einem weit größeren Teil dagegen aus den damals schrittweise eingeführten Kirchensteuern und aus Spenden.

Deutschland war um die Wende zum 20. Jahrhundert reich an Priestern, obwohl es noch keine systematische Berufswerbung gab. So stieg die Zahl der Priesteramtskandidaten von 1890 bis 1914 um 44 Prozent. Im Erzbistum Köln wurden beispielsweise von 1901 bis 1911 im Jahresdurchschnitt 81 Priester geweiht. Sie kamen vornehmlich aus der kinderreichen katholischen Lebenswelt. Amtsniederlegungen waren äußerst selten. Auch die Ordensgemeinschaften befanden sich im Aufwärtstrend (1910: 47.000 Ordensfrauen), hatten aber noch längst nicht ihren Höhepunkt erreicht. Die große Zahl ihrer Mitglieder erlaubte es ihnen, immer mehr Aufgaben auf dem Gebiet der praktischen Sozialarbeit und der Erziehung zu übernehmen.


Die persönliche Religionsfreiheit war garantiert, doch gab es in einigen norddeutschen, protestantisch dominierten Staaten noch Einschränkungen für das öffentliche Wirken der Kirche. Das Verhältnis von Kirche und Staat war mittlerweile einvernehmlich, doch waren Katholiken von politischen und administrativen Spitzenpositionen noch weitgehend ausgeschlossen. Die Zentrumspartei war allerdings wegen ihrer breiten parlamentarischen Basis in alle wesentlichen Entscheidungen einbezogen.

Eng war in den meisten Bundesstaaten die Verbindung der Volksschule, die damals noch Schule der großen Mehrheit aller Kinder war, zu den Pfarreien. Ihr Beitrag zur religiösen und sozialen Sozialisierung der Heranwachsenden war erheblich, zumal die Lehrerschaft durchweg kirchengebunden war. Statistische Daten über die Teilnahme der Katholiken am Gottesdienst wurden erst seit 1916 erhoben. In diesem Jahr empfingen im Erzbistum Köln 51 und im Bistum Augsburg 66 Prozent aller nominellen Katholiken die Ostersakramente.


Die deutschen Katholiken waren also vor dem Ersten Weltkrieg gut "aufgestellt". Sie bildeten eine auf konfessionelle Abschottung bedachte Sondergesellschaft mit eigenen Institutionen, eigener Presse und Partei sowie Vereinigungen der verschiedensten Art. Diese "Versäulung" barg jedoch allerlei Sprengstoff und unter der Oberfläche der kirchlichen Disziplin rumorte es. Vor allem eine größere Öffnung zur Gesamtgesellschaft erschien vielen Katholiken geboten. Die römische Kurie bestand dagegen unter Pius X. auf einer strengen Abgrenzung. In diesem Zusammenhang kam es zum "Modernismusstreit" um neue theologische Ansätze, zum "Literaturstreit" wegen der selbst empfundenen Inferiorität des Katholizismus auf kulturellem und wissenschaftlichem Gebiet sowie zum Zentrums- und Gewerkschaftsstreit. Stets ging es um das rechte Maß an konfessioneller Abschließung und überkonfessioneller Offenheit. Seit den Freiheitsgarantien der Weimarer Reichsverfassung (1919) und dem Abschied von der innerkirchlichen Engführung kam es dann in der Zeit der Republik zu einem lebendigen kirchlichen Aufbruch.


An der Wende zum 21. Jahrhundert hatte sich das Bild verändert

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts präsentierte sich die Katholische Kirche gegenüber der Situation zu Beginn des Jahrhunderts stark verändert. Das galt weniger für ihre äußere Verfassung als für ihren inneren Zustand. 2007 gehörten nur noch 70 Prozent der deutschen Bevölkerung einer Religionsgemeinschaft an, und zwar je 31 Prozent der Katholischen Kirche oder einer Evangelischen Landeskirche, jeweils mit leicht fallender Tendenz. Der Anteil der Katholiken an der Gesamtbevölkerung war kaum geringer als 1900. Vier Prozent der Bevölkerung waren Mitglied anderer christlicher Gemeinschaften und vier Prozent Muslime, die mit Unterstützung der Ölstaaten und ihrer Herkunftsländer in die Öffentlichkeit drängten und großenteils die Integration verweigerten.

9 Prozent der Bevölkerung - und das war die gegenüber 1900 einschneidendste Veränderung - waren religiös nicht gebunden. Das resultierte aus der religionsfeindlichen Politik des NS-Regimes und des kommunistischen Regimes in der DDR wie auch aus der voranschreitenden Säkularisierung der Gesellschaft.


Die nominelle Mitgliedschaft und die tatsächliche religiöse Bindung waren jedoch keineswegs deckungsgleich. 70 Prozent der deutschen Bevölkerung bezeichneten sich 2007 als religiös und 28 Prozent als eindeutig nicht religiös. Stark erodiert war infolge der seit der Zeit des NS-Regimes und des Zweiten Weltkrieges ausgelösten Massenwanderungen die zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch stark heimatverbundene und festgefügte katholische Lebenswelt mit ihrem Normenkatalog, der sogenannten "katholischen Moral".

Deutlich geschwächt bei weiter fallender Tendenz zeigten sich die über 12.000 Ortsgemeinden als primäre Orte kirchlichen Lebens. Dies hing unter anderem mit der rückläufigen Zahl der Seelsorger zusammen, die nun oft mehrere Gemeinden gleichzeitig betreuen mussten und den traditionellen Erwartungen an die Individualseelsorge nicht mehr entsprechen konnten. Dies konnte durch die neuen pastoralen Berufe nur teilweise ausgeglichen werden.

Der Zerfall der traditionellen weltanschaulichen Bindungen hatte konfessionsübergreifend eine wachsende Entsolidarisierung mit sich gebracht. Neben dem Niedergang der überkommenen Gewissheiten verfiel aber auch der Fortschrittsglaube. 2007 nahmen aber immerhin 3,5 Millionen, also knapp 14 Prozent aller Katholiken am Sonntagsgottesdienst teil. Sie bildeten neben den evangelischen Christen nicht nur die größte Glaubens-, sondern auch die größte Wertegemeinschaft. Drastisch zurückgegangen war die Zahl der Ordensfrauen, die noch bis vor wenigen Jahrzehnten das Erscheinungsbild der Kirche mitbestimmt hatten. Verblasst war ferner der Beitrag der öffentlichen Schulen für die kirchliche Sozialisation und das religiöse Wissen. Ähnliches galt für den einst mächtigen Vereinskatholizismus, neben dem aber neue geistliche Gemeinschaften entstanden waren.

Groß war die Zahl der ehrenamtlichen Mitarbeiter in den Gemeinden und ihren Gremien. Auch die karitativen Einrichtungen der deutschen Katholiken und ihre Hilfswerke waren stärker ausgebaut als je zuvor und die Spendenbereitschaft der Gläubigen war beachtlich. Ein fundamentaler Wandel hatte sich im Verhältnis zu den nichtkatholischen Christen vollzogen. Es gab zwar keine Abendmahlsgemeinschaft, doch war an die Stelle der einstigen Abschottung eine freundliche Zusammenarbeit getreten.


Die von der Medien-Dienstleistung GmbH in Auftrag gegebene und 2005 veröffentlichte "Sinus-Studie" konstatierte einen hohen Bekanntheitsgrad der Kirche als solcher, gleichzeitig aber auch eine geringe Wahrnehmung ihres Beitrags zum Gemeinwohl. Die Katholiken orientierten sich im Alltag stark an individuellen Lebensphasen und weniger an der kirchlichen Ordnung. Sie sind eher ereignis- als normenorientiert. Während die Kirche in den abschmelzenden traditionellen Milieus nach wie vor gut positioniert war, spielte sie in der postmodernen Lebenswelt nur eine marginale Rolle. In den an der Sinnfrage interessierten Milieus wurde sie dagegen wahrgenommen und in ihren kulturellen Leistungen geschätzt.


Wie kam es zu der neuen Situation?

In die ersten Jahre des neuen Jahrtausends fielen die schwere Erkrankung und der Tod Johannes Pauls II. (2. April 2005), der durch seine 104 Auslandsreisen, die 1985 von ihm ins Leben gerufenen Weltjugendtreffen, durch zahllose Audienzen sowie andere Begegnungen einen Bekanntheitsgrad erworben hatte wie keiner seiner Vorgänger. Die erstaunte Öffentlichkeit registrierte vor allem die große Zahl Jugendlicher, die keine Mühe scheute, der gütigen und gleichwohl strengen Vaterfigur des Verstorbenen die letzte Ehre zu erweisen. Er hatte durch seine Konsequenz fasziniert und damit die Sehnsucht nach überzeugender Führung deutlich gemacht.

Ebenso große Aufmerksamkeit fand die Wahl von Kardinal Joseph Ratzinger zum Nachfolger am 19. April 2005. Sie schuf eine auch nationale Hochstimmung (Die Boulevardzeitung BILD titelte: "Wir sind Papst."), die in krassem Gegensatz zu der in Deutschland sonst vorherrschenden eher resignativen Stimmung und Verzagtheit stand.


In diese Zeit eines tiefen kirchlichen Wandels fiel im Februar 2008 nach einer schweren Erkrankung der Rücktritt Kardinal Lehmanns vom Vorsitz der Deutschen Bischofskonferenz. Fast 21 Jahre, und damit länger als alle Vorgänger seit 1945, hatte er diese Aufgabe wahrgenommen und sich in beispiellosem Einsatz für Kirche und Gesellschaft sowie als Vermittler aufgerieben. Am 18. Februar wählte die Deutsche Bischofskonferenz Erzbischof Robert Zollitsch von Freiburg zu seinem Nachfolger.


Wie war es zu dieser gegenüber dem Anfang des 20. Jahrhunderts stark veränderten Situation gekommen? Dass die deutschen Katholiken 1914 voll in die Gesellschaft des kleindeutschen Kaiserreiches hineingewachsen waren, hatte sich beim Ausbruch des Weltkrieges gezeigt. Damals wurden sie von der gleichen patriotischen Hochstimmung wie die übrige Bevölkerung ergriffen. Kirche und Katholizismus überstanden 1918 die Revolution und die unmittelbare Nachkriegszeit ohne innere Brüche. Sie trugen zwar nicht die Revolution, wohl aber die Demokratie mehrheitlich mit und wurden zu einer zuverlässigen Stütze der Weimarer Republik. So war der Katholik Wilhelm Marx zweimal Reichskanzler und das Zentrum stellte eine Reihe von Ministern.

In der Zeit der Weimarer Republik erlebte die Kirche einen deutlichen Aufschwung. Die Jugendbewegung band beispielsweise viele Heranwachsende an die Kirche, während die Liturgische Bewegung zunächst auf kleine, freilich einflussreiche Kreise beschränkt blieb. Die von Pius XI. gewünschte und von Nuntius Eugenio Pacelli eingeforderte Katholische Aktion ließ sich dagegen nicht gegen die katholischen Vereine durchsetzen. Ganz besonders zeigte sich die Vitalität im Zustrom zum Priesterberuf, der infolge der Jugendbewegung so groß war, dass nach 1930 mehrere nordwestdeutsche Bistümer sogar einen Numerus clausus für die Annahme von Kandidaten einführten.


Dieser festgefügte Katholizismus erwies sich dem NS-Regime gegenüber als widerstandsstark. Er machte ihm keine weltanschaulichen Konzessionen, musste sich aber angesichts des immer stärkeren Zugriffs auf alle Lebensbereiche und seiner Verdrängung aus der Öffentlichkeit im Laufe der Jahre auf die religiösen Vollzüge im engeren Sinn zurückziehen. Eine kirchliche Kollaboration mit dem Regime gab es nicht. 417 Priester erlitten KZ-Haft, 108 starben dort, weitere 74 wurden hingerichtet oder ermordet.

Nach der bedingungslosen Kapitulation 1945 und dem vorläufigen Ende der deutschen Staatlichkeit waren beide Kirchen zunächst die einzigen Großorganisationen, die die dunkle Zeit intakt überstanden hatten. Die katholische Kirche genoss auf Grund ihrer Distanz zum NS-Regime, ihres Widerstandes und ihres großen Blutzolls hohes Ansehen. Seit der Mitte der sechziger Jahre setzte jedoch eine differenziertere Beurteilung ein. An die Stelle des 1945 verstorbenen greisen Kardinals Adolf Bertram von Breslau trat im gleichen Jahr für fast zwei Jahrzehnte als Vorsitzender der Fuldaer Bischofskonferenzen der Kölner Erzbischof Kardinal Joseph Frings.

Eine Rückkehr zu einer katholischen Partei und damit zum "Politischen Katholizismus" war aus Sicht der Bischöfe nicht angesagt. Stattdessen fanden sich Katholiken und Protestanten in den konfessionsübergreifenden christlichen Parteien CDU und CSU zusammen. Auch gab es keine Priester mehr als Parlamentarier. Mit Hilfe hervorragender Mitarbeiter gelang es Kardinal Frings jedoch, Einfluss auf die Verfassung des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen (1946) und des Grundgesetzes der Bundesrepublik zu nehmen.


Die innerkirchlichen Spannungen sind keineswegs ausgestanden

Eine große Leistung des deutschen Katholizismus bildeten der Wiederaufbau der kriegszerstörten Einrichtungen wie auch die Integration der heimatvertriebenen Katholiken und der dafür notwendige Ausbau der Gemeinden. Dies wurde erleichtert durch die 1950 eingeführte Diözesankirchensteuer. Trotz der großen Kriegsverluste unter den Priesteramtskandidaten stabilisierte sich auch die Zahl der Seelsorger. Die weiblichen Ordensgemeinschaften, denen seit 1940 unter kriegswirtschaftlichem Vorwand die Aufnahme neuer Mitglieder untersagt gewesen war, erholten sich dagegen nie mehr vollständig. Zukunftsweisend war auch die veränderte Organisation des Laienkatholizismus. Hier gewannen an Stelle der Vereine immer mehr die Pfarrausschüsse beziehungsweise später die Pfarrgemeinderäte und auf Bundesebene das Zentralkomitee der deutschen Katholiken, dessen Konzept in Köln entwickelt wurde, an Bedeutung. Insgesamt befand sich der deutsche Katholizismus um 1960 in einer komfortablen Lage. Er beschäftigte sich jedoch nicht nur mit seinen eigenen Problemen, sondern übernahm mit den Hilfswerken Misereor (1958) und Adveniat (1961) auch weltweite Verantwortung.


Einen tiefen Wandel löste das von hohen, teilweise auch überzogenen Erwartungen begleitete Zweite Vatikanische Konzil aus. Neben der ins Auge fallenden Einführung der Muttersprache im Gottesdienst betraf dies zunächst organisatorische Fragen. So entstand aus dem nur losen Zusammenschluss der Fuldaer Bischofskonferenzen die festgefügte Deutsche Bischofskonferenz, und das Zentralkomitee der deutschen Katholiken erhielt eine größere Eigenständigkeit als zuvor.

Im Kontext des Verlustes alter Gewissheiten und der Auflösung der traditionellen Milieus erreichte 1968 die Kulturrevolution auch die Kirche und auf dem Katholikentag dieses Jahres kam es mit Bezug auf die kurz zuvor erschienene Enzyklika "Humanae vitae" zu einem vorher nicht gekannten Widerspruch gegen die Bischöfe. Diese versuchten auf der Gemeinsamen Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland (1971-75) dem Reformverlangen entgegenzukommen, fanden dafür aber in wichtigen Punkten nicht die Zustimmung der römischen Kurie.

Im Verlauf dieses Ringens um eine neue Gestalt der Kirche und christlicher Lebensvollzüge kam es zu Identitätskrisen und in deren Zusammenhang zu aufsehenerregenden Amtsniederlegungen von Priestern in einem Umfang, wie es sie seit dem Zeitalter der Reformation nicht mehr gegeben hatte. Sie erschütterten die damit konfrontierten Gemeinden zutiefst und signalisierten wie ein Seismograph die Krise. Einschneidend waren auch die allmähliche Abkoppelung der öffentlichen Schulen von der Kirche, damit einhergehend der Rückgang des religiösen Grundwissens, die Erosion der katholischen Lebenswelt, der Wandel des Familien- und Frauenbildes und die nachlassende religiöse Praxis. Die Wiedervereinigung Deutschlands traf die Katholische Kirche so überraschend wie die anderen gesellschaftlichen Gruppen, obwohl sie als einzige Großorganisation die deutsche Teilung nicht mitvollzogen und ihre Einheit über den Eisernen Vorhang hinweg gegen starken Druck aufrechterhalten hatte. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts präsentierte sich die Katholische Kirche in Deutschland institutionell als festgefügt und als Vermittlerin zentraler gesellschaftlicher Werte. Die seit der Nachkonzilszeit schwelenden innerkirchlichen Spannungen waren aber keineswegs ausgestanden. Letztlich hatte sich die 1948 auf dem Katholikentag in Mainz von Ivo Zeiger SJ geäußerte Beobachtung bestätigt, Deutschland sei "Missionsland" geworden, in dem die Christen eine - wenngleich die größte - Minderheit darstellten.


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Erwin Gatz (geb. 1933) ist Rektor des "Campo Santo Teutonico" in Rom und Honorarprofessor für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte an der Universität Bonn. Er ist Herausgeber der mehrbändigen "Geschichte des kirchlichen Lebens in den deutschsprachigen Ländern seit dem Ende des 18. Jahrhunderts" und der Reihe "Kirche und Katholizismus seit 1945". Jüngste Veröffentlichung: "Die katholische Kirche in Deutschland im 20. Jahrhundert", Freiburg 2009.


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
63. Jahrgang, Heft 5, Mai 2009, S. 255-259
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Juni 2009