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KIRCHE/793: "Frieden kann nicht errüstet werden" (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion 8/2009

"Frieden kann nicht errüstet werden"
Die Option für Gewaltfreiheit zwanzig Jahre nach der Ökumenischen Versammlung in Dresden

Von Thomas Hoppe


Die vorrangige Option für Gewaltfreiheit stand im Zentrum der Theologischen Grundlegung der Ökumenischen Versammlung in der DDR, die in den Jahren 1988/89 in Magdeburg und Dresden stattfand. Die dort formulierte Einsicht, dass die überkommene "Lehre vom gerechten Krieg" zu einer "Lehre vom gerechten Frieden" zu entwickeln sei, hat die Friedensethik beider großer Kirchen nachhaltig geprägt.


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Die Ökumenische Versammlung rückte in ihrer Theologischen Grundlegung die "vorrangige Option für die Gewaltfreiheit" ins Zentrum, und dies zu Recht. In Nr. 37 dieses Dokuments hob sie hervor, dass sich in dieser Option nicht nur eine Orientierung am "gewaltfreie[n] Weg des Friedens Christi" manifestiere, sondern sie sich ebenso aus der "schon erkennbare[n] politische[n] Vernünftigkeit gewaltfreier Konfliktregulierung" ergebe. Ohne dass es klar vorhersehbar gewesen wäre, zeigte sich noch im Herbst 1989, wie hellsichtig diese Worte formuliert waren.

Dass es im damaligen europäischen Epochenumbruch nicht zur Anwendung von Gewalt kam, ist der Umsicht und Mäßigung der maßgeblichen Akteure zu verdanken. Sie war zugleich mit einer erheblichen Risikobereitschaft verbunden, eben weil der Fortgang der Ereignisse alles andere als gewiss erschien. Es handelte sich jedoch - im Unterschied zur landläufigen politischen Erfahrung - nicht um die Inkaufnahme von Risiken, die mit Gewaltanwendung verbunden sind, sondern gerade um die möglichen negativen Konsequenzen eines Verzichts auf sie. In einer historisch wohl beispiellosen Umbruchsituation konnten sich Besonnenheit und Zurückhaltung gegen die Versuchungen einer politischen Eskalation der Krise behaupten.


Die Texte der Ökumenischen Versammlung geben zudem auf beredte Weise Kunde von den militärisch-politischen Rahmenbedingungen der seinerzeit zwischen Ost und West bestehenden Situation. Als grundlegendes Prinzip der Kriegsverhütung galt die wechselseitige Abschreckung durch eine Vorstellung der Folgen, die ein mit modernen Massenvernichtungsmitteln geführter Krieg, zumal im dicht besiedelten West- und Mitteleuropa, bewirkt hätte. Mit zunehmender Deutlichkeit wiesen diejenigen, die sich ab Beginn der achtziger Jahre vor allem in den Friedensbewegungen westlicher Länder, aber unter ungleich schwierigeren Bedingungen auch in der "staatlich unabhängigen Friedensbewegung" in der DDR mit den beobachtbaren Prozessen fortgesetzter Rüstungsdynamik auseinandersetzten, auf die damit einher gehenden Gefährdungen hin.

Daraus erwuchs die in der Ökumenischen Versammlung formulierte Forderung, "von einem System der Abschreckung zu einem System der politischen Friedenssicherung" überzugehen (vgl. Beschlusstext 4). Die Konturen dieses in einer weltumspannenden gemeinsamen Anstrengung zu schaffenden Systems wurden wie folgt umschrieben: "Verzicht auf den Einsatz militärischer Gewalt als Mittel der Konfliktlösung, Abbau der immer unkontrollierbarer werdenden und nicht länger zu verantwortenden Waffenarsenale und zugleich Entwicklung stabiler politischer Instrumentarien des Interessenausgleichs, der Vertrauensbildung und Stärkung des Bewusstseins der gemeinsamen Verantwortung" (Nr. 1).


Deutlich wird in diesem Beschlusstext, dass die Forderung nach einer Abkehr vom Abschreckungssystem sich "für die Zeit des Übergangs bis zu einem umfassenden System politischer Friedenssicherung" (Theologische Grundlegung, Nr. 37) vor allem auf die Drohung mit Massenvernichtungsmitteln bezieht. Sie gilt nicht in derselben Weise für das Prinzip, "legitime Sicherheitsinteressen von Völkern und Staaten" (Beschlusstext 4, Nr. 2), die der Text durchaus anerkennt, überhaupt durch militärische Vorkehrungen zur Kriegsverhütung zu sichern.

Doch formuliert der Text als einen der "unverzichtbare[n] Bestandteile" (Nr. 5) eines "Systems gemeinsamer Sicherheit" eine weitreichende "Reduzierung und Umstrukturierung der (...) Militärpotenziale (...), so dass eine strukturelle Angriffsunfähigkeit (...) hergestellt ist (Nr. 6). Er nimmt damit eine Position auf, die damals von namhaften Fachleuten im westlichen Teil Deutschlands ebenfalls vertreten wurde: Das Grundprinzip der Kriegsverhütung sollte künftig nicht mehr in der Furcht vor den unerträglichen Folgen eines jederzeit real möglichen Krieges liegen, sondern in einer Strukturreform der militärischen Apparate. Diese sollten zwar hochwirksam zur Verteidigung, weitgehend unbrauchbar hingegen zu Angriffsoperationen werden.


Diesen unmittelbar praktisch-politischen Überlegungen korrespondierte in der "Theologischen Grundlegung" die Einsicht, statt einer Bezugnahme auf die überkommene "Lehre vom gerechten Krieg" gelte es eine "Lehre vom gerechten Frieden" zu entwickeln, "die zugleich theologisch begründet und dialogoffen auf allgemein menschliche Werte bezogen ist" (Nr. 36). Eine solche Lehre "im Dialog mit Andersglaubenden und Nichtglaubenden zu erarbeiten", sei "eine langfristige ökumenische Aufgabe der Kirchen" (Nr. 36).

Kaum eine andere Forderung der Ökumenischen Versammlung hat eine so deutlich nachweisbare Wirkung in der Rezeptionsgeschichte der Friedensethik beider großer Kirchen gezeigt wie diese. Die katholischen deutschen Bischöfe überschrieben ihr Friedenswort vom September 2000 mit dem Titel "Gerechter Friede" und nahmen explizit Bezug auf den eben zitierten Passus (vgl. HK, November 2000, 548ff.). Auch die Denkschrift der EKD vom Herbst 2007 trägt den programmatischen Titel "Aus Gottes Frieden leben - für gerechten Frieden sorgen" (vgl. HK, Januar 2008, 20ff.).

In der katholischen Kirche hatte die Auseinandersetzung mit dem notwendig gewordenen Perspektivenwechsel hin zur Leitfrage nach einem "gerechten Frieden" bereits unmittelbar zu Beginn der neunziger Jahre eingesetzt, und zumal innerhalb der Kommission Justitia et Pax große Aufmerksamkeit gefunden. Denn rasch wurde deutlich, dass es nicht nur um die Auswechslung von Begriffen ging, sondern um einen veränderten konzeptionellen Ansatz. In dieser Perspektive vermochten zugleich Menschen aus dem Osten wie dem Westen Deutschlands ein breites Feld der inhaltlichen Übereinstimmung zu entdecken. Die Vergewisserung über das Fundament friedensethischer Argumentation erwies sich damit über seinen unmittelbaren Gegenstand hinaus als ein Gesprächszusammenhang, in dem Prozesse des allmählichen Zusammenwachsens, die auch innerhalb der Kirchen in diesen ersten Jahren nach der deutschen Vereinigung durchaus nicht frei waren von manchen Missverständnissen und Spannungen, einen genuinen Rahmen fanden und beiderseits authentisch gelebt und gestaltet werden konnten.


Der qualifizierte Versöhnungsbegriff der Europäischen Ökumenischen Versammlung in Graz

Dazu trug ganz wesentlich bei, dass die Frage danach, wie der Umgang mit der Last der Vergangenheit Bedeutung gewinnen muss für das Bemühen um eine bessere Zukunft, von einer bisher eher randständigen zu einer zentralen friedensethischen Überlegung wurde. Fragen dieser Art stellten sich nach 1990 in unterschiedlichen Kontexten, nicht nur innerhalb Europas, sondern auch etwa in Südafrika, nachdem das dort herrschende rassistische Apartheidssystem überwunden werden konnte. Für Deutschland und die Deutschen hatten solche Rückfragen freilich einen besonderen Stellenwert und eine dementsprechende Dringlichkeit. Dies zeigte sich keineswegs allein an der Auseinandersetzung um die deutsch-deutsche Geschichte nach 1945, sondern auch an manch Unabgegoltenem, an oftmals nicht oder zu wenig thematisierten Stücken der Erinnerung, die der Zeit seit 1933 entstammten und nun nach einem angemessenen Platz im Raum eines kollektiven Gedächtnisses verlangten. Früh galt es der mancherorts von politischer Seite vorgetragenen These entgegenzutreten, das vereinigte Deutschland solle sich nunmehr verhalten und artikulieren wie eine "normale" europäische Mittelmacht, die Last dessen, wofür es Verantwortung zu übernehmen galt, hinter sich lassend, noch bevor deren adäquate Thematisierung überhaupt begonnen hatte.

Demgegenüber entschieden sich die Kirchen, den Fragen von Verständigung und Aussöhnung, vor allem im Blick auf europäische Kontexte und Erfahrungen, verstärkt Aufmerksamkeit zu widmen. Sie stellten die Zweite Europäische Ökumenische Versammlung in Graz im Jahr 1997 bewusst in diesen Problemhorizont (vgl. HK, August 1997, 395ff.). Dort wurde nicht zuletzt ein qualifizierter Versöhnungsbegriff ausgearbeitet, der die Frage nach der historischen Wahrheit nicht ausklammert, nicht bereit ist, im Modus der Legendenbildung "aus schlechten Zeiten Gutes zu erinnern" (Joachim Gauck) - aber zugleich den unterschiedlichen Situationen und moralischen Konflikten Rechnung zu tragen sucht, in die Menschen unter der Erfahrung von Systemunrecht gerieten, anstatt vorschnell und pauschal über sie den Stab zu brechen.


Ein oberflächliche Rhetorik meidendes, ernsthaftes Bemühen um authentisches Erinnern und Versöhnen bleibt besonders dort geboten, wo eine wesentliche Ursache für Verfeindungen, die in gewaltförmige Konflikte eskalieren können, in Defiziten auf diesem Gebiet liegt. Die leidvolle Geschichte des Zerfallsprozesses im ehemaligen Jugoslawien ist wie manch andere Konfliktdynamiken, die in Bürgerkriegen und Kriegen endeten, auch aus solchen Zusammenhängen zu erklären. Deswegen sehen das katholische Friedenswort wie die evangelische Denkschrift zum selben Thema die entscheidende Aufgabenbestimmung in der Gewaltprävention, in die sich die vorrangige Option für Gewaltfreiheit übersetzt, wenn man sie in einer stärker säkular geprägten Sprache formuliert.

Es gilt, mit politischen Mitteln zu verhindern, in Situationen zu geraten, in denen nichts als der Griff zu Gewalt mehr zu bleiben scheint, will man nicht höchstrangige Güter preisgeben. Der herkömmlichen Rede von Gewalt als "ultima ratio" kommt dadurch eine veränderte Bedeutung zu: Sie wirkt nicht primär als legitimatorisches Kriterium für Gewaltanwendung, sondern verweist auf die ethische Verpflichtung, im Umgang mit Konflikten nach Möglichkeit überhaupt nicht - jedenfalls bevor nicht alle gewaltfreien Mittel ausgeschöpft sind - auf Gewalt zurückzugreifen. In dieser Forderung und ihren praktischen Konsequenzen können Pazifisten und Nichtpazifisten auf weite Strecken miteinander übereinstimmen, und dieser Konsens kann der genannten friedensethischen Grundforderung jene politische Kraft verleihen, die anderenfalls nur allzu oft durch einen Prinzipienstreit absorbiert zu werden droht.


Gerade von der Forderung nach Gewaltprävention her lässt sich zeigen, warum im Konzept des "gerechten Friedens" den Menschenrechten eine zentrale Bedeutung zukommt. Die Forderungen nach Menschenrechten erwuchsen und erwachsen bis heute auf dem Hintergrund konkreter Leid- und Unrechtserfahrungen. Sie bilden eine zunächst ethische, später auch rechtliche Figur, persönliche Freiräume und soziale Mindeststandards einzuklagen und zu wahren, die solchen Negativerfahrungen vorbeugen sollen. Man könnte auch formulieren: Menschenrechtsstandards suchen eine institutionelle, auf moralische Kategorien und ein rechtliches Instrumentarium zurückgreifende Lösung für das menschheitsalte Problem zu bieten, wie man die allgegenwärtige Gewalt von Menschen gegen Menschen mindern, womöglich überwinden kann. Wo die Rechte der menschlichen Person verlässlich geschützt sind und ihre Gewährleistung nicht vom politischen Gutdünken autoritärer Machthaber abhängig gemacht wird, fallen viele Anreize zu Gewaltanwendung fort. Denn Menschenrechte formulieren die Minimalbedingungen dafür, dass menschliches Leben in Würde gelingen kann. Sie wollen sicherstellen, dass Menschen nicht in Abhängigkeiten aller Art geraten oder in ihnen verbleiben, die sie zu Wehrlosen machen, welche der Willkür anderer ausgeliefert sind.

So betrachtet ist das Eintreten für Menschenrechte schon in sich eine Methode der Gewaltprävention: Sie hindert die Gewalt, die derjenige erfährt, dessen elementare Rechte verletzt werden. Und diese Einsicht gilt universal, sie macht vor politischen, kulturellen oder geographischen Grenzen nicht Halt. Die Relativierung der Menschenrechte unter Hinweis auf kulturelle Differenzen erweist sich schnell als unhaltbar, wenn man die Opfer von Menschenrechtsverletzungen zu Wort kommen lässt; sie bezeugen, dass solche Handlungen gleichbedeutend sind mit tiefer Demütigung, und dass die dadurch zugefügten seelischen Wunden schwerer heilen als die meisten körperlichen Schädigungen.


Über die Menschenrechte lässt sich eine Brücke zu den Fragen internationaler Gerechtigkeit und Entwicklung ebenso schlagen wie zu den komplexen Fragen der Friedenssicherung im internationalen System. Das Entscheidungsverhalten der Nationalstaaten in internationalen Strukturen, die der Gewaltprävention oder der Eindämmung von Gewalt dienen, darf sich deswegen nicht länger nur pragmatisch, sondern muss sich prinzipiell an der Verwirklichung der Menschenrechte ausrichten. Unter solchen Bedingungen ließe sich auch die Glaubwürdigkeit und damit das politische Gewicht legitimierter Institutionen der internationalen Staatengemeinschaft wesentlich erhöhen, wenn es gilt, auf ein konkretes Konfliktgeschehen einzuwirken. Es würde möglich, gerade die nichtmilitärischen Instrumente und Mechanismen nicht nur der Frühwarnung, sondern vor allem eines zeitgerechten Krisenmanagements aufzuwerten und mit wesentlich stärkerer Effizienz zur Geltung zu bringen.

Diese Perspektive ist mit der geläufigen Redeweise, auch das außenpolitische Handeln eines Staates müsse primär von Gesichtspunkten nationaler Interessenwahrung her definiert werden, jedenfalls dann unvereinbar, wenn nationale Interessen in Gegensatz zu jenem übergreifenden Gesamtinteresse der Menschheit gesetzt werden, das sich mit dem Begriff des "Weltgemeinwohls" bezeichnen lässt. Nicht das herkömmliche Streben nach Machtentfaltung und -erweiterung innerhalb einer internationalen Mächtekonkurrenz, sondern das Programm "All human rights for all" bildet dabei den leitenden Gesichtspunkt. Für ihn gehört zur Gewaltprävention die Konfliktnachsorge wesentlich hinzu, denn die Ziele des Menschenrechtsschutzes, der Etablierung rechtsstaatlicher Strukturen, der Eröffnung sozialer und politischer Teilhabemöglichkeiten für alle Bevölkerungsgruppen sind integraler Bestandteil jeden Konzepts nachhaltiger Friedenssicherung. Erst die Arbeit an diesen Aufgaben lässt Konturen des internationalen Systems entstehen, in denen ein "gerechter Friede" für alle möglich wird und Strukturen wachsen können, die zu mehr und anderem dienen als zur Vorbereitung des nächsten Krieges.


Droht eine Rückkehr vieler Staaten zur militärisch gestützten Außenpolitik?

Hauptsächlich von zwei Problemstellungen her lassen sich Anfragen formulieren, ob die Hoffnung darauf, in der Leitperspektive des gerechten Friedens den "Sumpf der Gewalt" allmählich austrocknen zu können, überhaupt realistisch sei. Die eine verweist auf die wachsende Gefahr einer weiteren Verbreitung (Proliferation) von Massenvernichtungsmitteln in Verbindung mit internationalem Terrorismus; die andere macht geltend, gerade die politischen Ereignisse in vielen Teilen der Welt hätten seit dem Ende des Kalten Krieges die Frage humanitär begründeter Interventionen wiederholt und mit großer Dringlichkeit aufgeworfen. Es droht, so die Befürchtung, infolge dieser Entwicklungen eine Rückkehr vieler Staaten zur klassischen, militärisch gestützten Außenpolitik, deren Problematik das Konzept "gerechter Friede" gerade aufweisen wollte.

Auf welche Weise lässt sich solchen Entwicklungen gegensteuern? Zunächst ist festzustellen, dass der weltweite Trend zur Weiterverbreitung von Kernwaffen durchaus mit guten Gründen als besonders gefährlich empfunden wird. Er resultiert nicht nur aus dem kaum verhohlenen Streben mancher Staaten, durch atomare Bewaffnung eine Vormachtstellung in ihrer Region zu erringen, ja andere Staaten in ihrer Existenz bedrohen zu können. Gefahren ergeben sich auch aus einer unzureichenden Kontrolle über die großen Bestände an bereits vorhandenen Waffen und an Materialien, die zu ihrer Herstellung verwendet werden können. Konkrete Schritte zur Eindämmung dieser Risiken müssten daher auf ein möglichst umfassendes Überwachungssystem für solche Waffen, ihr Komponentenmaterial und ihre Technologie gerichtet sein.

Der Proliferation lässt sich jedoch nicht nur technisch, sondern vor allem politisch entgegenwirken, indem regionale Sicherheitsstrukturen geschaffen werden, die Rüstungswettläufe mit solchen Waffen entwerten. Dies ist im Kern dasselbe Argument, das die Dresdner Ökumenische Versammlung in ihrem Plädoyer für ein "System politischer Friedenssicherung" geltend machte: Bestimmte Rüstungspotenziale werden dann unattraktiv und damit abrüstungsfähig, wenn sie zwar teuer, technisch ambitiös und risikoträchtig sind, ihnen aber keine Vorteilserwartung mehr gegenübersteht, die diese Nachteile aufzuwiegen vermag. Wenn ein Einzelstaat, der nach Atomwaffen strebt, vor der Alternative steht, in einem regionalen Sicherheitssystem seine legitimen Sicherheitsinteressen genauso gut oder besser zu wahren, kann er bereits aufgrund zweckrationaler Überlegungen auf den Einstieg in eine möglicherweise ruinöse Rüstungskonkurrenz verzichten.


Diesem Grundgedanken gilt es nicht nur im Hinblick auf Rüstungsdynamiken im Nuklearbereich, sondern auch auf anderen Feldern der internationalen Rüstungskontroll- und Abrüstungspolitik zu folgen. Gerade im Blick auf Mittel- und Osteuropa, wo das künftige Verhältnis der Nato zu Russland noch immer nicht befriedigend geklärt ist, kommt der vereinbarten Kontrolle der konventionellen Rüstungspotenziale auch künftig große Bedeutung zu. Schließlich gilt es zu verhindern, dass Besorgnisse hinsichtlich der Beständigkeit bisheriger Kräfterelationen zur weiteren Verschärfung politischer Krisensituationen beitragen. Aus demselben Grund bedarf es der Fortentwicklung von Sicherheitsstrukturen, die den gesamten europäischen Bereich und die angrenzenden Regionen - etwa den Kaukasus - mit erfassen, um destabilisierenden Entwicklungen frühzeitig und gemeinsam entgegenwirken und so zur nachhaltigen Vertrauensbildung in Europa beitragen zu können.

Ebenso dringlich stellen sich auf absehbare Zeit jene Fragen, die unter dem Stichwort "humanitär begründete Interventionen" erörtert werden. Viele erinnern sich an die Eroberung der Enklave von Srebrenica in Bosnien im Juli 1995, in deren Folge an die achttausend männliche muslimische Bewohner dieser Stadt ermordet wurden. Eine noch weit größere Zahl von Opfern forderte der Genozid an Tutsi und gemäßigten Hutu in Ruanda, in dessen Verlauf bereits im Frühjahr 1994 binnen weniger Wochen an die eine Million Menschen ermordet wurden. Gerade in solchen Situationen tritt der grundlegende ethische Zielkonflikt bei der Anwendung von Gewalt in kaum überbietbarer Eindringlichkeit und Dramatik zu Tage: Gewalt wenn irgend möglich vermeiden zu wollen, aber zugleich an Leib und Leben bedrohte Menschen wirksam vor systematischen, schweren Menschenrechtsverletzungen schützen zu müssen.


Wo Interventionen aus humanitären Gründen unvermeidlich werden, muss ihre Durchführung von Anfang an unter dem Imperativ des Schutzes der Zivilbevölkerung stehen. Klarheit und angemessener Umfang des Mandats internationaler Streitkräfte, eine hinreichende personelle und materielle Ausstattung sowie adäquate Einsatzgrundsätze sind nicht nur entscheidend für den Erfolg einer Intervention - sie sind zugleich eine unerlässliche Voraussetzung dafür, hierbei das Ziel einer wirksamen Schadensbegrenzung gerade für die Zivilbevölkerung so weit wie möglich verwirklichen zu können. Insbesondere die Mitglieder des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen müssen für eine ausreichende Finanzierung und realisierbare Mandate Sorge tragen.

Sollen Interventionen dem Anliegen des globalen Menschenrechtsschutzes auf längere Sicht dienen, so gilt es zu vermeiden, dass in der Weise ihres Zustandekommens die Grundlagen des Völkerrechts ausgehöhlt werden. Auch in Fällen schwerwiegender Menschenrechtsverletzungen liegt die primäre Zuständigkeit für eine Interventionsentscheidung beim UN-Sicherheitsrat. Zugleich bedarf es einer Weiterentwicklung des internationalen Rechts mit dem Ziel sicherzustellen, dass Entscheidungen zu bewaffnetem Eingreifen aufgrund konsensfähiger materieller Rechtsstandards und möglichst frei von anders gelagerten politischen Opportunitätskalkülen getroffen werden. Die entsprechenden Verfahrensregelungen in internationalen Gremien sind daraufhin zu reformieren, dass sie das Zustandekommen sachgerechter Beschlüsse fördern.

Die für den Einsatz im Rahmen von Interventionen vorgesehenen Personen müssen für die ethischen Konsequenzen vieler der ihnen unter Umständen abverlangten Einzelentscheidungen sensibilisiert werden, darunter ausdrücklich auch für die ethischen wie rechtlichen Grenzen von Befehl und Gehorsam. Gegen eine Durchbrechung dieser Grenzen präventiv wirksam werden kann nur eine systematisch durchgeführte Bewusstseinsbildung, beispielsweise durch entsprechende Ausbildungsprogramme während der Einsatzvorbereitung. Die Herausbildung von Aufmerksamkeit dafür, wie leicht man in den Sog der Eigendynamiken der Gewalt geraten kann, und die Etablierung wirksamer Kontrollmechanismen in der Einsatzdurchführung können so weit wie möglich verhindern helfen, dass Angehörige von Interventionstruppen selbst schwere Verletzungen der Menschenrechte und der Normen des humanitären Völkerrechts begehen.

Bereits zu Beginn einer Intervention bedarf es überdies der Bereitschaft der Staatengemeinschaft, sich auf eine längere Verantwortungsübernahme für die Entwicklung in einem Interventionsgebiet einzurichten, um die dort regelmäßig notwendigen strukturellen Wandlungsprozesse zu unterstützen. Ein Mangel an Bereitschaft, sich diesen Aufgaben zu stellen und sie zu Ende zu führen, kann die politische wie ethische Legitimität humanitär begründeter Interventionen ins Zwielicht setzen, ja unglaubwürdig werden lassen.

In einer weltweiten Friedensordnung, in der der Schutz der Menschenrechte mit politischen Mitteln höhere Bedeutung gewinnt als jedes Partikularinteresse eines Nationalstaats, könnte auch der Rückgriff auf militärische Interventionen aus humanitären Gründen obsolet werden. Auf den skizzierten Wegen ließe sich schließlich jene zentrale Forderung der Ökumenischen Versammlungen in Ost wie in West einlösen, es gelte, "die Institution des Krieges zu überwinden". Freilich ist die Errichtung einer solchen Ordnung nicht allein durch die Veränderung politischer Systemstrukturen zu erwarten. Es braucht Menschen, die sich in den oft sehr unterschiedlichen Bereichen, in denen sie persönliche Verantwortung tragen, von dieser Perspektive leiten lassen, ungeachtet der Erfahrungen von Rückschlägen und Enttäuschungen, die jedes ernsthafte Engagement wohl stets begleiten.

Die Ökumenische Versammlung in der DDR war nicht nur eine wichtige Etappe der kirchenübergreifenden Konsensfindung in wesentlichen sozialen und politischen Gegenwartsfragen; sie war auch ein Quell der Ermutigung, unter oft hohem persönlichem Risiko den Einsatz für die gemeinsam gefundenen Zielsetzungen zu wagen. Wir im Westen haben damals intensiv nach Dresden und Magdeburg geschaut - fasziniert und zugleich besorgt, ob das dort Begonnene eine Chance erhalten würde, zur Wirksamkeit zu gelangen. Die Erinnerung an die Freude über vieles, was im Herbst 1989 möglich wurde, ist deswegen etwas, was Menschen im Osten wie im Westen verband und verbindet - und sie ist Grund genug, auch heute auf diesen Wegen mutig gemeinsam weiterzugehen!


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Thomas Hoppe (geb. 1956) ist seit 1998 Professor für Katholische Sozialethik an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg. Er ist Mitglied der Deutschen Kommission Justitia et Pax, der Wissenschaftlichen Arbeitsgruppe für weltkirchliche Aufgaben und der Arbeitsgruppe Europa der Deutschen Bischofskonferenz.


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
63. Jahrgang, Heft 8, August 2009, S. 419-423
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. September 2009